Issue: Sonderausgabe 2018/2018
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.01.2018, S. 41
„Manchmal“, so dozierte die „Volkszeitung“, das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Chinas, vergangene Woche in einer sehr grundsätzlich daherkommenden Erklärung, „muss man tausend Jahre auf eine solche Gelegenheit warten.“ Die Partei feiert 2021 gerade mal ihren hundertsten Geburtstag, hier aber scheint sie sich die Zeitmaße von etwas viel, viel Älterem zu eigen zu machen. Es geht in dem Text darum, dass eben jetzt ein „historischer Moment“ gekommen sei, wie es ihn in den fünftausend Jahren der chinesischen Geschichte selten gegeben habe. In diesem Moment kulminiere nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, sondern auch seine Wissenschaft, Technologie und Kultur; der Respekt vor seiner Weisheit nehme weltweit zu, eine neue internationale Ordnung werde sichtbar. Deshalb gelte es jetzt, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und das von Staatschef Xi Jinping ausgerufene „Große Wiederaufblühen der chinesischen Nation“ unverzüglich zu realisieren: „Das ist unsere Aufgabe, so dass der chinesische Traum und der Traum der ganzen Welt miteinander verschmelzen.“
Warum gerade jetzt so viel Tamtam? Steht ein Angriff auf Taiwan bevor, dessen Eingliederung die Volksrepublik seit jeher als Teil ihrer historisch abgeleiteten Staatsräson bezeichnet? Seit ein paar Wochen nimmt die Zahl chinesischer Militärübungen rings um die Insel zu. Oder geht es nur um den innenpolitischen Appell am Ende des Manifests, sich geschlossen um den großen Führer Xi zu scharen? So oder so ist die Rolle, die „die Geschichte“ in dieser geopolitischen Ansage spielt, ebenso auffallend wie erklärungsbedürftig – die bisherigen „fünftausend Jahre“ nicht weniger als die Zukunft, in der eine nicht näher benannte Vergangenheit „wieder“ erreicht werden soll. Während sich die chinesischen Abgesandten auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos behende in der bisherigen, vom Westen installierten Weltordnung bewegen, beruft sich die Regierung nach innen hin auf ein ganz anderes Koordinatensystem und kündigt sogar an, dass darin künftig auch der Rest der Welt seinen Platz finden soll.
Es stellt sich also die Frage: Wo genau befindet sich der Platz in der Welt, den das Land als ihm von seiner Vergangenheit zugedacht erachtet? Worauf steuert die Weltmacht zu? Worauf läuft die von China seit Jahren in allen außenpolitischen Dokumenten untergebrachte Formel „Gemeinschaft einer geteilten Zukunft“ hinaus? Im Westen nennt man das, was einen an Chinas Ambitionen beunruhigt, meist „Nationalismus“. Das ist zweifellos nicht verkehrt, aber wohl allenfalls die halbe Wahrheit. Für die Zeit, auf die sich das eigene Koordinatensystem des Landes bezieht, ergibt dieser Begriff noch gar keinen Sinn; die europäische Kategorie des Nationalstaats begannen Chinas Staatsdenker erst zum Ende der Kaiserzeit im späten neunzehnten Jahrhundert für sich zu entdecken.
Was also meint China dann überhaupt mit diesem „China“, an dessen Blüte es wieder anschließen will? Historiker und Sinologen, in Deutschland zuletzt Kai Vogelsang in seiner großartigen „Geschichte Chinas“, haben immer wieder gezeigt, dass von einer Kontinuität und Einheit des Landes über die Jahrtausende hinweg entgegen aller anderslautenden Propaganda keine Rede sein kann. Die politische Geschichte der Gebiete, die heute zur Volksrepublik gehören, ist so kontingent, ausgefranst, zerstückelt, sich immer wieder neu bestimmend und definierend wie überall. Was es jedoch gibt, ist die verblüffend bruchlose Kontinuität der Mythen, Chroniken und Romane, die sich mit China beschäftigen. Wenn in China von der Tradition der „Geschichte“ die Rede ist, dann ist vor allem diese kodifizierte Überlieferung gemeint.
Ihre Pointe ist, dass sie die reale Zersplitterung und Diskontinuität des Landes zugleich anerkennt und aufhebt. Das zugrundeliegende Konzept trägt den Namen „Tianxia“, übersetzt „Alles unter dem Himmel“. Wie der mit seinen 87 Jahren immer noch an der National University of Singapore lehrende Historiker Wang Gungwu dargelegt hat, war „Tianxia“ bei seiner Entstehung im zweiten Jahrtausend vor Christus ursprünglich eine kosmologische Idee; sie bezeichnete das Ganze einer Welt und einer Menschheit, die sich aufgrund ihrer Zivilisiertheit dieses Kosmos bewusst ist. Mit der Zeit, vor allem seit der staatlichen Einigung durch die Qin-Kaiser im dritten Jahrhundert vor Christus, wurde daraus dann auch die Bezeichnung für die staatliche Hülle dieser Ordnung. Die Spannung zwischen partikular staatlicher und entgrenzt universalistischer Perspektive blieb bis heute. Immer wieder mussten aufgrund diverser Ausländer, die zwischenzeitlich über China herrschten (Mongolen in der Yuan-Dynastie, Mandschuren in der Qing-Dynastie), Völker, die zuvor als „Barbaren“ außerhalb der zivilisierten Welt galten, zu Chinesen umdefiniert werden.
Einer der bekanntesten chinesischen Romane, „Die drei Reiche“ – vergangenes Jahr zum ersten Mal vollständig auf Deutsch erschienen –, handelt von den Wirren am Ende der Han-Dynastie im dritten und vierten Jahrhundert, letztlich aber von nichts anderem als davon, wie diskontinuierlich und gewaltsam „Tianxia“ in der Realität Gestalt annimmt. Schon der erste Satz greift das Stichwort auf, auch wenn das aus der deutschen Fassung nicht auf den ersten Blick ersichtlich wird: „Die Geschichte lehrt, dass die Macht über die Welt, wenn sie lange geteilt war, geeint werden muss, und wenn sie lange geeint war, geteilt werden muss.“ Wo im Original von „Tianxia“ die Rede ist, übersetzt Eva Schestag „Macht über die Welt“, was genauso gut möglich ist wie „Imperium“ oder „Reich“, wie es die meisten Übersetzer bevorzugen. All die Schlachten, Intrigen, Verbrechen und Heldentaten, die auf den folgenden 1700 Seiten geschildert werden, stehen unter dieser Doppeldeutigkeit: dass unentschieden bleibt, ob es da bloß um ein umgrenztes Land geht oder um die ganze Welt.
Was folgt aus dieser inneren Spannung des Begriffs für die Gegenwart? In dem vergangenes Jahr erschienenen Buch „Everything under the Heavens: How the Past Helps Shape China’s Push for Global Power“ interpretiert der ehemalige „New York Times“-Mitarbeiter Howard W. French die fortdauernde Aktualität des „Tianxia“-Musters vor allem als Versuch Chinas, in seiner Umgebung das alte Tributsystem wiederherzustellen. Detailliert zeigt der Autor auf, wo die Propaganda Ereignisse verzerrt, um mit irrigen historischen Belegen den Anspruch auf den pazifischen Raum zu untermauern. Zum Beispiel entlarvt er den vermeintlich pazifistischen Charakter der Erkundungen des Seefahrers Zheng He, der gern zur Begründung des grundsätzlich wohlwollenden Charakters der chinesischen Herrschaft herangezogen wird; in Wirklichkeit zielte Zhengs Mission durchaus auf die Ausweitung des chinesischen Machtbereichs.
Es geht French also eher darum, wie die Geschichte instrumentalisiert wird, um bestimmte Ziele zu erreichen, als darum, wie sie die Findung von Zielen überhaupt beeinflusst. Dieser letztere Punkt ist heute jedoch von besonderem Interesse, wenn die Frage im Raum steht, ob die Interessen des mächtiger werdenden Landes einmal direkt mit denen der Vereinigten Staaten kollidieren werden und damit die Gefahr eines Krieges heraufbeschwören. „Avoiding War with China“ und sogar „Destined for War“ lauten die Titel von zwei kürzlich erschienenen Büchern amerikanischer Politikberater.
Einer der Faktoren, die die chinesische Einbeziehung der Geschichte ins politische Kalkül für die westliche Analyse so unzugänglich erscheinen lassen, ist die ganz ahistorische Präsenz, die Vorgängen aus den unterschiedlichsten Epochen zuerkannt wird. Zum Vergleich müsste man sich vorstellen, Chroniken aus der Stauferzeit zu lesen, die von Streitigkeiten im Zuge der Völkerwanderung im spätrömischen Reich erzählten, während denen laufend auf Ereignisse im Zuge des Auszugs Israels aus Ägypten 1500 vor Christus Bezug genommen würde. Man würde die Lektüre wohl etwas mühsam empfinden, würde sie aber dennoch nicht scheuen, wenn man denn ein spezielles historisches Interesse an den Staufern, an der Völkerwanderung, an der frühen Geschichte Israels hat. Kaum aber käme man auf die Idee, all diese Berichte als gültige Lektionen über den gegenwärtigen eigenen Staat zu lesen. Genau dies aber ist bei der historiographischen Literatur in China der Fall, deren Hauptthema von Anfang an die durch zahlreiche Quer- und Rückverweise beglaubigte Anbindung an eine unvordenklich exemplarische Vergangenheit ist. Immer geht es um das gleiche „Tianxia“ – China –, in dem man selber gerade lebt; dadurch steckt in jedem einzelnen Ereignis die gleiche Gegenwärtigkeit.
So konnte überhaupt ein Roman aus dem vierzehnten Jahrhundert wie die „Drei Reiche“, der Vorgänge aus dem ausgehenden dritten Jahrhundert schildert, so populär werden, dass bis heute jedes Kind seine Anekdoten und Charaktere kennt – und das, obwohl auch innerhalb des Romans sich die Zeitebenen durchdringen und laufend von irgendwelchen warnenden oder vorbildlichen Beispielen ein- oder zweitausend Jahre früher die Rede ist. Der jetzige Parteichef Xi Jinping soll das Buch, als er während der Kulturrevolution aufs Land verschickt worden war, seinen Genossen nacherzählt haben, und als Staatsmann empfiehlt er, wie vor ihm schon Mao und Deng, dringend seine Lektüre: Seine Figuren verkörperten die wichtigsten Werte des chinesischen Volks wie Loyalität, Demut und Entschlossenheit.
„Von welchem anderen Land in der Welt“, schreibt der Historiker Wang Gungwu, „kann gesagt werden, dass Schriften über seine auswärtigen Beziehungen von vor zweitausend Jahren oder auch nur tausend Jahren heute derart bezwingend lebendig wirken?“ Die Evidenz dieser Gegenwärtigkeit wirkt schon durch die Schriftzeichen, in die viele zu Sprichwörtern geronnene Ereignisse der überlieferten Geschichte eingegangen sind. Allein die ideographischen Symbole, bemerkte der Philosoph Tu Wei-ming, verschafften zum Beispiel den Texten von Sima Qian, dem Historiographen der Han-Dynastie, „eine Empfindung von Realität, als ob ihre Gegenwärtigkeit für immer in den Text eingeschrieben wäre“.
Ein plastisches Beispiel dafür führte der Historiker Paul A. Cohen in seinem Buch „Speaking to History: The Story of King Goujian in Twentieth Century China“ vor. Eine von Sima Qian überlieferte Geschichte erzählt von König Goujian im fünften Jahrhundert vor Christus, dass er nach seiner Niederlage gegen einen benachbarten König im Exil jahrelang seine Rachegefühle genährt habe, indem er „auf Reisig schlief und täglich Galle kostete“. Diese Formulierung wurde in der späten Qing-Dynastie im neunzehnten Jahrhundert, als patriotische Kreise zum Gegenschlag gegen die demütigenden europäischen Mächte aufriefen, zur stehenden Redewendung – und zugleich zu einem Beispiel codierten Sprechens, das von jedem verstanden wird, der in der chinesischen Welt sozialisiert ist, aber nicht außerhalb. 1959 nahm auch Mao bei einem Spaziergang am Westsee von Hangzhou auf die Redewendung Bezug, als er prophezeite, dem revolutionären China drohe nicht durch seine Armut, sondern durch seinen künftigen Wohlstand die größte Gefahr. „König Goujian schlief auf Reisig und kostete Galle. China ist jetzt nicht reich, aber wenn es das in der Zukunft wird, wenn jeder ohne Bedenken Fleisch essen kann, dann wird es Probleme geben, da könnt ihr sicher sein.“
Auf dieses Zitat wies der australische Sinologe Geremie Barmé zur Untermauerung seines Plädoyers für eine „Neue Sinologie“ hin. Um das gegenwärtige China und seine Politik zu analysieren, brauche es nicht nur politikwissenschaftliche Kompetenz, sondern auch die Kenntnis der alten Geschichte und Sprache Chinas; nur so seien die im aktuellen chinesischen Diskurs verwendeten Begriffe und Vorstellungen mit all ihren Anspielungen und historischen Assoziationen zu verstehen.
Der Nationalismus, der Leninismus und die künstliche Intelligenz, die Chinas Politik heute prägen, sind zugleich eingeschrieben in jahrtausendealte Vorstellungsmuster, die ihnen einen eigenen Horizont geben. Für gewöhnlich sagt man, dass Konfuzius in China wieder wichtig werde. Doch womöglich prägt die überlieferte „Geschichte“ noch mehr als ein einzelner Denker. In dieser Geschichte gilt nur, was sich durchsetzt, um die Funktionen des Staats (Steuer, Landesverteidigung, Versorgung) zu vollziehen. Die einzelnen Lehrmeinungen, die es in China gegeben hat, konkurrieren da miteinander und zugleich mit allen möglichen Listen, Intrigen, Methoden der Machtausübung.
Wie sich der moderne Nationalismus und das ebenso vor- wie nachmoderne „Tianxia“-Denken miteinander verwoben, hat seinerseits eine Geschichte. Wang Gungwu hat dargestellt, wie die chinesischen Intellektuellen gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine sie erschütternde Entdeckung machten: dass nämlich im Geschichtsbild der europäischen Länder, die seit Jahrzehnten China unter Druck setzten, China nicht im Zentrum, sondern am Rand stand. Seither versuchen sie, auch in dieser alternativen Geschichte in die Mitte zu gelangen. Sie adaptierten nacheinander den Nationalismus, den Republikanismus, den Kommunismus. China integrierte sich zu einem Zeitpunkt in das vom Westen dominierte System der Nationalstaaten, als klar war, dass es selber darin nur eine untergeordnete Rolle spielte. Während es sich durch seinen Machtzuwachs mittlerweile auch in diesem System mehr und mehr auf die Mitte zubewegt, arbeitet in den Intellektuellen gleichzeitig das alte „Tianxia“-Muster weiter. China versteht sich als ein moderner multinationaler Staat, der zugleich aber den Umfang und die Bedeutung dessen, was es immer gewesen sei, wiederherstelle.
Eine ganz praktische Folge dieser Perspektive ist, dass die Volksrepublik von Anfang an Anspruch auf die Gebiete erhob, die zum Kaiserreich der Qing-Dynastie gehörten, ohne dass sie damals nationalstaatlich eingegrenzt sein konnten, zum Beispiel also auf Tibet. Und ebenso leitet China seine Ansprüche auf Taiwan und diverse Inseln im Pazifik daraus ab, über die es Streit mit Nachbarstaaten gibt.
Mittelfristig stellt sich die Frage: Wird die Kombination von beidem – Nationalismus und das Selbstbewusstsein eines potentiell globalen Zivilisationsstaats – besonders explosiv und gefährlich sein, weil ihre Ambitionen tendenziell gar keine Grenzen mehr kennen? So dass der chinesische Einparteienstaat tatsächlich die Nummer eins in einer neuen Weltordnung werden will, in der seine Kriterien von Zensur und autoritärer Herrschaft universelle Geltung haben? Oder sollte man gerade auf die Wiederkehr des alten „Tianxia“-Musters hoffen, das eben nicht nationalistisch ist, sondern alle Länder in einen bei durchaus unterschiedlichen Interessen miteinander verbundenen Zusammenhang einbettet? Ist die Verheißung der Partei, dass der Traum Chinas und der Traum der Welt demnächst verschmelzen werden, also eher eine Beruhigung oder eine Drohung?
Ein erster Prüfstein könnte die Zukunft des Investitions- und Infrastrukturprojekts der Neuen Seidenstraßen sein. China schließt dort eine Vielzahl von bilateralen Abkommen mit asiatischen, europäischen und afrikanischen Staaten, behält sich die Planung des großen Ganzen, in die diese einzelnen Kooperationen eingebettet sein werden, aber für sich selbst vor. Wird das chinesische Konzept von „Geschichte“ in der Lage sein, ein Außerhalb seiner selbst auf Dauer anzuerkennen?
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Mark Siemons ist Feuilletonkorrespondent der F.A.Z. in Berlin.
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