Auslandsinformationen (Ai): Herr Neitzel, Sie sind derzeit der einzige Professor für Militärgeschichte in Deutschland. Sagt das etwas über das Land aus?
Sönke Neitzel: Ja, das sagt schon etwas über das Land aus. Wir haben etwa 200 Professuren für Gender Studies – und eine für Militärgeschichte. Im Bereich der Politikwissenschaften sind es genau drei, die sich im engeren Sinne mit Sicherheitspolitik beschäftigen. Dass ich mir in diesem Bereich mehr wünschen würde, ist klar.
Ai: Woran liegt es, dass die Verteilung so ausfällt?
Neitzel: Das universitäre Milieu ist an Fragen von Krieg und Frieden nicht wirklich interessiert. Und wenn, dann zumeist hochnormativ. Wir haben seit den 1970er Jahren sehr üppig geförderte Institute für die Friedens- und Konfliktforschung, die lange Zeit einem allzu idealisierten Blick auf die Welt das Wort redeten. Der Referenzrahmen des akademischen Milieus zeigt sich zweifellos auch in der Denomination von Lehrstühlen. Wie soll es auch anders sein.
Ai: Sieht das in anderen Ländern denn gänzlich anders aus?
Neitzel: Ja und nein. Wenn wir nur auf Lehrstühle schauen, die Militärgeschichte explizit als Teil ihres Arbeitsbereichs ausweisen, gibt es in ganz Europa nur sehr wenige. Aber: Häufig befassen sich andere Professuren mit dem Thema, obwohl sie nicht so denominiert sind. Am besten ist die Lage sicher in Großbritannien, wo es auch eine lange Tradition des Fachs War Studies gibt. Das Besondere in Deutschland ist weniger, dass es nur eine Professur für Militärgeschichte gibt, sondern dass das Thema insgesamt in der Geschichtswissenschaft eine so geringe Rolle spielt.
Ai: Blicken wir weg von der Universität, hin zur Gesamtgesellschaft. Wie würden Sie das Verhältnis der deutschen Bevölkerung zum Militärischen beschreiben?
Neitzel: Wir müssen unterscheiden zwischen der Bundeswehr im Speziellen und dem Militärischen im Allgemeinen. Zum Militärischen ist das Verhältnis sicherlich zurückhaltend, vor allem im historischen Rückblick. Wenn sich die Deutschen mit Militär befassen, dann dominieren der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die nationalsozialistischen Verbrechen. Wenn wir aber nach der Einstellung der Bevölkerung zur Bundeswehr fragen, zeigen die Umfragen, dass die Deutschen zumindest in den letzten Jahrzehnten ein positives bis sehr positives Verhältnis zu ihr haben.
Ai: Sie haben von einer Zurückhaltung dem Militärischen gegenüber gesprochen. Kann man das nicht auch als Stärke betrachten – etwa, weil damit eine hohe Wertschätzung von Diplomatie einhergeht?
Neitzel: Es war nie so, dass die deutsche Bevölkerung generell gegen das Militär war. Wir nehmen häufig vor allem diejenigen wahr, die Kritik geäußert haben – denken Sie etwa an den NATO-Doppelbeschluss. Dabei übersehen wir die Hunderttausenden, die zur Bundeswehr gegangen sind und gesagt haben: Wir brauchen das Militär, um uns zu verteidigen. Und wenn wir sehen, was der deutsche Staat zu Zeiten des Kalten Krieges fürs Militär ausgegeben hat – drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts –, so kann man nicht sagen, dass dieser Staat zum Militärischen generell ein distanziertes Verhältnis hat.
Nun zum Punkt der Diplomatie: Die Diplomatie allein kann es zumeist nicht richten. Das Herauskürzen des Militärischen aus dem politischen Denken hat in den 1990ern eingesetzt. Und über den Erfolg dieser Ausrichtung kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich würde sagen: Der Westen und Deutschland haben in Jugoslawien jämmerlich versagt. Wir haben letztlich Massakern wie in Srebrenica zugeschaut. Europa hat es – obwohl es eine Millionen Mann unter Waffen und tausend Kampfflugzeuge hatte – nicht geschafft, diesen Bürgerkrieg zu beenden. Das waren die Amerikaner. Dabei braucht man immer alles in der Toolbox. Eine kluge Politik besteht aus Diplomatie, wirtschaftlichen Maßnahmen und militärischen Mitteln – und man muss sehen, was man in welcher Situation anwendet.
Ai: Und diese Toolbox ist in Deutschland nicht voll bestückt?
Neitzel: Es ist ja das eine, zu sagen, dieses Land will auf Krieg verzichten. Aber das andere ist die Frage, wie wir eigentlich damit umgehen, wenn andere Länder Krieg als Mittel der Politik einsetzen. Wir haben – das sehen wir mit Blick auf Wladimir Putin – völlig verlernt, Krieg als eine reale Möglichkeit einzukalkulieren. Wenn wir auf die Situation in der Ukraine schauen, dann war der Fehler ja nicht, dass man Putin die Hand ausgestreckt und ihm Kooperationen angeboten hat. Der Fehler ist, dass man keine Vorsorge für den Worst Case getroffen hat – für den Fall also, dass Putin den Weg des Krieges geht.
Ai: In der deutschen Öffentlichkeit gab es in den Monaten nach Beginn des Überfalls eine Diskussion über die richtige Reaktion auf den Krieg. Geführt wurde diese auch über offene Briefe, in denen mal für, mal gegen ein stärkeres Engagement Deutschlands und seiner Verbündeten zugunsten der Ukraine argumentiert wurde – vor allem mit Blick auf die Lieferung von Waffen. Sie selbst haben in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Juli gemeinsam mit anderen Experten in einer Stellungnahme für eine harte Haltung gegenüber Russland plädiert. Warum?
Neitzel: Zunächst: Wir wissen alle nicht, wie sich die Lage entwickelt. Wir können nur mit Plausibilitäten und Annahmen arbeiten, die natürlich auch von unserer Profession und unseren Einstellungen ausgehen. Für mich ist die entscheidende Frage: Glauben wir, dass wir mit Verhandlungen momentan etwas erreichen können? Ich sehe überhaupt nicht, dass Putin derzeit bereit wäre, ernsthaft zu verhandeln. Er hat da auch gar keine Notwendigkeit. Zudem wäre ein Festschreiben der jetzigen Situation für die Ukraine schlicht nicht zu akzeptieren. Man würde sie Russland ausliefern. Putin würde das lediglich als Bestätigung sehen, dass sich ein Angriffskrieg eben doch lohnt und er diesen Lohn sogar noch von einem ängstlichen Westen sanktioniert bekommt.
Dazu kommt: Wenn Deutschland jetzt mit dem Vorschlag für Verhandlungen käme, würde es sich in Europa völlig isolieren. Man würde Europa spalten und bei den ostmitteleuropäischen Staaten den letzten Kredit verspielen. Es wäre ein Geschenk für Putin, wenn wir das machen würden.
Ai: Die Debatte um ein mögliches Ende des Krieges ist – so zumindest unser Eindruck – vielfach von Wunschdenken und einer gehörigen Portion Naivität geprägt. Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Frage, welche Bedingungen überhaupt erfüllt sein müssen für erfolgversprechende Verhandlungen, werden wenig beachtet. Sehen Sie das auch so? Und wenn ja, haben Sie eine Erklärung dafür?
Neitzel: Es geht in der Debatte ja nicht um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um Emotionen. Was da deutlich wird, ist der Wunsch, es möge Frieden geben. Das ist sehr verständlich, hat aber mit der Realität meines Erachtens wenig zu tun. Die meisten argumentieren kenntnisfrei, unabhängig vom Forschungsstand zu Themen wie der Dynamik und dem Ende von Kriegen. Wenn man, wie ich, den Krieg über Jahrzehnte studiert hat, ist man über manche Position doch ein wenig verwundert.
Ai: Inwiefern?
Neitzel: Bei Kriegen geht es zunächst darum, dem Gegner mit militärischen Mitteln seinen Willen aufzuzwingen. Und Kriege enden, vereinfacht gesagt, wenn das erreicht ist oder die militärischen Mittel für die Erreichung des Ziels nicht mehr ausreichen. Dann kann es zu einem Kompromiss kommen, etwa einem Friedensschluss oder einem Waffenstillstand, wobei wir da in der Geschichte verschiedenste Varianten kennen. Ich sehe keine Anzeichen, dass dieser Punkt für Russland gekommen ist. Und das ist das, was ich meine: Wir haben völlig verlernt, Kriege zu lesen. Dass wir alle für Frieden sind, ist klar. Aber die Fähigkeit, uns mit dem Gegenstand Krieg auseinanderzusetzen, ist nicht besonders ausgeprägt. Da haben wir vergleichsweise wenig Expertise in diesem Land. Das gilt für die Wissenschaft wie für die Politik.
Ai: Einer, der zweifelsohne Expertise in diesem Bereich besitzt, ist Carlo Masala, Professor an der Universität der Bundeswehr in München. Er hat im Sommer angesichts der Forderungen, nun endlich mit Russland zu verhandeln, um „Frieden“ zu schaffen, auf Twitter geschrieben: „Mir macht es schon ein wenig Angst, wie wenig wehrhaft Teile der Gesellschaft sind.“ Teilen Sie diese Angst?
Neitzel: Deutschland ist natürlich in einer anderen Lage als die Ukraine. Die russische Armee steht nicht östlich von Berlin an den Seelower Höhen. Wenn das so wäre, wäre auch die Diskussion eine andere. Aber insgesamt teile ich die Sorge meines Kollegen. Ich verbinde das mit dem Befund, dass wir uns die Dinge einfach viel zu lang schöngeredet und in einer „Pippi-Langstrumpf-Welt“ gelebt haben. Das Aufwachen ist jetzt sehr schmerzhaft – und manch einer will an der „Pippi-Langstrumpf-Welt“ festhalten.
Ai: Es gibt Umfragen, nach denen die Deutschen mehrheitlich durchaus bereit sind, Einschränkungen wie höhere Energiepreise zu akzeptieren, wenn es der Ukraine nutzt. Andererseits hat der European Council on Foreign Relations Menschen in zehn europäischen Ländern zu ihrer Meinung zum Krieg in der Ukraine befragt. Das Ergebnis: Wenn man die Menschen fragt, ob sie lieber sofortigen „Frieden“ auf Kosten von Zugeständnissen der Ukraine möchten oder aber glauben, dass Frieden mittel- und langfristig nur gesichert werden kann, wenn man Russland nun entschieden Einhalt gebietet, dann gewinnt das „Frieden-um-jeden-Preis-Lager“ in allen Ländern bis auf Polen – und ist nur in Italien noch stärker als in Deutschland. Können wir als Gesellschaft gegen Putins Russland bestehen oder muss man im Kreml nur in Ruhe abwarten, bis die demokratischen Mechanismen wirken und eine Friedenssehnsucht in der Bevölkerung sich vollends in Regierungspolitik übersetzt?
Neitzel: Ich denke, dass die Deutschen belastbarer sind, als es mancher Politiker glaubt. Es hängt aber viel vom Krisenmanagement ab, von der Kommunikation und der Klarheit im Handeln. Dass wir in unserer Haltung zu Russland insgesamt gespaltener sind als beispielsweise Großbritannien, ist offensichtlich. Wir haben gerade im Osten historisch bedingt einfach ein Stück weit eine andere Haltung dazu. Ich glaube dennoch, dass die Mehrheit der Bevölkerung durchaus bereit ist, Belastungen zu tragen, wenn sie den Sinn versteht und den Eindruck hat, dass die Regierung sie geschickt durch den Sturm lenkt.
Ai: Stichwort Kommunikation: Muss in diesem Zusammenhang denn vielleicht auch deutlicher gemacht werden, warum die Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression so wichtig und auch im eigenen Interesse ist?
Neitzel: Das wird durchaus gemacht. Die Argumente sind ja bekannt. Wenn wir den Regelbruch akzeptieren, kann das zu einer Lawine werden. Wir können nicht ausschließen, dass dann auch die Republik Moldau und Georgien oder vielleicht sogar NATO-Staaten in ihrer Souveränität bedroht werden. Das ist, glaube ich, den meisten klar.
Aus meiner Sicht ist es aber auch wichtig, dass man die Diskussion nicht überdreht und auch unterschiedliche Argumente zulässt. Man muss beispielsweise auch ein kritisches Wort über die Ukraine – etwa den Einfluss der dortigen Oligarchie – verlieren dürfen, ohne als Verräter gebrandmarkt zu werden. Es darf benannt werden, dass die Ukraine in manchen Punkten andere Vorstellungen hat als wir. Ich glaube, das stärkt die Glaubwürdigkeit der Diskussion. Mein Argument ist aber auch: Wenn wir als NATO-Staaten die Ukraine nicht mehr unterstützen, wird es sie nicht mehr geben. Dann ist das ein Präzedenzfall, der ohne Beispiel ist in der jüngeren Geschichte Europas. Das sollten wir nicht zulassen.
Ai: Deutschland wird vielfach vorgeworfen, gegenüber Russland in der Vergangenheit zu zögerlich aufgetreten zu sein. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar setzte Kanzler Scholz dann ein Ausrufezeichen mit seiner „Zeitenwende-Rede“. Die dadurch auch im Ausland geweckten Erwartungen wurden indes in der Wahrnehmung nicht weniger Beobachter alsbald wieder enttäuscht. Teilen Sie diesen Eindruck?
Neitzel: Die Rede von Scholz war eine große Rede, die auch in Europa und bei der NATO Eindruck gemacht hat. Dazu dann die 100 Milliarden für die Bundeswehr – das war schon ein Pfund, mit dem Deutschland wuchern konnte. Mittlerweile aber merkt man: Die 100 Milliarden sind zwar gut, aber die Deutschen verhalten sich eigentlich wie immer. Sie schauen, was die anderen machen, die anderen sollen vorangehen. Im Diplomatensprech heißt das dann: „Wir stimmen uns ab.“ Wenn die Niederländer fünf Panzerhaubitzen liefern, liefern die Deutschen sieben. Man redet monatelang von einem Ringtausch, und was dann zustande kommt, sind sage und schreibe 14 Leopard-Panzer. Deutschland tut etwas, aber es macht gemessen an seiner Größe, seiner Finanzkraft und Bedeutung zu wenig. Das ist zumindest die Wahrnehmung in Mittelosteuropa und – hinter vorgehaltener Hand – auch die in der NATO. Und es ist auch meine persönliche Meinung: Deutschland könnte deutlich mehr machen.
Ai: Sie wünschen sich also ein deutlich aktiveres Deutschland, das selbst die Initiative ergreift?
Neitzel: Deutschland könnte eine treibende Kraft sein. Aber in sicherheitspolitischen Fragen war es das nie. Denken Sie an die Eurokrise und welche starke Rolle der damalige Finanzminister Schäuble da gespielt hat. Und vergleichen Sie das mit der Rolle des Landes in der derzeitigen Krise. Da gibt es schon einen großen Unterschied. Gerade für Ostmitteleuropäer, die wirklich Angst haben, ist das ein Riesenproblem. Ob die Ukraine diesen Krieg überlebt oder nicht, hängt von den USA ab, vielleicht noch von Großbritannien. Aber nicht von den EU-Europäern und erst recht nicht von Deutschland. Das ist, bei 450 Millionen EU-Europäern, ein Befund, der beschämend ist.
Ai: Nun ist aber eines dann doch unverkennbar: Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind sicherheitspolitische Themen zumindest in der öffentlichen Debatte in Deutschland deutlich präsenter als zuvor. Menschen sind bereit, alte Gewissheiten zu überdenken, zum Beispiel, wenn sie die Bedeutung militärischer Abschreckung für die Vermeidung von Kriegen und Gewalt zunehmend anerkennen. Andere wiederum tun sich da nach wie vor sehr schwer oder fallen gänzlich in alte Denkmuster zurück. Im Extremfall wird der sicherheitspolitische Diskurs dann rundheraus als „Bellizismus“ diskreditiert. Glauben Sie, der Angriff Russlands wird dazu führen, dass Sicherheitspolitik im öffentlichen Diskurs auch in Zukunft eine stärkere Rolle spielt?
Neitzel: Diese Frage zielt ja letztlich darauf ab, ob wir eine Veränderung in der politischen Kultur in Deutschland erleben werden. Politische Kulturen können sich verändern, in unserem Land ist das in den vergangenen 150 Jahren mehrfach geschehen. Aber mich würde es sehr wundern, wenn wir im Bereich der Sicherheitspolitik – sozusagen im kulturellen Niemandsland – eine wirkliche Zeitenwende erleben würden. Der derzeitige Diskurs ist getriggert von den aktuellen Ereignissen. Wenn die Aktualität eine andere ist, werden sich die Nachrichten auf andere Themen richten. Die Frage wird dann sein, ob sicherheitspolitische Themen in den Universitäten, innerhalb der gesellschaftlichen Eliten und in den Parteien wirklich verankert wurden, ob ein neues Bewusstsein da ist, ob wir gar eine Neuausrichtung an wichtigen politischen oder auch wissenschaftlichen Positionen sehen werden. Das würde mich sehr wundern. Diejenigen, die derzeit über Neubesetzungen in den Universitäten oder Posten in den Parteien bestimmen, werden ja ihre Meinung nicht über Nacht verändern. Dass sich grundlegend etwas ändert, wäre sehr wünschenswert, aber mir fehlt da wirklich die Fantasie.
Ai: Zum Abschluss, Herr Professor Neitzel, noch einmal der Blick nach vorne: Sie haben ja bereits gesagt, dass leider nicht zu erwarten ist, dass der Krieg in der Ukraine sehr bald aufhört. Und selbst wenn es zu einer Art Waffenstillstand käme, wäre der Konflikt mit Russland ja nicht beendet. Viele sind der Ansicht, dass der Konflikt strukturell erst dann beendet werden kann, wenn das Regime in Russland ein anderes ist – eines, das stärker auf Kooperation setzt statt auf imperiale Ausdehnung und Feindschaft zum Westen…
Neitzel: … oder wenn es eine Niederlage der russischen Streitkräfte gibt und sie auseinanderfallen. Aber das ist selbst nach den ukrainischen Erfolgen der letzten Wochen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten…
Ai: …das heißt also, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass diese Auseinandersetzung die nächsten Jahre, im schlimmsten Fall sogar die nächsten Jahrzehnte prägen wird. Und dann gibt es mit China noch eine weitere Macht, die den Westen herausfordert. Kann uns die Geschichte lehren, wie wir in der Auseinandersetzung mit diesen autoritären Revisionisten bestehen können?
Neitzel: Jeder Konflikt ist anders und findet unter neuen Rahmenbedingungen statt – und wir lernen aus der Geschichte, was wir lernen wollen und was unseren politischen Einstellungen entspricht. Wir sehen die Geschichte in gewisser Weise als Wühltisch, von dem man sich das Argument raussucht, das einem gerade passt.
Was kann man als Historiker also raten? Es kommt sicher auf die Geschlossenheit der NATO-Staaten an, in der ganzen Breite des Handelns: wirtschaftlich, politisch, militärisch. Und wir brauchen einen realistischen Blick auf die Welt. Was können wir erreichen? Was nicht?
Das klingt erstmal trivial, ist aber extrem schwer umzusetzen. Denn: An Geschlossenheit und einem realistischen Blick mangelt es der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik seit Jahrzehnten. Europa ist sicherheitspolitisch nach wie vor völlig von den USA abhängig. Und ich kann nicht erkennen, dass es etwa in Rüstungsfragen vorankommt. Man kann nur hoffen, dass das so gut geht. Sollten die USA Europa eines Tages den nuklearen Schutzschild entziehen, ist Europa erpressbar. Die Briten und Franzosen können uns da nicht wirklich schützen.
Ai: Was kann denn getan werden, um diese wenig Mut machende Ausgangslage zu verbessern?
Neitzel: Man kann etwas tun. Die Geschichte ist offen. Es braucht etwa eine entschlossen handelnde Bundesregierung. Die Bundeswehr muss fähig sein, einen Verteidigungskrieg zu führen. Und wir müssen auf europäischer Ebene den gordischen Knoten zerschlagen. Europa gibt ja genug für Verteidigung aus, aber es müsste sich anders organisieren. Dafür brauchen wir einen großen Europäer – einen Helmut Kohl, Charles de Gaulle oder Konrad Adenauer –, der die Kraft aufbringt, das unmöglich Scheinende zu erreichen. Wir brauchen Führungsfiguren, die endlich im Großen handeln.
Das Gespräch führten Sören Soika und Fabian Wagener.