Country reports
Das Scheitern des Referendums zur Europäischen Verfassung in Frankreich am 29. Mai hat nicht nur die EU insgesamt in eine tiefe Krise gestürzt, sondern vor allem auch in Frankreichs V. Republik eine veritable Krise offenbart, die allerdings bereits unter der Oberfläche brodelte. Die Gründe für das Scheitern des Referendums waren primär die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Raffarin und eine wachsende Europaskepsis im allgemeinen ausgelöst durch die EU-Erweiterungspolitik im besonderen – letzteres wurde ebenfalls durch die Türkei-Debatte gefördert.
Die Regierungsumbildung, die als Folge des gescheiterten Referendums in Frankreich vollzogen wurde, barg weiteres Konfliktpotential in sich. Die politische Doppelspitze mit de Villepin als Premierminister und Sarkozy als Innenminister und UMP-Präsident ist eine recht explosive. Insbesondere in politischen Kernbereichen – Wirtschafts- und Sozialpolitik, Integrations- und Immigrationspolitik aber auch Außenpolitik – gibt es unterschiedliche Ansätze, die zunehmend für Differenzen sorgen.
Der „Nationale Protesttag“ am 4. Oktober, der das gesamte öffentliche Leben fast völlig zum Erliegen gebracht hatte, war bereits der dritte landesweite Generalstreik in diesem Jahr, zu dem die Gewerkschaften aufgerufen hatten. Dieses Mal hatte der Streik allerdings nicht nur die Gewerkschaften, sondern erstmals die im Referendum über die Europäische Verfassung entzweite politische Linke in Frankreich kurzfristig wieder geeint. Die Proteste der Gewerkschaften und der politische Linksparteien Anfang Oktober hatten sich in erster Linie gegen die Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftspolitik der konservativen Regierung, gegen die Privatisierung von Staatsbetrieben, geringe Kaufkraft, niedrige Löhne und hohe Arbeitslosigkeit gerichtet. Insbesondere die jüngste Steuerreform und die Lockerung des Kündigungsschutzes (im August hatte de Villepin per Dekret eine Arbeitsmarktreform durchgesetzt – gegen den Widerstand der Gewerkschaften und ohne das Parlament darüber abstimmen zu lassen –, die bei kleinen und mittleren Betrieben über einen Zeitraum von zwei Jahren Arbeitsverträge ohne Kündigungsfrist zulässt mit dem Ziel, mehr Beschäftigung in Kleinbetreiben zu schaffen) werden von Gewerkschaften und Opposition als verfehlt bewertet.
Die Proteste der Gewerkschaften und Linksparteien stellten die erste große sozialpolitische Bewährungsprobe für die Regierung de Villepin dar - vier Monate nach seinem Amtsantritt im Matignon. Der Mann, der als Premierminister angetreten war, um den Franzosen nach 100 Tagen das Vertrauen in die französische Regierung zurück zugeben, versucht die Krise zu meistern, indem er nicht von seinem Reformkurs abrückt und sich bemüht, die soziale Verträglichkeit seiner Politik zu betonen. Um tatsächlich einen „heißen Herbst“ zu vermeiden, mussten allerdings auch Zugeständnisse, z.B. im Hinblick auf eine eingeschränkte Privatisierung der staatlichen Fährgesellschaft SNCM, gemacht werden. Villepin hat es sich zur Aufgabe gemacht, kontinuierlich öffentlich über seine Politik Rechenschaft abzulegen und an seinen Ergebnissen gemessen zu werden. Der weiterhin allmähliche aber anhaltende Trend des Rückgangs der Arbeitslosenzahlen wird dabei als erstes positives Zeichen gewertet. Sicherlich kann man nicht erwarten, dass sich das negative politische Klima, welches durch das Scheitern des Referendums offen zutage getreten ist, innerhalb weniger Monate grundlegend ändert. Fest steht allerdings auch, dass – auch nach einer vielversprechenden 100-Tage-Bilanz de Villepins – seine Amtszeit nun in eine schwierige Phase mündet: die Popularitätswerte in den Umfragen stagnieren. Seine Kritiker werfen ihm vor, dass er die klassische Rechte à la Chirac verkörpere - gekoppelt mit wirtschafts- und sozialpolitischem Konservativismus, Patriotismus und Opportunismus - und sehen ihn mehr in der Fortsetzung der politischen Linie Chiracs als Verkörperung einer tatsächlichen Neuerung.
Die Gewaltwelle in dem Pariser Vorort Clichy-sur Bois in den letzten Tagen, die kein Einzelfall, sondern symptomatisch für die Pariser Banlieues ist, offenbart eine weitere Dimension der sozialen Problematik - hohe Jugendarbeitslosigkeit, soziale Wohnungsnot, mangelnde Integration ausländischer Bürger, Ausbildungsdefizite und vieles mehr.
Die Entschlossenheit Sarkozys, jeglicher Gewalttätigkeit in den städtischen Ballungsbezirken mit allen Mitteln ein Ende zu bereiten, die in populistischen Äußerungen zu den jüngsten Vorfällen wie „Befreiung der Bewohner von Gesindel/Abschaum („racaille)“ zum Ausdruck kommen, erinnern an seine rechtslastige Polemik vor wenigen Monaten. Damals hatte er als Reaktion auf den Tod eines Jungen als Folge eines Bandenkrieges in einem der sozial schwachen Pariser Vororte gefordert, Sozialbausiedlungen mit dem „Kärcher-Hochdruckreiniger“ „Säuberungen“ unterziehen zu lassen. Dieses Mal wirft ihm nicht nur die Opposition vor, Terminologien von der rechtsextremen Front National zu übernehmen, um das rechtsextreme Wählerpotential zu gewinnen, auch die Medien kritisieren den „voluntaristischen“ Ton Sarkozys. Sein beigeordneter Minister für Chancengleicheit, Azouz Begag, distanzierte sich gar vom „kriegerischen Diskurs“ Sarkozys – seine wenig nuancierte Unterscheidung zwischen „Bösewichten“ und „rechtschaffenen Bürgern“, seine Auffassung, mit Repressalien vorzugehen, laufe Gefahr, ganze Bevölkerungsgruppen zu stigmatisieren.
Parallel zu der wirtschafts- und sozialpolitisch sehr angespannten Situation in Frankreich nimmt das Konkurrenzverhältnis zwischen Sarkozy und de Villepin seinen Fortgang - zu den inhaltlichen Differenzen beider Protagonisten kommt die persönliche Konkurrenz um das höchste Staatsamt in 2007 hinzu, für das sich beide zu qualifizieren suchen. Sarkozy und seinen engsten Beratern ist mittlerweile deutlich geworden, dass sie es im Rennen um 2007 nicht mehr nur mit einem politisch geschwächten Gegner Chirac zu tun haben. De Villepin ist zur wahren Herausforderung und zum ernstzunehmenden Konkurrenten geworden. Die Rivalität zwischen beiden macht sich vor allem an mehr oder weniger subtilen verbalen Anspielungen aus beiden Lagern fest. Die Unterschiede zwischen beiden sind offensichtlich: Während de Villepin über einen entscheidenden Vorteil auf der internationalen Bühne verfügt, hat Sarkozy seine großen Auftritte auf UMP-Mitgliederversammlungen, Parteikongressen und in der Provinz.
Unter den politischen Persönlichkeiten im bürgerlichen Lager hat sich mittlerweile auch Verteidigungsministerin Alliot-Marie zu Wort gemeldet und ebenfalls ihre Ambitionen für 2007 kundgetan. Wie dies jedoch den Zweikampf Sarkozy – de Villepin beeinflussen wird, darüber zu spekulieren ist noch zu früh.
Sarkozy versucht mit aller Macht, seine Anhängerschaft vor 2007 zu verbreitern. Ein Instrument, welches er dazu benutzt, sind die monatlichen Themenkongresse der UMP. Mit dem jüngsten Kongress im Oktober, der dem Thema „Umwelt“ gewidmet war, soll der Partei ein neues Image verliehen und ein neues Wählerpotential angesprochen werden, in dem er auch hier den „Bruch“ (rupture) mit der Vergangenheit fordert. Über das Thema „Umwelt“ strebt er an, die Franzosen im Sinne der Interpretation eines direkten Zusammenhangs von Ökologie und Wirtschaftswachstum zu einen. Natürlich auch hier nicht ohne Seitenhieb an seinen Konkurrenten de Villepin, der die Thematik „Ökologie“ zwei Tage nach dem UMP-Konvent zum Thema einer interministeriellen Kommission zur „Umwelt“ macht. Sarkozy sieht sich als „Ideengeber“ bestätigt.
In seinem frühzeitigen Werben um die Wählergunst ist Sarkozy allerdings mit seinem jüngsten Vorschlag, in Frankreich lebende Ausländer bei Kommunalwahlen die Stimmberechtigung zu erteilen, auch auf Kritik aus den eigenen Reihen gestoßen. Es wird ihm vorgeworfen, einerseits für eine strikte Politik gegen Immigranten einzutreten, um das rechte Wählerpotential an sich zu binden, andererseits Wähler aus dem linken Spektrum mit seinem Vorstoß umwerben zu wollen. De Villepin ist dem Vorschlag Sarkozy öffentlich entgegengetreten. „Es ist die Nationalität, die das Recht gibt, sich zu den großen politischen Richtungsentscheidungen lokaler oder nationaler Art zu äußern“ (s’est la nationalité qui donne le droit de s’exprimer sur les grandes orientations politiques locales ou nationales).
Eine weitere Diskrepanz zwischen Sarkozy und de Villepin ergibt sich aus der Infragestellung des Laizitätsgesetzes von 1905 seitens Sarkozy, der ebenfalls die Einrichtung einer Kommission angekündigt hat, die sich mit der eventuellen Erneuerung des Gesetzes befassen soll – das Gesetz gehört zu den fundamentalen Grundpfeilern der französischen Republik, das von de Villepin vehement verteidigt wird: „Nous devons défendre la laicité dans le cadre de la loi 1905, à laquelle je suis profondément attaché …. l’un des fondaments de notre République.“
Auch Jacques Chirac – zwar politisch und gesundheitlich geschwächt – will nach wie vor 2007 eine Rolle spielen und ist daher eine nicht zu vernachlässigende Komponente im Wettkampf um die Macht - wenn auch mit geringen Erfolgschancen. Zwei Themen werden seine Kandidatur 2007 bestimmen - innere Sicherheit sowie Arbeit und Beschäftigung. Bei seinem Besuch Mitte Oktober im „Centre Operationnel Vigipirate“, dem Zentrum für Innere Sicherheit wurde deutlich, dass der Elysee die Oberhand über das Thema „innere Sicherheit“ – eigentlich eine Domäne des Innenressorts – behalten will, trotz der Versuche Sarkozys, diese Thematik zu dominieren. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass der Berater Chiracs im Elysee in Fragen der Inneren Sicherheit auch gleichzeitig der Generalsekretär des Conseil de Securité Interieur (Rat für Innere Sicherheit) ist.
Kritiker stellen sich mittlerweile zynisch die Frage, ob die französische Regierung zum Wohle des Landes regiert oder um gegen Sarkozy anzukämpfen. Ebenso fraglich ist, ob Sarkozy zum Wohle des Landes agiert oder um diejenigen zu bekämpfen, die seine zukünftige Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen konterkarieren.
Nicht nur innenpolitisch, auch international und vor allem europapolitisch hat sich Chirac wieder auf der Bühne zurückgemeldet, nachdem er – im Zuge der Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei - im eigenen Lager politisch isoliert war: verstärkte Kritik innerhalb der UMP (nicht nur seitens der Sarkozysten) und Vorwurf der Ignoranz gegenüber dem Votum der französischen Bevölkerung beim Referendum.
In einem viel beachteten Artikel über die Zukunft Europas, welcher unmittelbar vor dem Gipfel in Hampton Court in verschiedenen Tageszeitungen aller 25 EU-Beitrittsländer veröffentlich wurde, hat Chirac deutlich bekräftigt, dass Frankreich nicht akzeptieren würde, Europa auf eine einfache Freihandelszone zu reduzieren. Weiterhin hat er sich für eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Innovation und Forschung innerhalb Europas ausgesprochen – jene Bereiche, in denen Frankreich und Deutschland bereits große Programme angestoßen haben. Besonders hervorgehoben wird von ihm auch die verstärkte Zusammenarbeit mit der neuen deutschen Regierung, insbesondere dahingehend zu prüfen, wie der Ratifizierungsprozess der EU-Verfassung weiter vorangetrieben werden kann.
Die politischen Hauptströmungen für 2007 im konservativen Lager haben sich bereits herauskristallisiert: Chirac und de Villepin stehen für Kontinuität der aktuellen Politik mit graduellen Reformen, Sarkozy fordert den totalen „Bruch“ mit den letzten 30 Jahren, Bayrou, der sich mit der UDF mehr und mehr von der UMP distanziert (die UDF-Fraktion hat Ende Oktober gegen den Haushaltsentwurf 2006 und Anfang November gegen den Gesetzesentwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung gestimmt) hat in den letzten Tagen den konsensorientierten Begriff der „refondation“ geprägt. Der jüngste Alleingang der UDF in Form zweier Negativvoten im Parlament bringt zwar die breite Mehrheit der bürgerlichen Rechten nicht unbedingt in Gefahr, ist aber ein deutliches Indiz für Bayrous Präsidentschaftsambitionen. Was die Politik der Linksparteien betrifft, so wird der Parteitag der Sozialisten am 19. November mit Spannung erwartet.
Festzuhalten bleibt, dass sich Frankreich derzeit in einer Krise befindet, die mehrdimensional ist:
- wirtschafts- und sozialpolitisch: die Wirtschaftsindikatoren, die gescheiterte Integrationspolitik und Herausbildung von Parallelgesellschaften in den Banlieues machen dies offenkundig;
- institutionell: Schwächung der politischen Institutionen infolge der Zersplitterung der Parteienbündnisse im bürgerlichen wie im linken Lager, eine de facto Ohnmacht von Nationalversammlung und Senat im politischen Entscheidungsprozess;
- und schließlich eine Identitätskrise, die durch die Abstimmung zum Verfassungsvertrag zum Ausdruck gebracht wurde.
die französische Regierung hat sich für 2006 ehrgeizige Ziele gesteckt – eine reformorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik angepasst an die Bedürfnisse der Bevölkerung (insbesondere die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit) und die Wahrung der Interessen Frankreichs in der EU. Es bleibt allerdings zu befürchten, dass die persönlichen Rivalitäten und Divergenzen im Hinblick auf 2007 die politisch inhaltlichen Felder und Problembereiche überlagern und somit eine erfolgreiche Reformpolitik paralysieren.
Die aktuellen Ereignisse in den Pariser Vororten bringen den Ernst der Lage zum Ausdruck und tragen möglicherweise dazu bei, persönliche Rivalitäten der politischen Entscheidungsträger beiseite zu schieben und ergebnisorientierte Lösungen zu erarbeiten. Der französische Staatspräsident hat gestern eindringlich appelliert, alles dafür zu tun, dass sich die Gemüter beruhigen und eine Lösung auf der Basis von Dialog und Respekt gefunden wird, um der politischen Polemik der letzten Tage ein Ende zu bereiten. De Villepin hat alle anstehenden Auslandsreisen abgesagt und vor der Nationalversammlung einen „Aktionsplan“ für die Probleme in den Banlieues angekündigt – auch hier wird er auf die Unterstützung durch Sarkozy angewiesen sein: Premierminister und Innenminister stehen vor einer weiteren Bewährungsprobe.