Country reports
Ob Präsident Fox nach seiner Rede den Kongress mit dem gleichen Optimismus verließ, den er verbreiten wollte, ist fraglich. Zwar belegte er mit Zahlen die Erfolge seiner Regierung und die Fortschritte Mexikos in den Bereichen Wirtschaft, Innere Sicherheit, Armutsbekämpfung, Wohnungsbau und Sozialwesen. Diese Bilanz kann sich trotz aller Kritik und von Fox selbst eingestandenen Unzulänglichkeiten sehen lassen: Im laufenden Jahr wächst die Wirtschaft um etwa vier Prozent, die Regierung hat die Staatsschulden im Ausland kontinuierlich abgebaut, der Haushaltsposten zur Überwindung der Armut stieg um rund 45 Prozent an, von 2000 bis 2002 sei die Armut um 16 Prozent zurückgegangen. Fox hob die Investitionen seiner Regierung in Bildungswesen, Wohnungsbau und öffentliche Sicherheit hervor, pries die errungenen Fortschritte bei der Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Reformvorhaben seiner Regierung in den Bereichen Energie, Steuern und Arbeitsrecht sprach der Präsident dagegen nicht an. Bislang scheiterten diese nicht zuletzt an der starren Haltung der Opposition, die im Kongress die Mehrheit stellt. Die in den letzten vier Jahren gelegten Fundamente, so Fox, seien gute Voraussetzungen für die nächsten zwei Jahre, so sein implizites Angebot zur Kooperation.
Bei den Oppositionsfraktionen PRI und PRD stieß die Initiative des Präsidenten jedoch auf massive Ablehnung. Die Sitzung verlief am Rande des Tumults. Abgeordnete von PRI und PRD störten mit Sprechchören, Zwischenrufen und Plakaten den Ablauf der Sitzung. Besonders vehement nutzten die PRD-Abgeordneten den Anlass, um ihre Unterstützung des Oberbürgermeisters von Mexiko Stadt, Andrés Manuel López Obrador, zu demonstrieren. Dieser ist einer der erbittertsten Gegner der Zentralregierung – nicht zuletzt wegen des laufenden Verfahrens zur Aufhebung seiner Immunität. Der juristische Vorwurf: Er soll als Bürgermeister eine richterliche Entscheidung missachtet haben. Da ein Gerichtsverfahren gegen López Obrador, im Volksmund „AMLO“ genannt, das Aus für dessen Präsidentschaftskandidatur 2006 bedeuten würde, kämpft er mit allen, auch populistischen Mitteln gegen dieses Verfahren. Insbesondere die PRD-, aber auch die PRI-Abgeordneten gingen mit dem Staatspräsidenten daher wenig respektvoll um: „Lügner“, „Pinocchio“ und „Foxiland“ lauteten die Zwischenrufe, gegen die selbst der Präsident des Abgeordnetenkongresses, Manlio Fabio Beltrones von der PRI, trotz zwölfmaligem Ermahnens machtlos war. Die Zeitungen rechneten anschließend minutiös auf: 21 Störungen durch Abgeordnete im Parlament. Ihren Höhepunkt fand die Ablehnung des Präsidenten seitens der Opposition am Ende der Rede, als die Abgeordneten von PRD und PRI dem Präsidenten demonstrativ den Rücken zuwandten. In seiner sich an Fox’ Auftritt anschließenden Rede übte Beltrones Kritik an der Regierung, rief jedoch auch eindringlich zu Dialogbereitschaft und – ebenfalls – einem „Waffenstillstand“ auf.
Als eine „Sternstunde“ des mexikanischen Parlamentarismus wird wohl niemand diesen 1. September bezeichnen. Der Patriotismus der mexikanischen Abgeordneten zeigte sich zwar am Ende, als alle Volkvertreter die Hand an die Brust legten, um die Nationalhymne anzustimmen. Bis zur Beachtung des Parlamentsreglements ging die Vaterlandsliebe jedoch nicht. Dieses untersagt Zwischenrufe und Störungen während der Präsidentenrede zur Lage der Nation. Manche Stimmen werteten die Geschehnisse im Kongress anschließend als Zeichen eines „Fiebers“, an dem das Land leide, einer fortgeschrittenen Auflösung der Gesellschaft und ihrer Institutionen, in der sich die Unordnung sogar in Gewalt verwandeln könne.
Die Lage auf der Straße kann diese These nicht wirklich entkräften. Nicht nur im sondern auch vor dem Parlamentsgebäude gab es Unruhen. Ein bislang zu einem Präsidialbericht nie da gewesenes Aufgebot von 4000 Polizisten sperrte das Parlament mit Metallzäunen und Barrikaden ab. Auch Tränengas wurde eingesetzt, um die demonstrierenden Gewerkschaften und campesino-Verbände zu zerstreuen, die gedroht hatten, die Zeremonie im Kongresspalast zu stören. Zudem organisierte die Gewerkschaft des Gesundheitsdienstes (SNTSS) einen Streik in den Krankenhäusern Mexikos, nur Notdienste waren verfügbar. Am Tag zuvor hatten Gewerkschaften einen „Megamarsch“ organisiert, in dessen Rahmen Hunderttausende Demonstranten das Stadtzentrum lahmgelegt hatten. Die Tageszeitung „Reforma“ titelte daraufhin: „Die (Polizei-) Blockade rettet Fox, nicht seine Mahnungen“.
Die Frage ist nun: Wie geht es in den letzten beiden Jahren der Amtszeit Fox’, der gemäß der Verfassung nicht noch einmal antreten darf, weiter?
Ginge es nach den Meinungsumfragen, müsste der Präsident leichtes Spiel haben. Mit der Note 6,3 (theoretische Bestnote ist zehn) und einer Bevölkerungszustimmung von 54 Prozent für seine Politik hält er sich seit Monaten weit gehend stabil und vor dem Anführer der stärksten Oppositionspartei, PRI-Chef Roberto Madrazo. Doch mangels eigener Mehrheit im Parlament ist Fox darauf angewiesen, Stimmen des Oppositionslagers für seine Projekte zu gewinnen. Verschiedene Reformen – darunter die Öffnung des Energiemarktes für ausländisches Kapital – sind bereits an dieser Hürde gescheitert. Natürlich liegt auch bei der Regierung ein Teil der Verantwortung: Das Zusammenspiel zwischen dem Präsidenten und seiner eigenen Partei PAN ist nicht immer reibungslos. In der Kommunikation der Regierungsvorhaben werden mitunter Vorbehalte eher geschürt als beseitigt. Minister schießen mit internen Querelen quer und der Eindruck entsteht, der Regierung könnte eine klarere Linie nicht schaden.
Fox’ ärgster Hemmschuh bleibt jedoch die mangelnde parlamentarische Mehrheit. Und die ersten Reaktionen seine Rede gaben keinen Anlass für Hoffnungen, dass sich daran etwas ändern könne. PRI-Chef Madrazo kommentierte den Auftritt Fox’, der Präsident habe die Politik Mexikos gelähmt und in einen andauernden Konflikt geführt (wobei er mit keinem Wort die inneren Konflikte in der PRI erwähnte, die wochenlang ihrerseits die Politik gelähmt hatten). Leonel Godoy von der PRD drehte den Blockadespieß mit dem Vorwurf um, Präsident Fox sei unflexibel und nicht bereit, mit anderen politischen Kräften zusammenzuarbeiten. Dies zeuge von einem mangelnden politischen Pluralismus. Allein der PAN-Vorsitzende, Luis Felipe Bravo Mena, bewertete die Rede des Präsidenten positiv. Das Wort Waffenstillstand zeuge vom Willen des Präsidenten Fox, über alle Parteikonflikte hinweg die Interessen Mexikos voranzubringen.
Möglicherweise war das Angebot des Waffenstillstandes weitaus weniger als zunächst vermutet aus jener Not geboren, in die der Präsident bei seinem Auftritt vor dem Abgeordnetenkongress gekommen war. Der Terminus wurde in den Tagen nach der Rede immer wieder aufgegriffen. Santiago Creel, Innenminister und möglicher Präsidentschaftskandidat der PAN für 2006, äußerte die Bereitschaft, das „Unmögliche zu versuchen“, um eine Aussöhnung mit „AMLO“ zu erreichen. Auch der Vorsitzende der Bischofskonferenz der Katholischen Kirche, Bischof Martín Rábago, bat die Opposition, das Angebot des Präsidenten im Blick auf die Stabilisierung der mexikanischen Demokratie anzunehmen. Von Seiten der Privatindustrie wurde die populistische Politik López Obradors scharf verurteilt und eine Initiative gegen ihn angedroht. In PRD und PRI wurden immerhin Stimmen laut, man werde den Waffenstillstand annehmen und sei zum Dialog und zur Zusammenarbeit bereit. Versprechen würden zwar nicht gegeben, doch der Wille zum Kompromiss sei vorhanden.
Wie geht es also weiter? Der politische Handlungsspielraum von Staatspräsident Fox ist durch die bestehende innenpolitische Konstellation eingeschränkt. Schon vor rund einem Jahr brachte er die Frage seiner Nachfolge auf den Plan. Er ist mehr denn je auf die Unterstützung und Mitarbeit seiner politischen Gegner angewiesen. Und diese wurde ihm bislang meist verwehrt. Die Frage ist, ob es Fox gelingt, diesen Trend umzukehren. Eine Option, dies zu erreichen, sehen politische Beobachter in einem möglichen politischen Schachzug. Die Geschichte der PRI, die über 70 Jahre die Geschicke Mexikos bestimmt hatte, weist einige dunkle Flecken auf. Als dunkelster Fleck gilt der „Schmutzige Krieg“. Dieser fand in den Amtszeiten der PRI-Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz (1964-70) und Luis Echeverría Álvarez (1970-76) statt und bezieht sich insbesondere auf die blutige Unterdrückung der Studentenunruhen von 1968 (Massaker von Tlatelolco) sowie auf den Kampf gegen die Guerilla im Süden des Landes. Die Repressionen wurden von der berüchtigten Militärspezialeinheit „los Halcones“ (die Falken) ausgeführt. Ob die Staats- und Parteiführung nur Mitwisser oder auch Befehlsgeber war, ist bis heute nicht geklärt. Viele der heutigen Parteigrößen des PRI, u.a. Parteichef Madrazo, sind jedenfalls unter den damaligen Präsidenten in der Hierarchie aufgestiegen und haben bis heute keine klare Stellung zu dieser Frage bezogen.
Die juristische Klärung steht noch aus, das Verfahren befindet sich in der Schwebe. Sollten die Gerichte schweigen, könnte Fox die für diesen Fall angekündigte Einrichtung einer Wahrheitskommission als Faustpfand nutzen, um die PRI zur Kooperation „zu bewegen“. Auf der Straße heißt es mitunter, Fox, der sich die Demokratie auf die Fahnen geschrieben habe, müsse mehr „cabrón“ – sinngemäß: Mistkerl – sein, also in der Politik mit härteren Bandagen kämpfen. Doch das widerspricht dem demokratischen Anspruch, mit dem Fox angetreten war – und dem Appell zum Waffenstillstand. Die mexikanische Politik steht vor einem Dilemma: Regierung und Parlament müssten die dringend notwendigen Reformen initiieren, um Durchsetzungskraft zu demonstrieren und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik zu stärken. Stattdessen betreibt insbesondere die Kongressmehrheit eine Blockadepolitik, die der Konsolidierung der demokratischen Institutionen in Mexiko abträglich ist.