Country reports
Konflikt mit der Policia Metropolitana
Seit den Ereignissen im April ist insbesondere die Policía Metropolitana (PM) von Caracas ein Garant für den Schutz der Protestmärsche, welche die Opposition in regelmäßigen Abständen organisiert. Unterstellt ist sie dem Oberbürgermeister Alfredo Peña. Von einem Anhänger Chavez wandelte er sich zu einem seiner schärfsten Gegner. Durch diesen Schutz der PM trauten sich hunderttausende Gegner der Regierung Chavez auch nach dem 11. April wieder auf die Strasse, um gegen die Macher der bolivarianischen Revolution zu protestieren.
Daher überrascht es nicht, dass diese bewaffnete Polizeieinheit der Regierung Chavez ein Dorn im Auge ist. Dem Präsidenten schien die Zeit offensichtlich reif zum Handeln. In Caracas tauchten seit Anfang August immer wieder kleinere bewaffnete Gruppen auf, die Unruheherde produzierten. Vermutlich gezielt, suchten sie die direkte Auseinandersetzung der Policía Metropolitana.
Eine Gruppe, die sich selbst „Carapaica“ nennt, kündigte vermummt in einer Pressekonferenz ihren Kampf zur Selbstverteidigung des Stadtteils 23 de Enero im Osten von Caracas an. Sie provozierte kleinere Scharmützel und schoss auf Beamte der Policía Metropolitana, als diese versuchten, die Ordnung im Stadtteil wieder herzustellen. Es gibt Quellen, die behaupten, dass diese „Carapaicas“ eigentlich zu den Tupamaros gehören, einem radikalen bolivarianschen Zirkel, der aus Catia kommt. Andere Stimmen sagen, es handelt sich dabei um ehemalige Militärs, die beim Aufstand vom 04. Februar 1992 dabei waren und ihre Befehle direkt vom Innen- und Justizminister, Diosdado Cabello, entgegennehmen.
Auffällig war bei dem Aufeinandertreffen von Carapaicas und Policia Metropolitana, dass erst am Nachmittag die Guardia Nacional (der Regierung unterstellt) in das Geschehen eingriff und die Angriffe gegen die PM sofort darauf eingestellt wurden. Für die Regierung stand fest, dass die Policía Metropolitana an diesen Ausschreitungen schuld war und die Verantwortung für die Verletzten trug. Der Präsident selbst verhängte daraufhin ein Überflugverbot für die Hubschrauber der Policía Metropolitana und kündigte für den Fall, dass sich solche „Ausschreitungen“ wiederholten, noch drastischere Maßnahmen gegen die PM an.
Die Opposition war durch diese Aussage des Präsidenten in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Es hagelte Proteste, denn man befürchtete entweder die Auflösung der PM, die Überleitung der Befehlsgewalt in die Hände von „Chavistas“ bzw. in die des Innen- und Justizministeriums. In Caracas fanden zahlreiche Solidaritätskundgebungen für die PM statt. In einigen Fernsehkanäle sind seit diesen Ereignissen vermehrt Werbespots zu sehen, die die Wichtigkeit der PM für die Sicherheit in Caracas hervorheben.
Konflikt mit dem Obersten Gerichtshof
Eine weitere Aktion des Präsidenten Chavez, die das politische Klima dramatisch verschlechterte, war sein Verhalten gegenüber dem Obersten Gerichtshofe angesichts der Entscheidung über das Eröffnen eines Verfahrens gegen Angehörige des Militärs, die in die Ereignisse des 11. April 2002 verwickelt waren. In seiner 115. Fernsehsendung „Alo Presidente“ am 11. August 2002 fuhr der Präsident in bekannter Manier eine Verbalattacke gegen die Richter des Obersten Gerichtshofes. Er drohte dem Gerichtshof mit harten Vorgehensmaßnahmen bis hin zur Auflösung, falls die Richter nicht dem Vorschlag des Generalstaatsanwalts folgten, den Weg für eine Verfahrenseröffnung wegen Rebellion gegen die vier Militärs freizugeben.
Der Staatschef kündigte an, die Namen der Richter preiszugeben, die - seiner Meinung nach - Zahlungen von Angehörigen der Opposition erhielten. Mit seinen Drohungen gegen die Richter griff Chavez klar in die Unabhängigkeit des Gerichtshofes ein . Es wurde deutlich, wie sehr Chavez offensichtlich die Entscheidung der Richter fürchtete und mit Sicherheit stellt sich für ihn die Frage, was passiert, wenn diese Militärangehörigen wieder in ihre Kasernen zurückkehren.
Am Tag des Richterspruchs war die Situation in Caracas dramatisch und viele rechneten mit dem Schlimmsten. Chavez-Anhänger hatten zu Protesten vor dem Obersten Gerichtshofes aufgerufen. Vertreter des Oficialismo, wie die Abgeordneten Juan Barreto, Iris Varela und die Vertreterin der Circulos Bolivarianos, Lina Ron stachelten die Stimmung mit ihren Aufrufen an.
Varela beispielsweise forderte, dass das Volk bei einer „falschen“ Entscheidung von den Richtern die Niederlegung ihrer Ämter fordern sollte. Ron rief zur Einnahme des Obersten Gerichtshofes auf. Es gab viele Stimmen, die befürchteten, dass die Regierung erneute Ausschreitungen in der Stadt zum Anlass nehmen könnte, den Ausnahmezustand zu verhängen.
Als die Entscheidung von 11 zu 8 Stimmen (1 Richter war abwesend) gegen eine Verfahrenseröffnung gegen die vier Militärs verkündet wurde, kam es in der Nähe des Gerichtshofes sowie in Teilen der Innenstadt zu schweren Unruhen. Insgesamt wurden 15 Personen verletzt, drei davon (zwei Beamte der Guardia Nacional und 1 Kameramann des Fernsehsenders RCTV) durch Schusswaffen.
Der Entscheidung des Gerichtshofes folgend gab es am 11. April keinen Staatsstreich, sondern lediglich eine „Unterbrechung der verfassungsmäßigen Ordnung“. Diese wurde hervorgerufen durch die Tatsache, dass Präsident Chavez sein Amt „aufgab und zurücktrat, weil er es wollte“. Nach Ansicht des Gerichts haben die Militärs mit ihren öffentlichen Erklärungen sich nicht direkt gegen die Regierung aufgelehnt, sondern nur gegen den Befehl, den Notfallplan „Plan Avila“ in Kraft zu setzen. Nach ihrer Auffassung hätte er gegen den Schutz der Menschenrechte der Bevölkerung verstoßen und zu einem Massaker führen können. Angesichts dieser Auffassung des Gerichtes stellt sich natürlich die Frage, wer Venezuela eigentlich regiert, wenn die Richter von einem vollzogenen Rücktritt Chavez in ihrer Beurteilung ausgehen.
Präsident Chavez hat in seiner 116. Fernsehsendung am 18. August die Entscheidung der Richter heftig kritisiert und sie als absurd bezeichnet. Er forderte, dass die Nationalversammlung die Ernennung eines jeden einzelnen Richters aufgrund seines Verhaltens bei der Abstimmung überdenken und neu bewerten müsse.
Illegale Wahlkampfhilfe aus Spanien
In einem Interview mit dem Fernsehsender GLOBOVISION hat der einstige Ziehvater Chavez, Luis Miquilena, bestätigt, dass die Regierung illegale Wahlkampfspenden von der baskischen Banco Biscaya de Bilbao erhalten hat. Miquilena, der sich von Chavez getrennt hat und ehemalige Parteigänger der MVR zu der Fraktion SOLIDARIDAD zusammengefasst hat, gab zu, nicht nur Wahlkämpfe, sondern „auch noch viele andere Dinge“ mit diesem Geld aus Spanien finanziert zu haben. Präsident Chavez hat den Erhalt der Gelder bisher stets bestritten. Ein Anwalt aus Caracas hat wegen dieser Spendenzahlung ein Gerichtsverfahren gegen den Präsidenten angestrengt.
Katastrophale Wirtschaftslage
Die anhaltende politische Krise Venezuelas spielt sich vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Niedergangs des Landes ab: steigende Inflation, Arbeitskonflikte, Haushaltsdefizit, ansteigende Korruption und zunehmende Armut, die sich sicherlich durch die Anhebung der Mehrwertsteuer noch verschlimmern wird. Mit den Stimmen der Regierungspartei MVR wurde die Mehrwertsteuererhöhung am 15.08.2002 von 14,5 auf 16% beschlossen. Sie soll am 01. September in Kraft treten.
Präsident Chavez sprach in seiner Fernsehsendung „Alo Presidente“ immer noch davon, dass die wirtschaftliche Situation Venezuelas ermutigende Zeichen einer Erholung zeige und dass das zweite Halbjahr 2002 erfolgreicher verlaufen wird als die vorangegangenen 6 Monate.
Anlässlich des zweiten Jahrestages der Wiederwahl von Präsident Chavez wurden am 19. August vom Unternehmerverband FEDECAMARAS alarmierende Zahlen präsentiert: seit dem Regierungsantritt 1998 gingen allein in der verarbeitenden Industrie 165.997 von 526.997 Arbeitsplätzen verloren, von 11.539 Unternehmen meldeten 4.666 Bankrott an. Der Handelssektor verlor 400.000 Arbeitsplätze, der Umsatz brach um 60% ein.
Mit ein Grund dafür ist der Außenwertverlust der venezolanischen Währung Bolivar gegenüber dem Dollar um gut 77% zwischen Januar und Juli 2002. Die Inflation betrug im selben Zeitraum 17%.
Die Auswirkungen für den venezolanischen Durchschnittsbürger äußern sich in drastisch gestiegenen Preisen für Güter des täglichen Bedarfs, vor allem Lebensmittel. Schon seit einigen Wochen ist Sparsamkeit gleichbedeutend mit dem Verzicht selbst auf elementarste Lebensmittel. So ist z. B. der Brotabsatz im Juli 2002 um 30% eingebrochen.
Einziger Schutzanker für die Wirtschaft des Landes bleibt der in den letzten Wochen stark gestiegene Ölpreis. Alles in allem eine deprimierende Bilanz zum zweiten Jahrestag der Wiederwahl des Präsidenten, der sich allerdings in Caracas feiern ließ.