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Country reports

Bekannter Präsident – unbekanntes Parlament

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bolivien

Am 4. August 2002 gewann Gonzalo Sánchez de Lozada, ehemaliger Präsident Boliviens in den Jahren 1993 – 1997 und Kandidat der Mitte-Partei Movimiento Nacionalista Revolucionario, in einer gut 24stündigen Marathonsitzung des neu gewählten Kongresses die Stichwahl um das Präsidentenamt, das er am 6. August, dem Nationalfeiertag Bolivien, antritt.

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Die Stichwahl war notwendig geworden, da keiner der Präsidentschaftskandidaten in den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 30. Juni d.J. die absolute Mehrheit erreicht hatte. Die beiden erstplazierten Kandidaten, „Goni“ Sánchez de Lozada und Evo Morales, Anführer der Kokapflanzer im Chapare und angetreten für die Partei Movimiento al Socialismo, mussten sich daher, wie es die Verfassung vorschreibt, im Parlament einem weiteren Wahlgang stellen. Dabei galt es, die absolute Mehrheit, also mindestens 80 von 157 Stimmen, zu erringen. Sánchez de Lozada gewann mit 84 Stimmen, Morales erhielt 43 Stimmen, 26 Parlamentarier wählten ungültig ("votos nulos") und 2 enthielten sich ("votos en blanco").

Mit der Stichwahl endete ein Wahlprozess mit zahlreichen Überraschungen und komplizierten Koalitionsverhandlungen. Entgegen der wichtigsten Meinungsumfragen war es bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bolivien zu einem „Kopf-an-Kopf-Rennen“ zwischen Gonzálo Sánchez de Lozada, Evo Morales und dem Rechtspopulisten Manfred Reyes Villa von der Partei Nueva Fuerza Republicana (NFR) gekommen. Die komplette Auszählung der Stimmen, die mehrere Tage dauerte, wurde mit Spannung erwartet, da die Erstplatzierungen mehrmals im Verlauf der Auszählung wechselten. Am Ende gewann Gonzalo Sánchez de Lozada mit 22,46 Prozent der Stimmen, an zweiter Stelle lag Evo Morales mit 20,94 Prozent, und auf den dritten Platz kam Manfred Reyes Villa mit 20,91 Prozent (Die im gesamten Text genannten Zahlen bezüglich des Wahlergebnisses s. Website der Corte Nacional Electoral, www.cne.org.bo). Reyes Villa, ehemaliger Militär und viermal Bürgermeister von Cochabamba, hatte sich vor den Wahlen mehreren Umfragen zufolge schon als sicherer Sieger geglaubt; um so größer war die Enttäuschung, als er mit einem Unterschied von 721 Wählerstimmen sogar den zweiten Platz knapp verpasste.

Nach gut zwei Wochen Unsicherheit über die politische Zukunft des Landes unterzeichneten Sánchez de Lozada und Jaime Paz Zamora, Präsidentschaftskandidat und Anführer des sozialdemokratisch orientierten Movimiento de la Izquierda Revolucionaria (MIR), am 25. Juli eine Regierungsvereinbarung, die Sánchez de Lozada den Weg in die Präsidentschaft öffnete. Unterstützung erhält das Bündnis von den Parteien ADN (Acción Democrática Nacionalista) und UCS (Unión Cívica Solidaridad). Im Falle von ADN gilt die Unterstützung voraussichtlich nur für die Stichwahl um das Präsidentenamt.

Das Ergebnis im Überblick

In den Wahlen vom 30. Juni wurde über den Präsidenten, Vizepräsidenten, 27 Senatoren und 130 Abgeordnete abgestimmt. In der Verfassungsreform von 1994 / 95 waren nach deutschem Vorbild Listen- und Wahlkreisabgeordnete eingeführt worden: im oberen Streifen des Wahlzettels wird für den Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten, die Senatoren und die Listenabgeordneten gestimmt, im unteren Streifen für den Direktkandidaten im Wahlkreis.

Elf Parteien bzw. Parteiallianzen hatten sich zur Wahl gestellt. Das Endergebnis der Abstimmung (im oberen Teil des Wahlzettels abgegebene Stimmen) sieht im Überblick folgendermaßen aus (Angaben in Prozent):

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MNR Movimiento Nacionalista Revolucionario

MAS Movimiento al Socialismo

NFR Nueva Fuerza Republicana

MIR Movimiento de la Izquierda Revolucionaria

MIP Movimiento Indígena Pachakuti

UCS Unión Cívica Solidaridad

ADN Acción Democrática Nacionalista

LyJ Libertad y Justicia

PS Partido Socialista

MCC Movimiento Ciudadano para el Cambio

COND. Conciencia de Patria

Die Veränderungen im Vergleich zu den letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 1997 sind folgende (Angaben in Prozent)(Für die Wahlen von 1997 werden nur die Parteien berücksichtigt, die auch 2002 angetreten sind.):

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(MNR ging für die Wahlen von 2002 eine Allianz mit Movimiento Bolivia Libre (MBL) ein, MNR – Nueva Alianza. MBL hatte 1997 3,09 Prozent der Stimmen erzielt, wird in der Tabelle nicht berücksichtigt.)

(1997 - Zahlen der Parteien, die an den Wahlen 1997 teilgenommen haben, s. Corte Nacional Electoral, www.bolivian.com/cne/nal-r.html.)

Verhandlungen und "Zwangsheirat"

Entscheidend für die Stichwahl im Kongress war die Bildung einer Regierungskoalition. Unterschiedlichste Rechenbeispiele unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Zusammensetzung des Kongresses wurden direkt nach den Wahlen in den Medien vorgeführt. Auf Grund des kombinierten Verhältnis- und Mehrheitswahlrechts für Abgeordnete und Senatoren verfügt MNR über 47 Parlamentarier, MAS über 35.

Die Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus und im Senat ist folgende:

Sitzverteilung Senat (27 Senatoren)

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Sitzverteilung Abgeordnetenhaus (130 Abgeordnete)

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Direkt nach den Wahlen, als der Präsidentschaftskandidat des MAS noch auf dem dritten Platz zu liegen schien, verkündete Evo Morales, dass seine Partei auf jeden Fall in die Opposition gehen und für kein Regierungsbündnis zur Verfügung stehen werde. Als sich dann abzeichnete, dass er auf den zweiten Platz vorrücken würde und damit Staatspräsident werden könnte, beharrte er zunächst auf seiner Position, in die Opposition gehen zu wollen. Anscheinend war das gute Wahlergebnis für den MAS selbst eine so große Überraschung, dass Morales zunächst vor dem Amt des Staatspräsidenten zurückschreckte. Dann wurden jedoch Stimmen laut, die besagten, dass noch nie in der Geschichte Boliviens ein „Indígena“ so nah vor dem Ziel gestanden habe, Staatpräsident zu werden, und dass diese Möglichkeit unbedingt ergriffen werden müsste.

Evo Morales hatte zunächst ausgesagt, dass er als Präsident u.a. sofort die Zahlung sämtlicher Auslandsschulden einstellen, die Militärbasen im Chapare schließen und weiter Koka pflanzen und eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen würde. Mit diesen Inhalten war es allerdings schwierig für ihn, einen Bündnispartner zu finden, da allgemein die Einstellung der internationalen, besonders US-amerikanischen, Unterstützung für Bolivien befürchtet wurde. MAS blieb daher schließlich ohne Partner für eine Koalition.

Am 25. Juli unterzeichneten Gonzalo Sánchez de Lozada und Jaime Paz Zamora, Ex-Präsident Boliviens (1989 – 1993), ein Bündis, den „Plan Bolivia: Gobierno de Responsabilidad Nacional“ (Plan Bolivien: Regierung der nationalen Verantwortung) (Zum Inhalt des Plans s. weiter unten. Gesamter "Plan Bolivia" s. La Razón, 26. Juli 2002, S. A9.). Damit wurde eine Regierungskoalition zwischen MNR und MIR vereinbart. Da die persönliche Abneigung der beiden Parteichefs von MNR und MIR eine allgemein bekannte Tatsache ist und Sánchez de Lozada bei der Pressekonferenz zur Unterzeichnung der Koalitionsvereinbarung gesagt hatte, dass er in den Verhandlungen mit Jaime Paz nicht auf der Suche nach einer „wilden Ehe“ sondern nach einer Heirat gewesen sei, bezeichnete das Wochenblatt PULSO das Bündnis als „matrimomio de urgencia“ (Zwangsheirat) und zeigte auf dem Titelblatt eine Fotomontage mit „Goni“ als Bräutigam und Jaime Paz als Braut, deren Eheschließung vom US-amerikanischen Botschafter in Gestalt eines Priesters gesegnet wird.

Die Unterzeichnung des „Plan Bolivia“ beendete für den MNR die schwierige Suche nach einem Koalitionspartner. Nachdem der Nationale Wahlgerichtshof am 8. Juli das Ergebnis der gesamten Stimmenauszählung verkündet hatte, begannen sofort die Gespräche des MNR mit möglichen Bündnispartnern. Relativ schnell konnte sich die Partei der Unterstützung durch UCS und ADN (für die Präsidentenwahl) versichern, doch fehlte ein "großer" Bündnispartner. Der MNR suchte dann eine Verständigung mit dem MIR. Diese Partei verkündete jedoch am 11. Juli ihren Entschluss, weder den MNR- noch den MAS-Kandidaten zu unterstützen, sondern vielmehr am 6. August ungültig abzustimmen und anschließend mit anderen Sektoren der Opposition aus dem Parlament heraus zu regieren.

Darauf hin wurden Gespräche mit der NFR, dem im Wahlkampf so heftig attackierten Rivalen, aufgenommen und Kommissionen zu den wichtigsten Themen gebildet, die eine Vereinbarung erarbeiten sollten. Durch einen geschickten Schachzug von Jaime Paz wurde am 21. Juli das Scheitern der Verhandlungen wegen zu unterschiedlicher inhaltlicher Positionen verkündet. Die politische Unsicherheit wuchs angesichts der Aussicht auf eine Regierung ohne Mehrheit im Parlament. Die Kirche, Unternehmerverbände und die US-amerikanische Botschaft riefen nochmals zur Bildung einer mehrheitsfähigen Koalition auf. MNR und MIR verhandelten erneut – der Platz des Bündnispartners war ja nun wieder frei – und kamen schließlich zur Regierungsvereinbarung, dem zwölf Punkte umfassenden "Plan Bolivia".

Das neue Parlament: neue Gesichter, indigener und weiblicher

Rund 80 Prozent der Parlamentarier (123 von 157) sind neu gewählt, d.h. sind ganz neu im Amt oder waren zumindest nicht in der Legislaturperiode 1997 – 2002 im Parlament. Die überwiegende Mehrheit der neuen Parlamentarier sind zum allerersten Mal in dieser Funktion. Der Frauenanteil ist nun deutlich höher (18 Prozent) als im vorherigen Parlament (Senat: 4 Prozent, Abgeordnetenhaus: 10 Prozent). Der Anteil an Vertretern indigener und ländlicher Bevölkerungsgruppen ist sehr stark angestiegen. Am 24. Juli ergab sich bei der Übergabe der Akkreditierungen an die neuen Abgeordneten und Senatoren ein deutlich farbigeres Bild als sonst, da viele in ihrer traditionellen Kleidung erschienen. Auch neue Sprachen sind ins Parlament eingezogen, Aymara und Quechua, so dass in Zukunft die Sitzungen aller Wahrscheinlichkeit nach gedolmetscht werden.

Zum ersten Mal sind im Parlament Parteien mit einem bedeutenden Prozentsatz vertreten, die ländlich, kleinbäuerlich und indigen geprägt sind, MAS und MIP. Da gerade die Bewegungen der Kleinbauern und der Kokapflanzer, die in den Parteien MAS und MIP vertreten sind, in den letzten Jahren durch Protestaktionen auf sich aufmerksam gemacht haben, ist mit einer starken und unerbittlichen Opposition zu rechnen. Diese wird sich dabei voraussichtlich nicht nur auf das parlamentarische Geschehen beschränken, sondern kann sich auch auf Proteste außerhalb des Parlaments ausdehnen. Allgemein wird von einem repräsentativeren Parlament als in vorhergehenden Legislaturperioden gesprochen, da die verschiedenen Gruppen der bolivianischen Bevölkerung deutlich stärker als sonst vertreten sind.

Der „Plan Bolivia“: Perspektiven für die neue Regierung

Der „Plan Bolivia“, die Regierungsvereinbarung zwischen MNR und MIR, stellt eine knappe und allgemein gehaltene Synthese aus den Wahlprogrammen „Plan de Emergencia“ (MNR) nd „Plan Trabajo-Bolivia“(MIR) dar:

  1. Kampf gegen die Arbeitslosigkeit

  2. Erarbeitung einer staatspolitischen Linie zur Nutzung und Vermarktung der Gasvorkommen

  3. Überprüfung / Modifizierung der Privatisierungen, Auszahlung der Altersrente „Bonosol“

  4. Agrarentwicklung

  5. Verbesserung der Erziehung

  6. Umsetzung einer umfassenden Krankenversicherung

  7. Bau von Sozialwohnungen

  8. Bekämpfung der Korruption

  9. Verfassungsreform u.a. mit Einführung einer Volksabstimmung

  10. Integration der indigenen Bevölkerung

  11. Gleichberechtigung von Frauen, Jugendlichen und Senioren

  12. Förderung der einheimischen Kultur.

Die MNR-MIR-Koalition hat zwar mit Hilfe der UCS im Abgeordnetenhaus und im Senat die absolute Mehrheit. Für bestimmte Entscheidungen ist allerdings eine Zweidrittel-Mehrheit nötig. Die Regierung wird also auf eine Zusammenarbeit mit der Opposition angewiesen sein.

Die neue Regierung wird eine Vielzahl von wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu lösen haben. Eine starke Regierungskoalition und effiziente Maßnahmen sind dringend notwendig, denn die Unzufriedenheit und die Erwartungen der Bevölkerung sind groß. Eine dringende Aufgabe im Verhältnis der Regierung zu verschiedenen sozialen Gruppen wird sein, aus dem Teufelskreis von Protestaktionen – Versprechen – Nicht-Einhaltung von Versprechen – neue Protestaktionen auszubrechen und zu einem konstruktiven Politikstil zu kommen.

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Susanne Käss

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