Country reports
Vorgeschichte
Sämtliche demoskopischen Untersuchungen ergaben bislang, dass beim kommenden Urnengang einerseits die UDK-VDK und andererseits die BSP erneut - wie stets seit der ersten freien Wahl 1990 - die Hauptkontrahenten sein würden. Das bulgarische Parteiensystem hebt sich in gewisser Weise wohltuend von dem anderer osteuropäischer Reformstaaten ab. Es hat sich in den vergangenen 11 Jahren als erstaunlich stabil erwiesen und erinnert zumindest äußerlich mit der UDK, der BSP und der kleineren BRF sehr an westeuropäische Modelle mit Konzentration der Stimmen in verhältnismäßig wenigen großen und größeren Formationen. In vielen osteuropäischen Ländern lösten sich die antikommunistischen Allianzen zu früh auf, während die Nachfolgerinnen der kommunistischen Staatsparteien stärker als die Sozialdemokraten sind und dauerhafte Positionen im linken Spektrum einnehmen. Das Spektrum rechts der Mitte ist dort häufig fragmentiert, während in Bulgarien die UDK bisher keine ernstzunehmenden Kontrahenten in diesem Teil des Koordinatensystems hatte.
Am 6.4.2001 kündigte der bislang in Spanien lebende bulgarische Monarch Simeon II offiziell seine aktive Teilnahme an der bulgarischen Politik und insbesondere an den am 17. Juni bevorstehenden Parlamentswahlen an. Seine Erklärung war seit längerem erwartet worden, nachdem er bereits zu Jahresbeginn seine Absicht bekundet hatte, bald unmittelbar in die politischen Geschehnisse im Lande eingreifen zu wollen.
Die in der Residenz Vranja bei Sofia verlesene Ansprache war in recht allgemeinem Ton gehalten, nichtsdestoweniger ermöglicht eine aufmerksame Analyse des Textes gewisse Rückschlüsse über seine Absichten, die vorerst dennoch in vielen Punkten vage und spekulativ bleiben müssen. Darin sprach sich Simeon für eine
- rasche Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung innerhalb von 800 Tagen aus,
- für einen Wandel im politischen Systems des Landes,
- gegen das "Partisanentum" und gegen die Korruption.
In der Folge konzentrierte sich die öffentliche Meinung vor allem auf die gerichtliche Eintragung der Bewegung. Simeon hatte wiederholt betont, an den Parlamentswahlen nur mit der Bewegung "Simeon II" und nicht mit einer Parteienkoalition oder mit der Registrierung einer bereits eingetragenen Partei, was auch möglich wäre, teilnehmen zu wollen.
Mit einem Beschluss vom 23. April beschied das Gericht den Antrag der Nationalen Bewegung Simeon II in das Parteienregister eingetragen zu werden, abschlägig. Man hatte in den Unterlagen der Bewegung neun gravierende Verstöße gegen das Gesetz über die politischen Parteien sowie gegen das Gesetz über die nichtkommerziellen juristischen Personen festgestellt.
Die Weigerung des Gerichts, die Bewegung zu registrieren, war etwas überraschend, aber nicht ganz unerwartet. Noch bevor die Unterlagen eingereicht wurden, waren viele Juristen der Ansicht, dass das Verfahren in Anbetracht der Wahlen im Juni viel zu spät komme. Die Registrierung einer Partei nimmt in Bulgarien erfahrungsgemäß mehrere Monate bis zu einem Jahr (!) in Anspruch. Insofern genoss die Bewegung Simeons zweifellos eine außerordentliche Vorzugsbehandlung, denn es ist noch nie über die Registrierung einer Partei in einem so kurzen Zeitraum befunden worden. Darüber hinaus wurden von Anfang an schwere juristische Bedenken gegen die Satzung der Partei von juristischem Standpunkt aus angemeldet. Darin wird der Vorsitzende, also Simeon, mit einer nahezu unumschränkten Machtfülle ausgestattet, die den demokratischen Prinzipien zuwiderläuft.
Nach Bekanntwerden des Gerichtsbeschlusses änderte Simeon seine Meinung und gab an, mit einer Koalition aus zwei völlig unbekannten Splittergruppen - einer Frauenpartei und einer nationalpatriotischen Bewegung - an den Wahlen teilnehmen zu wollen. Unterdessen verzeichneten die Umfragewerte für ihn und seine Bewegung einen unerhörten Höhenflug. Sie lagen zuletzt je nach Institut bei 28-35-40 und mehr Prozent (!), während die VDK und BSP weit abgeschlagen mit ca. 18-20 bzw. 15-17% auf Platz zwei und drei landeten.
Der Einstieg eines Monarchen in die aktive Politik dürfte einen Präzedenzfall in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verkörpern und mutet in der Tat ziemlich exotisch an. Allerdings werfen Simeons Verhalten, die Programmatik seiner Partei sowie die Persönlichkeiten, mit denen er seine Absichten umzusetzen gedenkt, weitaus mehr Fragen auf als sie beantworten.
Es ist eine Tatsache, dass sehr viel um diese Bewegung in Dunkel gehüllt ist und sie in mancher Hinsicht fast konspirativ agiert. Die nach außen dringende Information ist spärlich und widersprüchlich. Kaum etwas zur Klarheit hat Simeon selbst in mehreren Rundfunk- und Fernsehinterviews beigetragen. Er äußerte sich außerordentlich reserviert, zweideutig oder einfach nichtssagend.
Er gab an, über ein konkretes Programm sowie über geeignete Personen für seine Verwirklichung zu verfügen, von denen die Öffentlichkeit "beizeiten" Kenntnis erhalten würde. Lediglich zu einer Fragestellung hat er bisher eine deutlichere Position bezogen: Simeon steht einer bulgarischen NATO-Mitgliedschaft, wie sie nach letzten Signalen aus Westeuropa und vor allem aus Washington zu urteilen im Jahre 2002 sehr wahrscheinlich ist - zumindest nicht freundlich und eigentlich eher ablehnend gegenüber. Das erscheint sehr befremdlich, denn unter allen bulgarischen politischen Parteien, einschließlich der lange Zeit NATO-skeptischen BSP, herrscht mittlerweile Konsens über einen Beitritt des Landes zum Nordatlantischen Pakt.
Die Analyse
Simeons politischer Aufruf ist offenkundig nicht so sehr an die authentisch monarchistische Wählerschaft, eher an ein objektiv aufgrund der Reformhärten in Osteuropa allgemein vorhandenes Protestpotential gerichtet, das sich im Falle Bulgariens vorwiegend auf diverse kleine Formationen, die peripheren Anhänger der großen Parteien sowie teilweise auf die Nichtwähler verteilt.
Die Wählerschaft der Bewegung dürfte sich hauptsächlich aus derartigen Anhängern bisheriger kleiner Anti-Establishment-Parteien, enttäuschter Anhänger der VDK, aber auch der BSP oder zur Stimmenthaltung neigender Wähler rekrutieren und daher einen sehr heterogenen, amorphen Charakter tragen. Die Auswirkungen auf die treue Wählerschaft der großen Parteien werden vermutlich weniger dramatisch ausfallen. Ein weiterer Faktor, der zugunsten der Königspartei wirkt, ist der Umstand, dass nach Erhebungen der EU rund 80% der Medien in Bulgarien regierungskritisch bis regierungsfeindlich eingestellt sind. Sie haben in den vergangenen vier Jahren das Kabinett Kostov an allen Fronten nahezu pausenlos attackiert und mit häufig unbewiesenen Korruptionsvorwürfen die VDK im besonderen, aber auch die politische Klasse in Bulgarien insgesamt einem Delegitimierungsprozess unterworfen.
Simeon scheint in den Augen vieler unzufriedener Wähler der "starke Mann" zu sein, der mit Korruption, Vetternwirtschaft usw. aufräumen und das Leben für die kleinen Leute, die "Erniedrigten und Beleidigten", erträglicher gestalten kann. Dass er sich bisher nicht konkret geäußert hat, trägt gerade zu seiner Popularität bei, denn jeder kann so seine Wünsche und Hoffnungen in ihn hineinprojizieren. Insofern kann seine Absichtserklärung zunächst als klassischer populistischer Aufruf eines charismatischen Führers aufgefasst werden, zumal Simeons persönliche Zustimmungsrate in Umfragen stets sehr hoch und nur mit derjenigen von Staatspräsident Stojanov vergleichbar ist. In diesem Sinne ist auch seine Zusage zu sehen, innerhalb von 800 Tagen eine grundlegenden wirtschaftlichen Wandel im Lande zu erreichen, die ernsthafte Ökonomen kaum teilen würden.
Vertreter der BSP erklärten, dass es keine prinzipiellen Differenzen zwischen den Plattformen der Sozialisten und Simeons gebe. Eine Zusammenarbeit nach den Wahlen könne nicht ausgeschlossen werden. Hervorzuheben seien die Vorwürfe Simeons gegen die Korruption in der Politik, womit vorwiegend Kreise ein der regierenden UDK gemeint seien. Aus den Äußerungen mancher BSP-Politiker klang geradezu eine gewisse Schadenfreude in bezug auf die UDK heraus.
Diese Haltung muss zunächst befremden, denn die BSP als Nachfolgepartei der BKP gilt als die republikanische Kraft in Bulgarien schlechthin, die traditionell schärfste Kritiken an die Adresse der Dynastie richtet ("Monarchofaschisten") und unter allen Umständen an der republikanischen Regierungsform festhält. Sie müsste zudem über das Erscheinen einer weiteren oppositionellen Kraft, ganz gleich welchem Spektrum diese zuzuordnen ist, beunruhigt sein, da dies ihre Chancen auf ein gutes Abschneiden bei den Wahlen mindert.
Bei genauerem Hinsehen stellt es sich jedoch heraus, dass die Sozialisten handfeste pragmatische Gründe haben, das Vorhaben Simeons für eine aktive Partizipation an der Politik eher gelassen zu sehen. Die BSP geht wahrscheinlich davon aus, dass sie - trotz vollmundiger Ankündigungen über einen bevorstehenden Wahlsieg - verlorenes Vertrauen infolge der Misserfolge ihrer Regierungstätigkeit in der Vergangenheit vorerst nicht oder nicht in vollem Umfang wiederherstellen kann und auch bei diesem Urnengang analog 1997 vorwiegend auf ihre Stammwählerschaft angewiesen sein wird, die zwar fest zu ihr steht, jedoch für einen Wahlsieg nicht ausreichend ist. Ihr eigentliches Ziel dürfte vielmehr sein, eine UDK-VDK-Mehrheit zu verhindern, damit keine klaren Verhältnisse im Parlament herrschen und das Ergebnis eine schwache Koalitionsregierung ohne Profil ist. In diesem Sinne ist ihr die Bewegung keine Konkurrenz Simeons, so dass sie ihre Aktionen mit stillschweigendem Wohlwollen betrachtet
Simeons Ankündigung kann insoweit als eine Herausforderung in erster Linie an die UDK gewertet werden, denn seine Kritik an der Situation im Lande zielt selbstredend vornehmlich auf die Regierungsparteien. Andererseits sind gerade in der Wählerschaft der UDK als größter antikommunistischer Kraft traditionell viele Sympathisanten der Monarchie angesiedelt, in deren Augen Simeon eine hohe Wertschätzung genießt. Die UDK hatte sich infolgedessen lange Zeit Chancen auf eine offene Unterstützung durch Simeon bei Wahlen ausgerechnet und stets nach außen hin die besten Kontakte zum Monarchen gepflegt. Die Rückgabe seiner Besitztümer in Bulgarien erfolgte z.B. auf Betreiben der Regierungsmehrheit.
Der erste größere Riss in den bilateralen Beziehungen hatte sich 1997 angedeutet, als Simeon die VNR [4] und nicht die UDK unterstützte. Nun dürfte sich im Unionslager eine gewisse Enttäuschung, aber auch Sorge um die eventuelle Abwanderung von Sympathisanten zur Bewegung Simeons breit machen. Es gibt darüber hinaus guten Grund für die Annahme, daß eine Reihe der Persönlichkeiten, die in die neue Bewegung eingehen werden, der UDK alles andere als freundlich gesinnt sind.
Auf der letzten Nationalkonferenz der UDK am 5. und 6. Mai definierte der UDK-Vorsitzende Iwan Kostov die Bewegung Simeons als "elektoralen Konkurrenten" der Union. Der politische Gegner bleibe weiterhin die Sozialistische Partei.
Ohne Zweifel ist die UDK durch den Einstieg Simeons in die Politik bis zu einem gewissen Grade aus dem "Schlummer" gerissen worden, denn sie hatte in der von ideologischen und Flügelkämpfen zerrissenen BSP, die zudem 1990 und 1997 als Regierungspartei gescheitert war, keinen ganz ebenbürtigen Gegner. Kaum jemand zweifelte daher im Grunde ernsthaft am Wahlsieg der UDK innerhalb der Koalition VDK, die Meinungen gingen lediglich über die Höhe des Wahlerfolgs auseinander.
Konsequenzen und Ausblick
Beim gegenwärtigen Stand der Dinge ist keine verlässliche Voraussage über die Konstellation im nächsten Parlament möglich, da ein Gleichungssystem mit zu vielen Unbekannten zu lösen wäre. Eine Extrapolation der augenblicklichen Situation auf den 17. Juni liefe aller Wahrscheinlichkeit nach auf ein Parlament mit 3-4 Parteien vermutlich ohne absolute Mehrheit einer Partei / Koalition hinaus. Als sichere Teilnehmer an der nächsten Volksversammlung erscheinen demnach die VDK, die BSP, die Bewegung Simeons und vielleicht die BRF.
Unberechenbar ist freilich die Bewegung Simeons. Es ist nicht auszuschließen, dass sein rätselhaftes Schweigen eine bewusst gewählte Taktik ist, um die hohe Zustimmungsrate aufrechtzuerhalten. Manche Beobachter vergleichen sein Verhalten in dieser Hinsicht mit dem Wahlkampf Vladimir Putins und der Pro-Kreml-Partei "Edinstvo" in Russland, die ohne konkrete Programmatik ins Rennen gingen und möglicherweise gerade deswegen überzeugend abschnitten. Es ist jedoch fraglich, ob sich die russische Erfahrung ohne weiteres auf bulgarische Verhältnisse übertragen lässt.
Zunächst ist festzustellen, dass das bulgarische Parteiensystem durch diese Attacke zweifellos erschüttert worden ist und die Anzeichen von Nervosität unter den Parteiführern und -managern unverkennbar sind. Noch ist es nicht möglich zu sagen, ob Simeons spektakuläre Sympathiewerte schwankend oder aber dauerhaft sind. Es scheint einiges zugunsten der Hypothese zu sprechen, dass wir es eher mit einer relativ kurzzeitigen überschießenden emotionalen Reaktion zu tun haben könnten.
Ohne an den Umfragewerten Simeons zu zweifeln, sollte man jedoch die in den letzten 11 Jahren gewachsenen Parteibindungen nicht unterschätzen. Daher ist es nicht auszuschließen, dass sich die kurzfristig veränderten Einstellungen wieder auf ein quasi-Normalmass einpendeln. Das könnte u.U. früher der Fall sein als erwartet. Am 17. Mai beispielsweise müssen die Listenkandidaten für die Wahl bekannt gegeben werden, so dass Simeon konkreter werden muss.
Beobachter schließen nicht aus, dass sich dann erste Anzeichen von Ernüchterung ergeben könnten. Es ist nicht klar, inwieweit es Simeon gelingen kann, sein persönliches Charisma auf alle seine Kandidaten zu übertragen. Bereits jetzt sind Zweifel in Zusammenhang mit der Vorsitzenden der Frauenpartei, Wessela Draganova, mit deren Registrierung Simeon antritt, laut geworden. Sie hat sich als Mitglied der orthodox-marxistischen Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) herausgestellt!
Es gilt darüber hinaus zu bedenken, dass Simeons Bewegung in der kurzen Zeit bis zum Urnengang keine funktionierenden Strukturen im Lande aufzubauen imstande ist. Einen flächendeckenden Wahlkampf auf der Basis eines reinen Enthusiasmus ohne Grundorganisationen zu führen, wie es die Manager der Bewegung offenbar vorhaben, ist jedoch kein leichtes Unterfangen.
Eine Konsequenz aus der Betei ligung Simeons an den Wahlen dürfte die weitere Marginalisierung der kleinen außerparlamentarischen Parteien sein. Ihre Wählerschaft wird wahrscheinlich in hohem Maße von der Königsbewegung aufgesogen werden. Ebenso ist es denkbar, wenn auch nicht sicher, dass es zu einer überdurchschnittlich hohen Wahlbeteiligung kommt. Das neben einigen Zusatzfaktoren indessen könnte der türkischen BRF Probleme mit der 4%-Sperrklausel für den Einzug ins Parlament bereiten.
Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass bestimmte Passagen in der Erklärung Simeons als Vorhaben interpretiert werden können, über eine Beteiligung am Parlament und eventuell an der Regierung das politische System Bulgariens schrittweise in Richtung einer Monarchie umzudefinieren, von der noch nicht einmal sicher ist, dass sie rein konstitutionellen Charakter tragen soll. Das würde aber zu einer verstärkten Polarisierung in der Gesellschaft, möglicherweise einer Verlangsamung oder Änderung des eingeschlagenen Reformkurses führen und letztlich möglicherweise in eine allgemeine Destabilisierung münden. Das seinerseits wäre den bulgarischen Bemühungen um eine rasche euroatlantische Integration zweifellos abträglich. Daher ist die Teilnahme des Monarchen an der Politik in der von ihm gewählten Form dem Reformprozess eher hinderlich.
[1] UDK-VDK - Union der Demokratischen Kräfte - Vereinigte Demokratische Kräfte (derzeitige Regierungskoalition).
[2] BSP - Bulgarische Sozialistische Partei (Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei).
[3] BRF - Bewegung für Rechte und Freiheiten (Partei der türkischen Minderheit).
[4] VNR - Vereinigung für Nationale Rettung (Zusammenschluss von BRF und weiteren Kreisen).