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„Man darf die Vergangenheit nicht verdrängen, sondern sollte aus ihr lernen“, erklärte der Bundeskanzler am Freitag in Prag. Die Vergangenheit dürfe aber nicht die Zukunft verbauen, fügte er hinzu. Er unterstrich, dass die „Irritationen“ nun ausgeräumt wären und das Verhältnis zwischen beiden Ländern „nach vorn gerichtet“ sei.
Mit Staatspräsident Václav Klaus und Ministerpräsident Vladimír Špidla (ČSSD) sprach er hauptsächlich über den Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Schröder warnte nachdrücklich vor einem „Aufschnüren“ des „Kompromisspakets“. Der Erweiterungsprozess der EU dürfe nicht gefährdet werden, so der Bundeskanzler.
Kurz vor der Reise des Bundeskanzlers nach Prag sprach auch der deutsche Außenminister das EU-Thema an. Ende August 2003 besuchte Außenminister Fischer die tschechische Metropole für einen Tag und konferierte u.a. mit seinem Amtskollegen Cyril Svoboda (KDU-ČSL). Der deutsche Außenminister äußerte sich auch zum „Zentrum gegen Vertreibungen“ und wies auf den Zusammenhang zwischen nationalsozialistischer Machtergreifung und den Nachkriegsereignissen hin.
Es gehe, so Fischer, nicht um Vertreibung, sondern in Wahrheit um deutsche Selbstzerstörung. Die Erklärung von Fischer wurde von dem Bundesvorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt MdEP, als Verbiegung der geschichtlichen Wahrheiten scharf kritisiert. Fischer stärke damit „…die ewig gestrigen in Prag und fällt jenen Tschechen in den Rücken, die sich um eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit bemühen“, so die Presseerklärung von Posselt vom 27.08.2003.
Im Mittelpunkt des Treffens der beiden Außenminister stand jedoch der EU-Verfassungsentwurf. In einigen kritischen Punkten vertritt Tschechien eine andere Meinung als die deutsche Seite. So plädiert Svoboda für eine Stärkung der kleineren und mittleren Staaten. Fischer hielt dem entgegen, dass es in der erweiterten EU eine Mehrheit der kleinen Staaten geben werde, aber in nur sechs Ländern 80% der EU-Bevölkerung leben würden.
In diesem Zusammenhang wurde in Berlin auch die gemeinsame Initiative des tschechischen Ministerpräsidenten und des österreichischen Kanzlers sehr skeptisch beurteilt, die Vertreter von 15 kleineren und mittleren EU-Mitglied- und Beitrittsländern nach Prag einzuladen, um eine Abstimmung des Vorgehens hinsichtlich der künftigen EU-Verfassung im Rahmen der nächsten Regierungskonferenz in Rom vorzunehmen.
Fischer hatte bei seinem Besuch davor gewarnt, das vom Konvent ausgehandelte Paket aufzuschnüren. Das Treffen am 1. September 2003 in Prag, das dann letztlich doch ohne die Vertreter der Benelux-Staaten stattfand, diente aber in erster Linie nur dem Informationsaustausch, konkrete Ergebnisse wurde nicht vereinbart.
Auf das Thema eines europäischen Verfassungsentwurfes kamen auch Bundeskanzler Schröder und Ministerpräsident Špidla zu sprechen. Vladimír Špidla sieht ebenfalls noch Klärungsbedarf bei der Frage „ein Land, ein Kommissar“, will aber mit „Rücksicht auf das Gesamtinteresse ergebnisorientiert verhandeln“.
Staatspräsident Klaus sagte nach dem Gespräch mit Schröder, dass er das Verhältnis zwischen größeren und kleineren Ländern nicht als grundsätzliches Problem der EU-Erweiterung an sehe. Gegenüber Senatspräsident Petr Pithart versprach Schröder, die maximal sieben Jahre Übergangsfrist für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten im Jahre 2006 zu überprüfen. Pithart äußerte gegenüber dem Bundeskanzler, dass viele Tschechen diese Frist als „Diskriminierung“ auffassen würden.
In Anwesenheit von Vladimír Špidla zeichneten tschechische Opferverbände den Bundeskanzler für seine Verdienste hinsichtlich der Entschädigung von etwa 75.000 tschechischen NS-Zwangsarbeitern mit einer Bronzeplakette aus. Von der Bundesstiftung erhält Tschechien rund 216,5 Millionen Euro (Gesamtsumme fünf Milliarden Euro). Schröder äußerte, er sei „gerührt“ von der ihm zuteil gewordenen Ehrung. Mit der Entschädigung habe man den Betroffenen wenigstens etwas Genugtuung verschafft, wenn auch ihr Leid nicht zu mindern sei, so Schröder. Ministerpräsident Špidla bezeichnete das aktuelle deutsch-tschechische Verhältnis als das beste in der gemeinsamen langen Geschichte.
Über das umstrittene „Zentrum gegen Vertreibungen“ wurde nur am Rande gesprochen. Der tschechische Ministerpräsident schlug vor, dies in einem neutralen Land, wie etwa Schweden, einzurichten. Zur Frage einer humanitären Geste Tschechiens gegenüber den Sudetendeutschen sprach der Bundeskanzler von „Anzeichen“ auf der tschechischen Seite.
Tschechische Pressereaktionen über den Kanzlerbesuch
Für die großen Tageszeitungen Tschechiens war der Kanzlerbesuch das Hauptthema auf den Titelseiten. Eine ausführliche Berichterstattung wurde durch Kommentare ergänzt:
Mit einiger Skepsis kommentiert die auflagenstärkste Tageszeitung Tschechiens, „Mladá Fronta Dnes“ (6.9.2003), die optimistische Botschaft von Bundeskanzler Schröder und des tschechischen Ministerpräsidenten, die deutsch-tschechischen Beziehungen seien auf dem höchsten Niveau ihrer langjährigen Geschichte. Eine „Idylle“ würde zwischen den beiden Ländern keineswegs bestehen. Vor allem sei es an der Zeit, über die Fragen der Vergangenheit „offen und aufrichtig“ zu diskutieren. „Ja muss ja bedeuten und nein nein“, forderte der Kommentator.
Die Tageszeitung „Lidové Noviny“ (6.9.2003) wiederum unterstrich, dass das erreichte Niveau der bilateralen Beziehungen nicht ein Verdienst der Spitzenpolitiker sei, sondern viel mehr Ergebnis unzähliger Partnerschaften von Städten, Gemeinden und Vereinen sowie der hervorragenden wirtschaftlichen Beziehungen.
Die linke Tageszeitung „Právo“ (6.9.2003) stellt zufrieden fest, dass die „deutsch-tschechische Verstimmung“ überwunden sei.