Vor allem aus den Grenzregionen kam jedoch rasch ein frischer Schub, um bestehende Mechanismen der deutsch-französischen Zusammenarbeit zur Anwendung zu bringen und klare Kante gegen Euroskeptizimus und Nationalismus zu zeigen. Ziel muss es nun sein, die zahlreichen Handwerkzeuge, die insbesondere auf regionaler Ebene und in grenznahen Gebieten für ein gemeinsames Krisenmanagement bestehen, zu nutzen und klar zu kommunizieren. Die Corona-Krise ist in dieser Hinsicht auch eine Chance, deutsch-französische Initiativen anzustoßen und langfristig auszubauen.
Gesundheitliche Zusammenarbeit im Grenzgebiet
Der Bereich Gesundheit ist für die deutsch-französischen Beziehungen eines der konkreten Aktionsfelder, die im Aachener Vertrag für die effiziente Zusammenarbeit der Grenzregionen definiert wurden. Das Kapitel 4, Artikel 13.2 plädiert für „angemessene Kompetenzen, zweckgerichtete Mittel und beschleunigte Verfahren“, um „Hindernisse bei der Umsetzung grenzüberschreitender Vorhaben“ zu überwinden.
Die gegenwärtige Corona-Krise ist daher auch als Stresstest für den Aachener Vertrag zu werten. So stellt sich nachträglich etwa die Frage, wieso im Großraum Straßburg-Kehl keine gemeinsame Risikoeinschätzung vorgenommen und so zeitweise ein gemeinsames Krisenmanagement verhindert wurde: Nachdem die französische Region „Grand Est“ als Risikozone eingestuft worden war, die direkt angrenzenden deutschen Nachbarregionen jedoch nicht, stiegen die Spannungen auf beiden Seiten des Rheins. Entscheidungsträgern in Paris und Berlin war offenbar nicht bewusst, dass sich die Grenzgebiete schon längst als ein Ganzes versteht und entsprechende Potentiale nutzen könnten.
Dabei steckt das deutsch-französische Abkommen über grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich, das bereits 2007 in Kraft trat, die rechtlichen Rahmenbedingungen für mehr Effizienz in Elsass und Lothringen sowie in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland ab: Ziel ist es, eine schnellstmögliche notfallmedizinische Versorgung über die Grenze hinweg zu gewährleisten und die Gesundheitsinfrastruktur grenzübergreifend zu nutzen. Entsprechend enttäuschend war es, dass es nach der Grenzschließung am 16. März sechs Tage brauchte, bis das nur 60 km vom elsässischen Mülhausen entfernte Uni-Klinikum Freiburg die ersten französischen Patienten aufnahm.
Maßnahmen für Grenzgänger
Von der Grenzschließung waren insbesondere tausende Grenzgänger überrascht. Zum einen stellte sich für diejenigen, die nunmehr von zu Hause aus arbeiten, die Frage einer drohenden Doppelbesteuerung. Zum anderen musste für diejenigen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten oder nicht Telearbeit machen können, möglichst schnell die Frage des Grenzübertritts geklärt werden. Hierzu gehörten etwa auch rund 350 in Lothringen wohnende Ärzte und Pflegekräfte, die an Krankenhäusern im Saarland arbeiten.
Trotz der Irritationen über die einseitige Schließung von Grenzübergängen standen aber weder der Grenzübertritt von französischen Arbeitnehmern nach Deutschland noch die Steuerfrage im Kern zur Debatte. Nachdem anfangs unklar war, wie Arbeitnehmer die Grenze überqueren können, fand man rasch zu einer effizienten deutsch-französischen Zusammenarbeit zurück und schaffte konkrete Hilfestellungen. Für deutsch-französische Grenzgänger wurden zweisprachige Pendlerbescheinigungen ausgegeben. Längere Wartezeiten an den Grenzen und Umwege, die von Pendlern in Kauf genommen werden mussten, sorgten jedoch für deutliche Verstimmungen auf französischer Seite.
Nach den Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung dürfen die Grenzgänger nur eine begrenzte Zahl von Tagen außerhalb der Grenzen des Landes ihres Arbeitgebers arbeiten. Jeder weitere Arbeitstag über diese Toleranzschwelle wird damit im Wohnsitzland des Pendlers besteuert. In einem Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und der Schweiz konnte hier bereits am 19. März 2020 eine Lockerung der Toleranzschwelle erreicht werden.
Es ist aber zu betonen, dass die symbolische Wirkung von Grenzschließungen in einer Notsituation einen bitteren Nachgeschmack auf französischer Seite hinterlässt und hinsichtlich der bewährten Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich kontraproduktiv war
Aufnahme von Patienten aus dem Elsass in deutsche Krankenhäusern
Vor diesem Hintergrund war die Aufnahme von Patienten aus den überlasteten Krankenhäusern im Elsass nicht nur eine konkrete medizinische Hilfsleistung, sondern eine nicht zu unterschätzende Freundschaftsgeste mit hoher Symbolkraft.
Nachdem die Krankenhäuser im Département Haut-Rhin (südliches Elsass) ihre Kapazitätsgrenzen ausgeschöpft hatten und die ersten Patienten nach Südfrankreich ausgeflogen werden mussten, war es das angrenzende Baden-Württemberg, das sich am 21. März als erstes Bundesland zur Aufnahme von Patienten aus den Krankenhäusern von Mülhausen und Colmar bereit erklärte. Am 24. März wurden die ersten zehn Patienten per Hubschrauber in die Universitätskliniken Freiburg im Breisgau, Heidelberg, Mannheim und Ulm verlegt. Weitere freie Kapazitäten wurden in Stuttgart und Karlsruhe gemeldet.
Am 25. März kündigten dann auch das Saarland und Rheinland-Pfalz an, dass sie Patienten aus Frankreich aufnehmen würden. Die Länder der deutsch-französischen Grenzregion setzten hier wichtige Impulse für die Praxis deutsch-französischen Krisenmanagements, die inzwischen von weiteren Bundesländern wie Berlin, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Hamburg übernommen wurden. Auf viel mediales Interesse stieß auch der Einsatz der Bundeswehr, die am 28. März zum ersten Mal zwei französische Patienten mit dem Luftwaffen-Transportflugzeug A400M von Straßburg zum Bundeswehrkrankenhaus Ulm brachte.
Nach dem Handlungsvakuum der ersten Tage waren diese Patienten-Transporte sowie die begleitende mediale Kommunikation wichtige Signale für das deutsch-französische Tandem. Der Vorsitzender der Region „Grand Est“, Jean Rottner, und die Vorsitzende des Département Haut Rhin, Brigitte Klinkert, setzten mit Interviews und Beiträgen in den sozialen Medien wichtige Impulse in die deutschsprachige und französischsprachige Öffentlichkeit. Auch der Tweet von Verteidigungsministerin Florence Parly, „Nur ein Wort: Danke“, zeigt deutlich auf, das deutsch-französische Freundschaft nicht nur als Füllwort zu verstehen ist. Insgesamt hat Deutschland bisher 97 Patienten aus Frankreich aufgenommen (Stand 5. April 2020). Derzeit sind weitere 13 Betten für Patienten aus Frankreich vorreserviert.
Der auch bei Franzosen beliebte Europapark Rust und der Honorarkonsul Frankreichs in Freiburg in Breisgau haben 25.000 Regenponchos an das benachbarte Département „Haut Rhin“ gespendet, die als Schutzausrüstung für Krankenhauspersonal genutzt werden können. Hilfsleistungen sind auch derzeit keine Einbahnstraße. Die Rückführung von Geschäftsleuten, Studierenden und Urlaubern, wird zunehmend europäisch koordiniert. So wurden die Evakuierungen von EU-Bürgern aus Haiti und Madagaskar von den französischen Botschaften sichergestellt. Die französische Fluggesellschaft Air France ist gegenwärtig weltweit mit weiteren Rückholflügen befasst.
Kranker Mann Frankreich, Musterschüler Deutschland?
In Frankreich besteht reges Interesse am deutschen Krisenmanagement. Die in Deutschland beschlossenen Maßnahmen werden häufig als Referenznahmen genutzt. Selbst die links–populistische Partei La France insoumise, die üblicherweise keine Kritik an deutscher Politik und deutschen Politikern auslässt, zieht jetzt Deutschland als Vergleich heran, um auf vermeintliche Mängel der französischen Krisenführung hinzuweisen.
Im Mittelpunkt der Kritik steht neben der deutlich geringeren Anzahl an Tests auch der Kommunikationsstil der politischen Führung. Die deutsche Krisenkommunikation wurde von französischer Seite vielfach als transparenter und besser verständlich bewertet, auch wenn das zentralistische Frankreich die zeitaufwändigen Entscheidungsprozesse der deutschen Länder unter Moderation der Bundesregierung mit großem Erstaunen begegnete. Die Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. März wurde von vielen Franzosen als wohltuend pragmatisch und unaufgeregt wahrgenommen. Einen Tag zuvor hatte Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Ansprache an die Franzosen sechsmal die Formulierung „Nous sommes en guerre“ („Wir sind im Krieg“) verwendet.
Die französische Regierung hat seit Ende März eine deutliche Kehrtwende in der Kommunikationsstrategie vorgenommen: statt auf gleichermaßen frontale wie martialische TV-Ansprachen setzt sie jetzt auf ausführliche Pressekonferenzen, die sowohl Minister als auch Fachexperten einbezieht und Nachfragen erlaubt.
Bei den deutsch-französischen Beziehungen geht es jedoch nicht um einen Wettlauf um die bessere Kommunikation und das bessere Krisenmanagement. Durch eine kritische Evaluierung und den Austausch von Best-Practices kann das Tandem gestärkt aus der Krise gehen und als Impulsgeber für die gesamte Europäische Union agieren.
Einen solchen Impuls hat Staatspräsident Macron gesetzt. In einem Interview mit mehreren italienischen Tagezeitungen am 27. März verwies er auf deutsch-französische Hilfsleistungen an Italien in Form von 2 Millionen Masken. Über diese Unterstützung, so die Kritik des Staatspräsidenten, habe die italienische Regierung weniger gesprochen, als über die Hilfe aus Russland und Chinas. Am 6. April veröffentlichten Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und sein französischer Amtskollege Richard Ferrand eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Rolle der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der gegenwärtigen Krise würdigten.
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