Country reports
Premierminister Tony Blair und die Labourregierung zeigen sich mit dem Ergebnis und ihrer Verhandlungsstrategie zufrieden. Die immer wieder als "red lines" verkündeten und gezogenen unverrückbaren Positionen wurden verteidigt:
- Beibehaltung des Veto bei Steuern und Soziales, Grenzkontrollen, Budgetbeiträgen, Vertragsänderungen
- Stärkung des europäischen Verteidigungspfeilers innerhalb der NATO
- Verhinderung der Rechtsverbindlichkeit der "Fundamental Rights Charter"
- Akzeptanz institutioneller Reformen bei gleichzeitiger Stärkung des britischen Gewichtes
- Schaffung der notwendigen, aber auch nur dieser Voraussetzungen für die EU-Erweiterung.
Die oppositionellen Konservativen lehnen erwartungsgemäß den Kompromiss von Nizza ab und verstricken sich in den Widerspruch, einerseits die EU-Erweiterung zu fordern, andererseits nicht zu erkennen, dass bei einer Ablehnung durch das Unterhaus nach gewonnenen Wahlen die Erweiterung verhindert würde. William Hague fordert für die Annahme des Nizza-Vertragswerks ein Referendum. In der bescheidenen Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen (interpretiert als Einstieg in die Aufgabe des Veto), der deklaratorischen Annahme der Charter (interpretiert als Einstieg in eine europäische Verfassung), der Stärkung der europäischen Verteidigungsbereitschaft (interpretiert als Einstieg in eine europäische Armee) wird das Gespenst des europäischen Superstaates, den es mit allen Mitteln abzuwehren gilt, auch weiterhin auf den Klippen von Dover geortet.
Offensichtlich sind einige Tories die einzigen, die das Geschehen in Nizza nicht als eine von nationalen Interessen geprägte Veranstaltung erkennen wollen .
Deutschland und Kanzler Schröder werden in den Medien als Gewinner gesehen. Allerdings erinnern eine Reihe von Kommentatoren daran, dass die besonderen deutsch-französischen Beziehungen wie unter Adenauer und de Gaulle oder Kohl und Mitterrand von Schröder und Chirac und Jospin bisher nicht aufgebaut werden konnten. Die fehlende Feinabstimmung zwischen Deutschland und Frankreich wird als mitverantwortlich für den chaotischen und im Ergebnis mageren Verlauf des Gipfels angeführt. Es wird als richtige und kluge Entscheidung angesehen, auf einen höheren Stimmenanteil als Frankreich zu bestehen, gleichzeitig wird der französischen Position keinerlei Sympathie gezollt.
In der Beurteilung des Gipfeltreffens wird seitens der britischen Regierung ein besonderer Schwerpunkt auf der Verhandlungsmethodik und dem Verfahren gelegt. Premierminister Blair hatte in seiner Warschauer Rede bereits einige Vorschläge unterbreitet. Es kann davon ausgegangen werden, dass die in Pragmatismus und Effizienz geübten Briten einen weiteren "Nizzazirkus" nicht mehr mitmachen werden.
Einhellig wird in Großbritannien die Auffassung vertreten, dass nur mit Mühe eine akute Krise vermieden werden konnte und dass die schwierigen Aufgaben der Reform des Agrarmarktes, der EU-Finanzen oder der Kompetenzabgrenzung nach wie vor unerledigt in die Zukunft verschoben wurden. Daher wird heute mit umso größerem Verständnis nach erheblichen Bedenken und anfänglichem Zögern der deutsche Vorschlag angenommen, eine Folgekonferenz für 2004 vorzusehen.