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Die Diskussion um die Benes-Dekrete hat in den letzten Monaten eine neue politische Dimensionen erreicht. Bundeskanzler Schröder sagte einen geplanten Besuch in Tschechien ab. Auch auf dem EU-Gipfel in Barcelona kam es nicht zu einer Begegnung zwischen Schröder und dem tschechischen Ministerpräsident Milos Zeman (CSSD). Nicht nur innenpolitisch und in den bilateralen Beziehungen zu Deutschland und Österreich, sondern inzwischen auch auf europäischer Ebene sind die Präsidialdekrete ein wichtiges Thema geworden. Sowohl von internationaler als auch von tschechischer Seite wurden nun Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, die für Klarheit über den rechtlichen Sachstand sorgen sollen.
Ende Februar 2002 sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder seinen geplanten Tschechien-Besuch ab. Thema der Gespräche sollten der Beitritt Tschechiens zur EU sein. Offiziell wurde der Besuch mit der Begründung abgesagt, dass eine Konzentration der Gespräche auf die Beitrittsvorbereitungen am ehesten erreicht werden könne, wenn die Reise mit Rücksicht auf die Wahlkampfzeit in beiden Ländern zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden würde. Überraschend kam die Absage nicht. Bereits eine Woche zuvor wurde schon darüber in der Presse spekuliert.
So schrieb die linke Tageszeitung "Právo", dass Schröder "offensichtlich" nicht nach Prag kommen werde. Auch der ODS-Vorsitzende und Präsident des Abgeordnetenhauses, Prof. Václav Klaus, hatte auf einer Wahlveranstaltung geäußert, dass es "schlichtweg klar" sei, dass nach den "Ausbrüchen" von Ministerpräsident Zeman "Zweifel" an dem Besuch entstünden. Dabei hatte Klaus nur wenige Tage zuvor selbst die Diskussion zusätzlich angefacht, als er dazu aufforderte, die Befürchtungen besonders der im Grenzgebiet lebenden Tschechen dadurch abzubauen, dass in den EU-Beitrittsverträgen die bestehenden Rechts- und Eigentumsverhältnisse garantiert werden sollten.
Als provozierend für viele Deutsche und Tschechen wurden die Äußerungen des ODS-nahen Publizisten und Wissenschaftlers Miloslav Bednár während eines Rund-Tisch-Gesprächs anlässlich des 5. Jahrestages der Deutsch-Tschechischen Erklärung in Berlin aufgenommen. Unter der Leitung des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Christoph Zöpel, und des tschechischen Sonderbotschafters Otto Pick, beide Ko-Vorsitzende des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums, sollte in Berlin nicht nur die Arbeit der vergangenen Jahre analysiert, sondern auch die Zukunftsaussichten beurteilt werden.
Die schon im Vorfeld durch die Äußerungen von Zeman und Klaus empfindlich gestörten bilateralen Beziehungen, wurden durch Bednárs Anschuldigungen noch zusätzlich belastet. Er sprach von einer "Achse des Bösen", die in Mitteleuropa ihre Entsprechung fände. Gemeint war die Achse München-Wien-Budapest. Von ihr ginge eine Gefährdung des Friedens aus. Seine Partei würde diese Verschlechterung des Klimas sehr ernst nehmen. Die Bemerkungen des Vertreters der ODS entfachten eine lebhafte Diskussion. Leider gingen die Forderungen der jugendlichen Teilnehmer nach mehr Austauschprojekten mit Gleichaltrigen dadurch fast unter.
Auch auf europäischer Ebene ist diese Thematik Gegenstand vielfältiger Diskussionen. Der von EU-Kommissar Verheugen geäußerte Vorschlag, das 1991 verabschiedete tschechische Gesetz über die Eigentumsrückgabe zu korrigieren, falls es im Widerspruch zum geltenden EU-Recht stünde, wurde von den tschechischen Politikern fast einstimmig abgelehnt.
Jan Zahradil, Schattenaußenminister der ODS, erklärte dazu: "Die Rückgabegesetze können nicht Gegenstand von Verhandlungen mit der Europäischen Kommission oder der Beitrittsgespräche Tschechiens zur EU sein." Am Rande des EU-Gipfels in Barcelona trafen sich Ministerpräsident Milos Zeman und Günter Verheugen zu einem Gespräch, bei dem dieses Thema sowie die Benes-Dekrete diskutiert wurden.
In diesem Zusammenhang äußerte sich die tschechische Tageszeitung "Mladá Fronta Dnes" zum EU-Gipfel sehr kritisch und bemerkte zynisch, dass, wenn in Europa aus Worten Taten werden sollen, die Politiker "zurückschrecken". Europa würde im Wettstreit mit Amerika ohnehin nur "amerikanische Rezepte" anwenden, was beispielsweise den Verlust eines großen sozialen Netzes zur Folge hätte.
Auch auf innenpolitischer Ebene intensivierte sich die Diskussion um die Benes-Dekrete. Der Vorwahlkampf in Tschechien begünstigt dies. Und so proklamieren gegenwärtig sowohl die Sozialdemokraten (CSSD) als auch die ODS die Unantastbarkeit der Benes-Dekrete. Im Wahlkampf wollen beide so dokumentieren, dass sie die nationalen Interessen des Landes besser verteidigen können. Die Medien reagieren unterschiedlich: Die Tageszeitung "Mladá Fronta Dnes" kritisierte die tschechischen Politiker, dass sie "nicht einmal im Traum" bereit seien anzuerkennen, dass die Dekrete "ethnische Säuberungen zu einem Teil ihrer Rechtsordnung machen". Die Äußerung der österreichischen Vizekanzlerin, Benes sei ein "Genius des Bösen" gewesen, nahm die Tageszeitung "Právo" zum Anlass für polemische Kommentare: Es habe bereits viele gegeben, die mit Stellungnahmen über die mehr als 50 Jahre alten Benes-Dekrete ihr Image aufbessern wollten." Benes dient als Knüppel für jeden, der uns schlagen will", so wörtlich in der "Právo".
Gleich mehrere Rechtsgutachten werden nun über die Präsidialdekrete angefertigt. Der Außenpolitische Ausschuss des Europäischen Parlaments und auch das tschechische Außenministerium haben Aufträge dafür erteilt. Auch die Europäische Kommission bereitet eine Stellungnahme zu den Dekreten vor.
Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds hat beim Institut für Zeitgeschichte in München eine Analyse in Auftrag gegeben. Besorgt über diese bedauerliche Entwicklung zeigte sich die Deutsch-Tschechische Historiker-Kommission, die Mitte März 2002 in Berlin tagte und ihre Auffassung zu den Benes-Dekreten vorlegte. Sie ist besorgt über die missbräuchliche Verwendung historischer Argumente in der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung. Geschichte dürfe nicht in der Politik als Waffe gebraucht werden, lautet die Kernaussage der Stellungnahme. Die tschechische Regierung bereitet zurzeit ferner ein vergleichendes Rechtsgutachten vor, dass auf die Enteignung deutscher Bürger nach dem Zweiten Weltkrieg in anderen europäischen Ländern hinweisen soll.
Anfang März 2002 erklärte in Prag der Fraktionsvorsitzender der EVP/ED, Prof. Hans-Gert Pöttering, anlässlich der Vorstandssitzung der EVP/ED-Fraktion des Europäischen Parlaments, auf der abschließenden Pressekonferenz: "In der Europäischen Union darf es keine Diskriminierung geben". Sollte festgestellt werden, dass es in der Tat diskriminierende Elemente im tschechischen Rechtssystem gäbe, müssten diese noch vor einem EU-Beitritt unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung der "Kopenhagener Kriterien" aufgehoben werden. Die EVP/ED-Fraktion beabsichtigt, eine gemischte Arbeitsgruppe über mögliche unterschiedliche Rechtsauffassungen einzurichten.
Vertreter der "Koalition", Parteienbündnis aus Freiheitsunion - Demokratischer Union (US-DEU) und tschechischen Christdemokraten (KDU-CSL), begrüßen die Vorlage von Rechtsgutachten und sind bereit, falls es notwendig würde, auch entsprechende Korrekturen des tschechischen Rechtssystems zu unterstützen. Sie betonen, dass sie sich selbstverständlich der europäischen Werteorientierung und dem Rechtsverständnis verpflichtet fühlen. Auch die tschechischen Sozialdemokraten (CSSD) und die Bürgerliche Demokratische Partei (ODS) sind prinzipiell mit der Ausarbeitung von Rechtsgutachten durch das Europäische Parlament einverstanden.