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Country reports

Deutsch-Tschechische Beziehungen

by Frank Spengler, Petr Blazek
Nach dem positiven Verlauf des EU-Referendums nahm der tschechische Vize-Premierminister Petr Mareš (US-DEU) im Juni die Bearbeitung des Antrags der in Tschechien lebenden Minderheiten vom April 2003, der auch eine symbolischen Entschädigung von Mitgliedern der in Tschechien lebenden deutschen Minderheit beinhaltet, wieder auf. Die deutsche Volksgruppe wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in vielerlei Hinsicht diskriminiert, obwohl sie sich zu der damaligen Tschechoslowakei loyal verhielt und die Beneš-Dekrete für sie nicht hätten angewandt werden dürfen. Eine mögliche Entschädigung würde also nicht die vertriebenen Sudetendeutschen betreffen, es handelt sich dabei um eine reine innertschechische Angelegenheit. Das Kabinett sollte den von den Minderheiten in Tschechien vorgelegten Antrag am 30. Juni 2003 behandeln, die Angelegenheit wurde jedoch wieder einmal um zwei Wochen vertagt.

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Der Vize-Premierminister und Außenminister Cyril Svoboda (KDU-ČSL) äußerte sich zu dieser Initiative in einem Interview für die Tageszeitung „Mladá Fronta Dnes“: „Hier muss man immer wieder betonen, dass den Sudetendeutschen kein Eigentum zurückerstattet, noch eine Entschädigung geleistet wird. Andererseits müssen wir uns bewusst werden, dass hier Deutsche geblieben sind, die sich auf keiner Weise während der Okkupation schuldig gemacht haben, einige waren sogar in der antifaschistischen Bewegung aktiv. Trotzdem wurde an Ihnen Unrecht verübt. Diese Menschen - und es sind nur sehr wenige - ersuchen uns ihnen gegenüber um eine Geste. Was für eine Geste es sein wird, ist eine Frage der Diskussion. Ich wehre mich durchaus nicht gegen den Gedanken, dass man diese Menschen auf irgendeine Art entschädigt“ (MF Dnes, 30. Juni).

Der Bundesvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft Bernd Posselt MdEP bezeichnete das Bemühen von Petr Mareš als „einen positiven Schritt Prags, der die sudetendeutsch-tschechische Annäherung vorantreiben kann“ (Presseerklärung von B. Posselt vom 20. Juni 2003).

Im Rahmen einer kurzen Erklärung anlässlich des EU-Referendums vom 19. Juni bezeichnete die tschechische Regierung die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg als „aus der heutigen Sicht unannehmbare Ereignisse und Taten“, die „eine Reihe von menschlichen Tragödien, Leiden und Opfer brachten.“ Diese „dunklen Seiten der Geschichte Europas“ dürften jedoch nicht die Gegenwart belasten. Diese kurze und im Kern nicht über den Inhalt der „Deutsch-Tschechischen Erklärung von 1997“ hinausgehende Äußerung wurde in Deutschland und Österreich als „überraschend“ und „positiv“ aufgenommen.

Bernd Posselt MdEP begrüßte die Prager Regierungserklärung, „sofern dies ein Einstieg in einen unvoreingenommenen Dialog ist und nicht der Versuch, das Thema im Vorfeld des EU-Beitritts einfach abzuhacken“ (Presseerklärung von Bernd Posselt MdEP vom 20. Juni).

In einem Interview für die „Passauer Neue Presse“ vom 19. Juni 2003 bezeichnete Bundeskanzler Schröder die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Reaktion auf die vorhergehende Okkupation der ehemaligen Tschechoslowakei durch die Nazis: „Die Beneš-Dekrete haben natürlich mit der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei zu tun und sind die Reaktion darauf … Die Gründe für die Vertreibung stammen jedoch aus Deutschland, nicht aus anderen Staaten“ (Lidové Noviny, 20. Juni 2003). Der 1. stellv. Vorsitzende der ODS, Jan Zahradil, begrüßte die Stellungnahme des Bundeskanzlers in der gleichen Ausgabe von LN: „Ein bedeutender Teil der deutschen Führung wird sich der zeitlichen Abfolge bewusst - nämlich, dass zuerst die Okkupation stattfand und erst danach die tschechische Reaktion folgte.“

Am 20. Juni 2003 verabschiedete der Deutsche Bundesrat im Rahmen einer Erklärung zur EU-Erweiterung eine Resolution zu den deutsch-tschechischen Beziehungen. Die Länderkammer verwies darin auf die Resolution des Europäischen Parlaments vom Jahr 1999, in der die tschechische Regierung aufgefordert wurde, die Beneš-Dekrete aufzuheben.

Premierminister Vladimír Špidla (ČSSD) reagierte auf den Beschluss des Bundesrates gelassen: „Es geht um eine Forderung der CSU, die zusammen mit der CDU in der zweiten Kammer des Parlaments der Bundesrepublik Deutschland die Mehrheit hat. Diese Einstellung zu den Dekreten nehmen sie seit langem ein. Auf die Stellung der Tschechischen Republik hat dies keinen Einfluss“ (Právo, 21. Juni 2003).

Staatspräsident Václav Klaus war in seiner Reaktion auf die Entscheidung des Bundesrats weniger zurückhaltend. Er wies auf die in der Resolution des tschechischen Abgeordnetenhauses vom 24. April 2002 verankerte „Unbestreitbarkeit, Unantastbarkeit und Unveränderbarkeit der aus den Dekreten hervorgegangen Eigentumsverhältnissen“ hin. Mit Hinweis auf das Mitte Juni in Tschechien abgehaltene EU-Beitrittsreferendum erklärte er: „Der Bundesrat hätte seine Resolution noch vor dem tschechischen EU-Beitrittsreferendum verabschieden sollen, dies wäre sicherlich für die Bürger eine interessante Information gewesen“ (MF Dnes, 21. Juni 2003). Es wäre außerdem prüfenswert, ob eine solche Resolution nicht gegen die „Deutsch-Tschechische Erklärung vom 1997“ verstoße, in der sich beide Staaten verpflichteten, die gegenseitigen Beziehungen nicht durch die Vergangenheit zu belasten, fügte Präsident Klaus hinzu.

In seiner Ansprache im Rahmen des Europäischen Forums im österreichischen Göttweig am 29. Juni 2003 entschuldigte sich Premierminister Vladimír Špidla in Anwesenheit von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel indirekt auch bei den aus der ehemaligen Tschechoslowakei nach Österreich vertriebenen Deutschen für das im Rahmen der Nachkriegsereignisse zugefügte Leid. Bezug nehmend auf die „Deutsch-Tschechische Erklärung von 1997“ sagte er: „Hinsichtlich dieser Erklärung würde ich hier gerne betonen, dass die in ihr enthaltenen Worte des Beileids der tschechischen Seite sich im vollen Maße auch auf die ehemaligen deutschsprachigen Bürger der tschechischen Länder, die nach dem Krieg zu österreichischen Bürgern wurden, beziehen“ (Právo, 30. Juni 2003).

Špidla verurteilte die Nachkriegsvertreibung als „eine Art der Konfliktlösung, die im heutigen Europa keinen Platz mehr haben darf. Wir haben ein aufrichtiges Interesse, mit allen unseren Nachbarn ein friedliches Zusammenleben zu führen“ (ebd.). Was die Frage der Aufhebung der Beneš-Dekrete betrifft, fügte er jedoch hinzu: „Falls wir heute die moralische Verantwortung für manche Nachkriegsereignisse anerkennen, dürfen wir sie jedoch nicht mit der rechtlichen Ebene verwechseln. Aus der juristischen Perspektive geht es, wie auch die Ergebnisse der unabhängigen Analysen vom Vorjahr zeigten, um eine abgeschlossene Angelegenheit… In erster Linie ist es notwendig zu betonen, dass alle Eigentumsangelegenheiten für uns absolut abgeschlossen sind. Es kommt nicht in Frage, in diese Richtung zu denken... Die Kriegs- und Nachkriegslegislative stellt als ein Ganzes die Kontinuität der tschechischen Staatlichkeit in den Zeiten der nazistischen Okkupation dar“ (ebd.). „Das erste Mal hat ein tschechischer Premierminister auch Österreich in diesen Kontext eingeschlossen. Dafür will ich Ihnen, Herr Premierminister, danken“, reagierte Bundeskanzler Schüssel auf ŠpidlasWorte (ebd.).

Im Rahmen eines Interviews für die „Lidové Noviny“ vom 30. Juni 2003 kündigte der tschechische Kulturminister Pavel Dostál (ČSSD) als Reaktion auf mehrere für den tschechischen Staat wenig erfreuliche Restitutionsgerichtsverfahren an, dass er im Abgeordnetenhaus eine Debatte mit dem Ziel einer gesetzlichen Verankerung der Unveränderbarkeit der Enteignungen auf der Grundlage der Beneš-Dekrete einbringen wolle. Die Enteignungen sollten auch bei fälschlicher Anwendung rechtsgültig bleiben. Auf diese Weise solle die Tschechische Republik vor weiteren Restitutionsansprüchen geschützt werden.

Ausgangspunkt für die Initiative von Minister Dostál war eine für den tschechischen Staat negative Gerichtsentscheidung, der die Rückgabe eines Teils seiner Immobilien an František Oldřich Kinsky beinhaltete. Der im Jahre 1936 geborene Adelige und tschechische Staatsbürger erbte das beachtliche Vermögen von seinem Großvater. Sein Vater, der Sympathien für die Nationalsozialisten gehabt haben soll, verstarb 1938. Da er als Kind kein Kollaborateur gewesen sein könne, fordert er sein Eigentum zurück.

Am 1. Juli 2003 trafen sich führende Politiker aller im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien zusammen mit juristischen Experten zu einer informellen Diskussion, um eine Lösung zu finden, wie man den tschechischen Staat in Zukunft vor weiteren Restitutionsansprüchen in Form von zivilrechtlichen Klagen schützen könne. Das Ergebnis der Diskussion, die u.a. die Möglichkeit einer Novelle des Bürgerlichen Gesetzbuches beinhalten soll, stand zum Zeitpunkt der Beendigung dieses Berichts noch nicht fest. Für den 4. Juli 2003 wurde eine Pressekonferenz zu diesem Thema angesetzt.

Bedauerlich ist, dass im Verlauf der aktuellen Debatte auch ein gemeinsamer Antrag der drei Sudetendeutschen Sozialwerke buchstäblich auf der Strecke blieb. Der auch von dem deutschen Außenminister Fischer unterstützte Antrag sah eine symbolische Entschädigung für – überwiegend - Sudentendeutsche vor, die in Tschechien Zwangsarbeit leisten mussten und besonderes Leid erfahren haben. Die Mittel dafür sollte der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds zur Verfügung stellen. Das tschechische Außenministerium bezeichnete den Antrag jedoch als nicht vereinbar mit den Statuten des Fonds. Es ist anzunehmen, dass zumindest auf absehbare Zeit, das Projekt wohl kaum eine Aussicht auf Erfolg hat. Dies ist umso bedauerlicher, weil es wiederum eine verpasste Chance darstellt, das deutsch-tschechische Verhältnis auf eine neue Qualität zu heben.

Wie die aktuelle Diskussion zeigt, dreht sich die Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit wieder einmal rasant im Kreis. Obwohl es substanziell keine Neuigkeiten gibt, überstürzen sich Erklärungen. Da gibt es einerseits positive Stellungnahmen der Akteure, die aber anderseits im gleichen Atemzug durch eine entsprechende Gegenreaktion konterkariert werden. Wenn z.B. auf die entgegenkommenden Worte des deutschen Bundeskanzlers, das tschechische Abgeordnetenhaus mit der Initiative antwortet, ein Gesetz mit dem Wortlaut „Edvard Beneš hat sich für den Staat verdient gemacht“ vorzulegen, zeigt dies den wirklichen Stand des bilateralen Dialogs jenseits der beschönigenden Rhetorik.

Die jüngste Resolution des Bundesrates zu den Beneš-Dekreten und der Entschließungsantrag einiger Abgeordneter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über die EU-Osterweiterung („…insbesondere mit der Tschechischen Republik über die Aufhebung der Vertreibungs- und Entrechtungsgesetze sowie Straffreistellungsgesetz zu verhandeln“.) hat auf der tschechischen Seite die Diskussion über das Thema deutlich angeheizt. Es entspricht der Logik eingeübter Rituale, das mit entsprechenden Reaktionen auf tschechischer Seite bereits in den nächsten Wochen zu rechnen ist. So hat Staatspräsident Klaus diesbezüglich die Parteiführer für nächste Woche zu einem Gespräch auf die Prager Burg eingeladen.

Bevor der bilaterale „Gordische Knoten“ endlich durchschlagen werden kann, wird wohl noch viel Schweiß der Besonnenen und Mutigen fliesen müssen. Viel wird auch davon abhängen, ob es gelingt den regierungsamtlichen Dialog auf die Ebene der Parteien – auch auf europäische Ebene - zu verlagern.

Sehr erfreulich äußerte sich der tschechische Außenminister über die Abstimmung im Deutschen Bundestag hinsichtlich der EU-Erweiterung. Mit 575 Stimmen (bei vier Enthaltungen und einer Gegenstimme) verabschiedete der Deutsche Bundestag am 3. Juli 2003 den EU-Erweiterungsvertrag. Der Erweiterung der EU um zehn neue Mitglieder muss noch der Bundesrat zustimmen. Die von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion als Anhang zum Vertrag vorgeschlagene Resolution wurde von der Mehrheit der Abgeordneten der Regierungskoalition sowie der oppositionellen FDP abgelehnt.

In seiner Rede vor dem Bundestag wies Außenminister Joschka Fischer den Ergänzungsvorschlag der oppositionellen CDU/CSU-Abgeordneten zum Erweiterungsvertrag mit Hinweis auf seinen populistischen Charakter im Hinblick auf die kommenden Landtagswahlen in Bayern sowie seine möglichen negativen Folgen für die deutsch-tschechischen Beziehungen zurück.

Premierminister Vladimír Špidla (ČSSD) kommentierte die Entscheidung des Bundestages: „Ich heiße dieses Ergebnis sehr willkommen… Dass die begleitende CDU/CSU-Resolution abgelehnt wurde, zeigt eindeutig, welche die Hauptströmung der deutschen Politik ist. Es ist die Zukunft und nicht Überlegungen zur Vergangenheit“. „Diese Abstimmung sehe ich als einen sehr positiven Schritt an, vor allem was die Ablehnung des Vorschlags der CDU/CSU betrifft“, fügte der Vize-Premierminister Petr Mareš (US-DEU) hinzu (Právo, 4. Juli 2003).

Die Jugendorganisationen der im Abgeordnetenhaus vertreten Parteien – außer den Kommunisten – arbeiten an einer gemeinsamen konstruktiven Resolution zu den deutsch-tschechischen Beziehungen, die nächste Woche veröffentlicht werden soll. Es bleibt zu hoffen, dass diese Initiative nicht ein Opfer der jüngsten Entwicklung wird.

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