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Die Geschichte neu zu schreiben, ist eine Herausforderung, bei der es nicht nur gilt, offizielle Mythen und Interpretationen zu prüfen, sondern auch jede einseitige historische Perspektive in Frage zu stellen. So wird die Situation "vergessener Gruppen", wie Arbeiter, Frauen, Bauern und Jugendliche, gezielt mit einbezogen 2.
Die "Neuen Historiker" zwingen ihre Leser und damit die Konfliktparteien, all das, was sie heute über sich selbst und ihre Gegner wissen, in die neuerliche Analyse der Vergangenheit einzubeziehen. Dabei relativiert sich nicht nur das bisherige Verständnis von Hindernissen im Friedensprozeß. Die offizielle Position "alter" israelischer Historiker sah vor allem die arabische Kompromißlosigkeit als störenden Faktor im Friedensprozeß an.
Avi Schlaim, als Vertreter der israelischen "Neuen Historiker", argumentiert, daß arabische Staatsoberhäupter stärkere Friedensbestrebungen hatten, als Israel ihnen offiziell zusprach 3. Dagegen sei - insbesondere zu Zeiten Ben-Gurions - die israelische Kompromißlosigkeit, vor allem in bezug auf die Frage der Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge, ein Hindernis im Friedensprozeß gewesen. Schlaim und die übrigen Neuen Historiker plädieren für eine Berücksichtigung der komplexeren Zusammenhänge der Israelischen Geschichte, die u. a. einen höheren Grad an jüdischer Verantwortung für das Palästinensische Flüchtlingsproblem zum Maßstab macht.
Auf israelischer Seite beschreibt Yaron Ezrahi, Politikwissenschaftler an der Hebräischen Universität, die Bedingungen, die eine neue historische Sichtweise ermöglichen, anhand der sozialen und kulturellen Veränderungen der israelischen Gesellschaft 4. In den vergangenen Jahrzehnten wurde das fast Routine gewordene Bekenntnis nationaler Solidarität und öffentlicher Konformität, auf die sich israelische Regierungen einst verlassen konnten, zunehmend abgebaut. Die israelische Gesellschaft besteht aus Fragmenten konkurrierender Gruppen, wie die Sepharden, die Ultra-Orthodoxen, die israelischen Araber, die russischen Einwanderer, usw., die jeweils ein eigenes Identitätsgefühl besitzen und zudem grundlegend divergierende Auffassungen über die Bedeutung eines jüdischen Staats vertreten.
Die Neuschreibung der Geschichte, wie sie die "Neuen Historiker" in Ansätzen bereits begonnen haben, zeigt eine Tendenz in beiden Gesellschaften auf, einen wissenschaftlichen Beitrag zu einer auch für die Politik wichtigen differenzierten Geschichtsdeutung zu leisten Es ist nicht länger die Rede von einer begrenzten dualistischen Perspektive, die eine Seite gegen die andere ausspielt. Vielmehr steht die Möglichkeit im Vordergrund, die "Schuld" an Ereignissen der Vergangenheit zu teilen und vormalige Gegner gemeinsam an einen Verhandlungstisch zu bringen.
Die Neuen Historiker und die Geschichtsschulbücher
Insbesondere die Kinder auf beiden Seiten der Konfliktparteien müssen Toleranz lernen, um als neue Generation den Friedensprozeß fortzuführen. Textbücher und vor allem Geschichtsbücher, die in den Schulen verwandt werden, können dazu einen Beitrag leisten. So erschienen unter dem Einfluß von Avi Schlaims historischem Werk neue Geschichtsbücher in Israel 5. Dennoch sind viele Israelis besorgt, daß die für den jungen Staat besonders bedeutsame nationale Geschichte durch eine sensiblere Einstellung gegenüber dem palästinensischen Leid verfälscht würde 6 .
Auf beiden Seiten des Konflikts wirken gängige politische Parolen und Prinzipien einer Geschichtsschreibung entgegen, die sich um mehr Objektivität bemüht. So erkennen einige israelische Textbücher die Existenz einer palästinensischen nationalen Bewegung bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts an, während einige palästinensische Texte die jüdische Präsenz nach wie vor als Kolonialismus bezeichnen.
Fachleute wie Dr. Sami Adwan von der Bethlehem Universität weisen darauf hin, daß man von "palästinensischen Schulbüchern" im Wortsinn nicht sprechen könne, da in palästinensischen Schulen nach wie vor jordanische und ägyptische Texte eingesetzt werden, die von Israel zensiert wurden 7.
Insbesondere Pädagogen wie Dr. Adwan verfolgen immer nachdrücklicher das Ziel, eine unnötige Politisierung des Erziehungssystems sowohl auf palästinensischer wie auch auf israelischer Seite zu vermeiden. Dazu wiederum sind sie nicht nur auf die Erziehungsministerien und deren Lehrplanentwürfe angewiesen, sondern auch auf neue Geschichtsdarstellungen. Für das Fach Geschichte legt die Gruppe der "Neuen Historiker", vertreten durch zahlreiche Akademiker, Forscher und Universitätsprofessoren, einschlägige Texte vor.
Die kürzlich vom israelischen Erziehungsminister Sarid vorgeschlagene Aufnahme von Gedichten des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch in den Literaturlehrplan an Israels Gymnasien hatte für einigen Aufruhr gesorgt. Insbesondere rechtskonservative Kritiker - wie z. B. der Dichter Ahron Amir - beschwerten sich, daß israelische Schüler vielfach zu wenig über die eigene (hebräische) Literatur und die Bibel wüßten. Mit der vertieften Kenntnis israelischer und hebräischer Literatur sei die nationale Identität zu festigen 8.
Amir befürchtet, daß den künftig zu erwartenden Konzessionen der israelischen Regierung gegenüber Syrien alsbald auch die Aufnahme syrischer Lyrik, z.B. von Nizar Kabani, in die israelischen Lehrpläne folgen werde. Anhänger dieser Meinung erzeugen damit öffentlichen Druck. Dahinter steht die Opposition gegen einen vermeintlichen Verlust jüdischer Inhalte im Schulunterricht, aber auch die Befürchtung, die Konfrontation mit palästinensischer Dichtung stelle das Existenzrecht des Staats Israel in Frage und untermauere die palästinensische Forderung nach einem eigenen Staat.
Ein Großteil der palästinensischen Autoren und Dichter widmet Teile ihres Werkes der literarischen Verarbeitung des Schicksals des palästinensischen Volkes. Erst ihre gleichberechtigte Rezeption neben israelischer Dichtung trägt zur Ausgewogenheit und Objektivität bei.
Die gleiche Tendenz zur Ausgewogenheit und Entschärfung der Fronten findet sich auch im palästinensischen Erziehungsministerium. Der palästinensische Kulturminister Jassir Abed Rabo will künftig an palästinensischen Schulen israelische Literatur unterrichtet wissen. So befindet sich derzeit eine Anthologie moderner hebräischer Dichtung bereits im Druck.
Sowohl der israelische Erziehungsminister Jossi Sarid als auch der palästinensische Kulturminister Abed Rabbo erklärten kürzlich: "Gemeinsam wollen wir eine Botschaft überbringen, die nicht von Ghettoisierung und gegenseitigen Vorwürfen geprägt ist, sondern von größerer Offenheit und Hoffnung."9.
1 Ilan Pappe (Hg.), The Israel-Palestine Question, London and New York, 1999.
Avi Shlaim, The Iron Wall - Israel and the Arab World, New York, 1999.
Benny Morris, Righteous Victims: A History of the Zionist-Arab Conflict, 1881-1990, New York, 1999. Ein Sammelband mit Artikeln von palästinensischen Wissenschaftlern wie Saleh Abdul Jawad, Jamil Hilal, u.a., befindet sich in Vorbereitung und wird noch in diesem Jahr erscheinen.
2 Bernard Sabella, "New Historiography challenges old Narratives" in: Palestine Israel Journal 6, No. 4, 1999/2000, S. 104-109.
3 ibid., S. 108.
4 "New History for a New Israel", in: Foreign Affairs, Jan/Feb 2000, S. 158-162.
5 Ethan Bronner, "Israel: The Revised Edition", NYT Book Review, 14.11.99.
6 vgl. Jerusalem Post 10.04.200, Jim Kapsis zitiert Dr. Ruth Firer von der Hebräischen Universität.
7 vgl. Jerusalem Post 10.4.2000, Jim Kapsis.
8 so der Dichter Ahron Amir, zitiert von Joseph Croitoru in FAZ 24.3.2000
9 vgl. Joseph Croitoru, FAZ 24.3.2000.