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Country reports

Die Hoffnung besiegt die Furcht.

by Dr. Wilhelm Hofmeister

Brasilien wählt den Wandel

Luis Ignacio Lula da Silva, genannt Lula, ist zum neuen Präsidenten Brasiliens gewählt worden. In seinem vierten Anlauf erhielt der Mitbegründer und Ehrenvorsitzende der Arbeiterpartei (Partido de Trabalhadores, PT) bei der Stichwahl zum Präsidenten am 27. Oktober 2002 61,27 % und mehr als 52 Millionen gültigen Stimmen; schon beim ersten Wahlgang am 06. Oktober hatte Lula mit 46.44% und 39.454.692 Stimmen einen deutlichen Vorsprung gegenüber seinen Mitbewerbern erreicht, jedoch die absolute Mehrheit der Stimmen knapp verfehlt.

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Noch nie hat bei einer demokratischen Wahl in einer westlichen Demokratie ein Kandidat so viele Stimmer erhalten wie Lula im zweiten Wahlgang. Nur bei zwei anderen Wahlen (in den USA 1994 und 2000) wurden mehr gültige Stimmen abgegeben. Der Verlauf der Wahlen hat bestätigt, dass die Demokratie in Brasilien als Staats- und Regierungsform gefestigt ist.

Neben dem Sieg Lulas bei den Präsidentschaftswahlen hat die Arbeiterpartei auch bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen sowie bei den Wahlen der Gouverneure und Landtagsabgeordneten in den 27 Bundesstaaten ihr bisher bestes Ergebnis erzielt. In der Abgeordnetenkammer des nationalen Parlaments verfügt die PT nun über knapp ein Fünftel der Mandate (91 von 513 = 17,7%) und wird künftig den Präsidenten der Kammer stellen. Die Zahl ihrer Senatoren stieg von 8 auf 14. Bei den gleichzeitig stattfindenden Gouverneurs- und Landtagswahlen wurden jedoch nicht alle Erwartungen erfüllt. Zwar konnte die PT ihre Mandate in den Landtagen deutlich erhöhen, doch wird sie künftig wie bisher nur drei Gouverneuere stellen; die größte Niederlage erlebte die Partei in ihrer bisherigen „Hochburg“ Rio Grande do Sul, wo sie das Amt des Gouverneurs nicht mehr wiedergewinnen konnte.

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den Sieg Lulas und der PT war der Koalitionspartner Lulas, die kleine konservative Liberale Partei (Partido Liberal, PL), deren Führer José Alencar ein reicher Unternehmer ist und Lula die Türen des Unternehmerlagers öffnete. Zudem führte der Protestant Alencar Lula Stimmen aus der wichtigen Gruppe der evangelischen Kirchen und Sekten zu.

Der Wahlsieg der PT geht einher mit deutlichen Verlusten der bisherigen Regierungsparteien. Vor allem die sozialdemokratische Partei (Partido Social Democrata Brasileira, PSDB) des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso hat auf nationaler Ebene eine empfindliche Niederlage erlitten, die nur teilweise dadurch kompensiert werden kann, dass sie wie bisher die relativ meisten Gouverneure stellt (7). Damit hat sich die dominierende Rolle der PSDB in der brasilianischen Politik der letzten Jahre relativiert. Wahrscheinlich wird die PSDB keine formale Koalition mit der PT eingehen, was die Unterstützung einzelner Regierungsprojekte nicht ausschließt.

Die Liberale Partei (Partido da Frente Liberal) dagegen, die in der Jahresmitte nach acht Jahren aus der bisherigen Regierungskoalition ausschied, hat als „Oppositionspartei“ ein gutes Ergebnis erzielt und wird künftig den Senatspräsidenten stellen. Sie wird künftig wohl die wichtigste Oppositionspartei sein.

Viele kleinere Parteien haben Mandate im Nationalkongress und in den Landtagen gewonnen. Im Abgeordnetenhaus werden künftig 19 Parteien vertreten sein, in den Bundestsstaaten insgesamt 28. So sehr dies als Ausdruck eines lebendigen Pluralismus verstanden werden kann, wird dadurch die Bildung und Erhaltung von Koalitionen, die für die Regierungsführung unerlässlich sind, nicht einfach werden.

Die Regierungsfähigkeit des brasilianischen Präsidenten hängt ab von der Unterstützung des Parlaments und der Bundesstaaten. Wie schwierig es ist, zu regieren und Reformprojekte voranzubringen, selbst wenn eine breite parlamentarische Koalition mit deutlicher Mehrheit im Nationalkongress und eine Mehrheit bei den Gouverneuren besteht, hat die Regierungszeit von Präsident Cardoso gezeigt. Für Präsident Lula da Silva wird es noch schwieriger werden als für seinen Vorgänger, eine breite und haltbare parlamentarische Koalition zu zimmern.

Zwar wird die PT wahrscheinlich zusammen mit den Senatoren und Abgeordneten der PMDB und der kleineren Linksparteien eine Koalition bilden, die in beiden Kammern des Parlaments eine Mehrheit hat. Allerdings ist für Verfassungsänderungen eine 4/5-Mehrheit in beiden Kammern und somit die Unterstützung der Opposition unverzichtbar.

Der Wahlsieg Lulas und der Arbeiterpartei bedeutet nicht nur ein Sieg der Opposition; das ist – zumal nach achtjähriger Regierungszeit eines Präsidenten und einer Koalitionsregierung - in einem demokratischen System nichts sonderlich Überraschendes. Vielmehr lässt sich behaupten, dass damit nun zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens die traditionelle Elite eine deutliche Niederlage erlitten hat und diejenigen Schichten, die bisher von der politischen und wirtschaftlichen Macht weitgehend ausgeschlossen waren, an der politischen Macht teilhaben.

Niemand verkörpert diesen Wandel so sehr wie der neu gewählte Präsident Lula, der 1956 im Alter von 10 Jahren mit seiner Mutter und sieben Geschwistern auf einem Lastwagen aus dem nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco nach São Paulo kam, zuerst Hilfsarbeiten erledigte, dann eine Lehre als Dreher absolvierte, sich in der Gewerkschaft engagierte, zum Führer des wichtigsten Industriegewerkschaftsverbandes aufstieg, in den siebziger Jahren Streiks und Demonstrationen gegen die Militärregierung organisierte, verhaftet und eingesperrt wurde, 1980 die Arbeiterpartei mitbegründete, sich in den achtziger Jahren für eine Demokratisierung und freie Wahlen einsetzte, erstmals 1989 bei Präsidentschaftswahlen kandidierte, in die Stichwahl kam, aber dem Überraschungskandidaten Collor de Mello unterlag, der die geballte Macht des politischen und wirtschaftlichen Establishments und der Medien hinter sich hatte (und zweieinhalb Jahre später mit Schimpf und Schande aus dem Amt vertrieben wurde); Lula, der 1994 und 1998 erneut als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen antrat, dann aber jeweils schon im ersten Wahlgang gegen Fernando Henrique Cardoso unterlag, der als „Erfinder“ des „Plano Real“ von der Währungsstabilisierung profitierte und trotz seines Rufes als Linksintelektuelller mit den konservativen Parteien koalierte; Lula, der rechtzeitig vor und während des Wahlkampfes 2002 seine früheren radikalen sozialistischen Positionen aufgab, moderate Töne anschlug und damit nun nach Jahrzehnten des politischen Kampfes sein politisches Ziel erreichte.

Die Wahl von Lula steht somit einerseits für einen soziopolitischen Wandel mit hoher politisch-symbolischer Bedeutung. Seine Wahl ist andererseits zugleich auch Ausdruck fast unbegrenzter Hoffnungen von Millionen Brasilianern, die eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, Arbeitsplätze, die Überwindung der Armut, Reformen im Schul- und Gesundheitswesen und in vielen anderen Bereichen erwarten. Zugleich muss die neue Regierung das Vertrauen internationaler Finanzinstitutionen und Investoren gewinnen, um die sich seit Frühjahr 2002 zuspitzende Finanzkrise in den Griff zu bekommen und die Investitionen aus dem Ausland wieder zur erhöhen.

Die neue Regierung wird nach innen und außen viel Verhandlungsgeschick, Konsens- und Kompromissfähigkeit beweisen müssen, um einerseits aus der eher schwachen parlamentarischen Basis eine stabile regierungsfähige Koalition zu zimmern und daneben wichtige gesellschaftliche Sektoren, von den Unternehmern und Medien über die Gewerkschaften bis hin zur Bewegung der Landlosen für die Unterstützung ihres Projektes zu gewinnen.

Andererseits muss sie gegenüber dem Internationalen Währungsfonds, internationalen Banken und Anlegern deutlich machen, dass Brasilien seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt; sie muss die Rahmenbedingungen für Auslandsinvestitionen, eine Steigerung der Exporte und die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Wirtschaft weiter verbessern und daneben brasilianische Positionen im Rahmen der Verhandlungen über die Amerikanische Freihandelszone sowie andere Projekte im Rahmen der Welthandelsorganisation vertreten.

Lula und die PT haben während des Wahlkampfes moderate Töne angeschlagen und warben sichtlich um das Vertrauen der Unternehmer, Banken, internationalen Anleger und selbst der Großgrundbesitzer (die aufgrund der Nähe der PT zur Landlosenbewegung wahrscheinlich die größten Aversionen gegen die Arbeiterpartei hegen).

In einem sehr detaillierten Wahlprogramm haben sie Vorschläge für Reformen und von Projekten in einer Vielzahl von Politikbereichen formuliert. Freilich ist angesichts der prekären Finanzsituation der Spielraum für Reformen und insbesondere für kostspielige Programme sehr gering. Nach aktuellen Schätzungen werden die Steuereinnahmen des Bundesstaates in Brasilien im nächsten Jahr um 15 Milliarden Reais (ca. 5 Mrd. Euro) geringer ausfallen als im Jahr 2002.

Zu viele Erwartungen, zu viele Aufgaben? Der neue Präsident weiß, dass die Brasilianer hoffen, die neue Regierung werde die Probleme lösen und wichtige Reformen in vielen Bereichen durchführen, und er weiß, dass seine Regierung die Erwartungen nicht enttäuschen darf. Noch in der Wahlnacht hat der künftige Präsident vor überzogenen Erwartungen gewarnt und darauf hingewiesen, dass der bisher zurückgelegte lange und beschwerliche Weg an die Spitze des Staates ein leichtes war im Vergleich zu dem Weg, der nun vor ihm liegt.

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Dr. Jan Woischnik

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