Country reports
Nach dem Kompromiss in der Transitfrage, der Regelung des Güter- und Personenverkehrs aus Kaliningrad ins russische Mutterland und umgekehrt, ist es allerdings still geworden um das einst als „Pilotprojekt“ der EU-Russland- Beziehungen bezeichnete Kaliningrad. Der Grund hierfür liegt vor allem im geringen Interesse Moskaus an der Region, welches die Transitfrage zwar gern als Druckmittel gegenüber der EU einsetzte, für den Zusammenhang zwischen der inneren Entwicklung Kaliningrads und der Lösung der Exklavenproblematik aber bis heute wenig Verständnis aufbringt. Daneben ist es eine nach der Erweiterung vorrangig mit Fragen der inneren Konsolidierung beschäftigte Europäische Union, der für eine kohärente Nachbarschaftspolitik weiterhin Mittel und Instrumente fehlen.
Dass Kaliningrad zu einer besonderen Herausforderung für die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Rußland werden würde, war bereits klar, als das Gebiet nach der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der baltischen Staaten zu einer Exklave Rußlands wurde. Der Transformationsprozess in Rußland hatte aufgrund der Größe des Landes und den fehlenden Erfahrungen aus früheren demokratischen und marktwirtschaftlichen Perioden von Anfang an eine andere Qualität als in den restlichen Staaten Osteuropas. In Kaliningrad kam nun noch die geographische Trennung vom Mutterland, eine extreme Militarisierung des Gebietes und die Abhängigkeit seiner Wirtschaft vom Handel mit den Nachbarn und dem Mutterland hinzu. Während die Militärpräsenz in den 90er Jahren deutlich abgebaut wurde, die Landwirtschaft des Gebietes immer mehr zurückfiel, sich in der Verwaltung und Wirtschaft Kaliningrads zunehmend Korruption verbreitete, entwickelte sich der ehemals so bedeutende Aussenposten der Sowjetunion zu einer der ärmsten Regionen Rußlands. Hinzu kam, dass sich die Nachbarländer mit Blick auf eine zukünftige EU-Mitgliedschaft früh für grundsätzliche Reformen entschieden hatten und sich die Wohlfahrtskluft zum Kaliningrader Gebiet somit immer schneller auszuweiten begann.
Mit der Erweiterung der Europäischen Union um Polen und Litauen ergab sich abermals eine neue Qualität des Kaliningrader Problems. Da die neuen EU-Staaten gemäß dem Schengener Abkommen eine Visapflicht für Reisen von Kaliningrad ins russische Kernland und umgekehrt einzuführen planten, um damit ihren Verpflichtungen zur Errichtung einer gemeinsamen Aussengrenze der EU nachzukommen, drohte die Isolierung des Gebietes durch einen zukünftig erschwerten und bürokratisierten Grenzverkehr noch weiter zuzunehmen. Nach mehreren zornigen Verweisen Rußlands auf seine Souveränität und zahlreichen Drohgebärden insbesondere gegenüber Litauen, schlossen die Partner im November 2002 einen Kompromiss, der die Einführung eines „Vereinfachten Transitdokumentes“ vorsah und den Grenzübertritt erheblich erleichtern sollte. In der Frage des Gütertransits gab es zudem im Mai 2004 ein Übereinkommen zwischen der EU und Russland, welches den Transport von Waren zwischen Kaliningrad und dem russischen Kernland vereinfachen sollte.
Es stellt sich nun die Frage, ob der Transitkompromiss - der alle anderen Fragen bzgl. des Kaliningrader Gebiets in den letzten zwei Jahren überlagerte - allein schon der Schlüssel für die Lösung der Probleme der Exklave bei der wirtschaftlichen Transformation ist oder ob die Transitfrage nur das aufgrund der äußeren Entwicklung dringlichste aller zu lösenden Probleme war.
Mit Sicherheit darf die Bedeutung der Transitfrage angesichts der Abhängigkeit der Kaliningrader Wirtschaft vom grenzüberschreitenden Handel nicht unterschätzt werden, allerdings begann der wirtschaftliche Abstieg der Region lange vor der Osterweiterung und stellt nur oberflächlich betrachtet eine Folge der Exklavenproblematik dar.
Besonders auffällig ist der desolate Zustand der Infrastruktur im Kaliningrader Gebiet, die nun einmal eine zwingende Vorraussetzung für funktionierenden Aussenhandel darstellt. Neben einem indiskutabel ausgebauten und dringend sanierungsbedürftigen Straßennetz ist hier speziell auf die Lage der Hafenanlagen hinzuweisen, die aufgrund völlig veralteter Technik schon im Jahre 2001 nur zu 25 % ausgelastet waren, was selbst Belarus veranlasste, seinen Handel über den Rigaer Hafen abzuwickeln. Hinzu kommt, dass Kaliningrad trotz der Bestimmungen der Sonderwirtschaftszone von 1996 vor allem in Bezug auf Investitionen noch nicht von seiner geographischen Nähe zur Europäischen Union profitieren konnte, das Gebiet nimmt hinsichtlich der Attraktivität für Investoren nur den 31. Platz unter den 89 russischen Regionen ein. Der Grund hierfür ist, daß trotz der prestigereichen Ansiedlung von Unternehmen wie BMW oder KIA ausländische Investoren die für Rußland und gerade auch für Kaliningrad typische Verbindung von Politik und Wirtschaft, mangelnde Rechtssicherheit sowie den Protektionismus der einheimischen Wirtschaft fürchten und den Bestand der Sonderwirtschaftszone als nicht gesichert ansehen. Diese nur grob skizzierte Darstellung der Probleme des Kaliningrader Gebietes macht deutlich, dass es vor allem die rückständige strukturelle und administrative Binnenlage des Gebietes ist, die den wachsenden Abstand zu den Nachbarn erzeugt.
Die EU-Osterweiterung wird die Kluft zwischen Kaliningrad und seinen Nachbarländern zunächst weiter anwachsen lassen, da Polen und die baltischen Staaten auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft schon seit Jahren einen konsequenten Reformkurs eingeschlagen hatten und ihre rechtlichen Bestimmungen und technischen Standards mittlerweile längst auf EU-Niveau gebracht haben. Diese, im Gegensatz zu den neuen Grenzabstimmungen viel schwerer zu überspringende Hürde der anspruchsvolleren technischen und rechtlichen EU-Standards wird es sein, die den Export aus Kaliningrad verteuern und potentielle Investoren in die Nachbarländer abdrängen wird.
Dass Kaliningrad aufgrund seiner eigentlich günstigen geographischen Lage an der Ostsee, umgeben von prosperierenden EU-Staaten, trotzdem noch nicht zu einer mit letzteren vergleichbaren Entwicklung gefunden hat, liegt an der mangelnden Öffnung des Gebietes und damit in erster Linie am Desinteresse Moskaus, Kaliningrad wirklich zu einem Testfall der EU-Rußland-Beziehungen werden zu lassen. Obwohl die Probleme Kaliningrads die des russischen Kernlands widerspiegeln, machen die Exklavenlage und die starke Aussenhandelsabhängigkeit das Gebiet naturgemäß zu einem Sonderfall unter den russischen Regionen. Bisher zeigte sich die russische Regierung trotz dieser Umstände nicht bereit, dem Gebiet zu einer größeren administrativen Handlungsfähigkeit im Rahmen der Zentrum-Peripherie-Beziehungen und größeren finanziellen Zuwendungen zu verhelfen; dies aber wäre eine unbedingte Vorraussetzung für die Schaffung der erforderlichen rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen. Statt dessen versuchten russische Offizielle bereits kurz nach dem Kompromiss in der Transitfrage wieder, die Aufmerksamkeit von der Binnenlage des Gebietes abzulenken und die Umsetzung der Vereinbarung vor allem von litauischer Seite zu kritisieren.
Schlussfolgerungen
Das Desinteresse Moskaus an der Kaliningrader Region ist nicht allein mit der Dringlichkeit anderer Themen in Russland - wie dem Kampf gegen den Terrorismus oder den notwendigen Sozialreformen – zu erklären, sondern spiegelt den grundsätzlichen Widerstand Moskaus wider, seinen Regionen mehr Handlungsfreiheit zuzugestehen bzw. sich bis zu einem gewissen Grade dem Regel- und Normenwerk der EU anzupassen.
Gerade im Fall der russischen Exklave Kaliningrad, die zunehmend von der prosperierenden Entwicklung ihrer Nachbarländer abgeschnitten ist, wäre eine weitere Öffnung und Europäisierung dringend notwendig. Die teilweise Übernahme von Elementen des acquise communitaire aber stünde im Gegensatz zu dem Selbstverständnis Rußlands als Großmacht und Integrationspol, das in einer Anpassung an EU-Normen stets einen ungewollten Verlust an Souveränität und die Aufgabe historisch gewachsener Eigenheiten sehen würde.
Für die Partnerschaft zwischen der EU und Rußland hat sich Kaliningrad also bisher nicht zu einer Pilotregion entwickelt. Das Gebiet als moderner und offener Handels- und Verkehrsknotenpunkt, der zur Bildung positiver Interdependenzen in der Region beiträgt – diese Vision ist vor allem am Widerstand Rußlands gescheitert, mehr als nur Partner der EU zu sein, sondern sich auch ansatzweise deren Regelwerk anzupassen. Auch die EU, welche dem Gebiet in den nächsten Jahren ca. 25 Mill. Euro zukommen lassen will, wird als auswärtiger Akteur und aufgrund des geringen Handlungsspielraums regionaler Entscheidungsträger in Kaliningrad nur wenig Einfluß auf die Entwicklung des Gebietes haben.