Country reports
Zum Hintergrund
In den Parlamentswahlen im September 2001 traten SLD und UP als Listenverbindung an und gewannen 215 Sitze (von 460). Gegenwärtig halten SLD/UP noch 212 Sitze; davon entfallen 196 Sitze auf die SLD, 16 auf die UP. Unter der Führung des SLD-Vorsitzenden Leszek Miller bildeten SLD/UP mit der Bauernpartei PSL eine Koalition. Stellvertretende Ministerpräsidenten wurden die Parteivorsitzenden der kleineren Koalitionsparteien, Marek Pol (UP) und Jaroslaw Kalinowski (PSL).
Die Koalition barg von Anfang an ein gewisses Sprengpotenzial, auch und gerade im Zusammenhang mit den EU-Beitrittsverhandlungen. Jaroslaw Kalinowski unterstützte die Bemühungen der Regierung zwar, die Beitrittsverhandlungen zu beschleunigen und rechtzeitig zum Jahresende 2002 abzuschließen. Er musste sich jedoch gegen enorme Widerstände in der eigenen Partei durchsetzen. Viele Beobachter sahen daher die Koalition als zeitlich befristet an.
Letztendlich zerbrach die Koalition jedoch an einem Thema, das nur indirekt mit dem polnischen EU-Beitritt zusammenhängt, nämlich an einem Gesetzesvorhaben zur Einführung von KFZ-Vignetten. Infrastrukturminister Pol (UP) argumentierte, dass die Vignetten dem Staat eine zusätzliche Einnahmequelle verschaffen und damit zusätzliche Gelder für die Absorption von EU-Fördermitteln freisetzen würden. In der PSL regte sich gegen den Plan Widerstand, da die Vignetten nur für Bundesstraßen eingeführt werden sollten und daher besonders die Landbevölkerung belastet hätten.
Dass die PSL am 27. Februar im Sejm dann allerdings gegen den Gesetzesentwurf der Regierung stimmen würde, kam überraschend. Vieles deutet darauf hin, dass dem Parteivorsitzenden und stellvertretenden Ministerpräsidenten Kalinowski die Truppen abhanden gekommen waren. Angeführt wurde diese Illoyalität von einzelnen Abgeordneten, gestützt war sie aber von den Widersachern Kalinowskis in der Parteiführung, Janusz Wojciechowski (stellv. Parlamentspräsident) und Zbigniew Kuzmiuk (Fraktionsvorsitzender).
Das Verhalten der PSL löste in der SLD Bestürzung aus. Bei einer Sitzung des Parteivorstandes der SLD am 28. Februar überwogen die Befürworter einer Beendigung der Koalition.
Ministerpräsident Miller stellte der PSL daraufhin am Abend ein Ultimatum zur bedingungslosen Unterstützung der Regierung. Zum Erstaunen aller Beobachter akzeptierte die PSL dieses Ultimatum nicht. Daraufhin kündigte Miller die Koalition und bat Präsident Kwasniewski, die beiden PSL-Minister aus ihrem Amt zu entlassen. Am 3. März kündigte Miller die Entlassung von insgesamt etwa 30 Staatssekretären und stellvertretenden Wojewoden an.
Kann Miller sich halten?
Miller hat sich erneut in einer schwierigen Situation entschlossen gezeigt. Eine Geiselnahme der Regierung durch revoltierende Abgeordnete im Sejm, wie während der Koalition zwischen AWS und Freiheitsunion (1997-2000), ist damit ausgeschlossen. In ersten Stellungnahmen gab Miller zu erkennen, dass er vor allem bei einzelnen Abgeordneten und parlamentarischen Gruppen ohne Fraktionsstatus nach Unterstützung suchen werde.
Insgesamt gibt es 39 Abgeordnete ohne Fraktionszugehörigkeit. Von ihnen sind 10 ehemalige Abgeordnete der „Selbstverteidigung“ (Samoobrona). Diese stehen der SLD weltanschaulich nahe, haben geringe Aussichten auf eine Wiederwahl und dürften daher kein Interesse an vorgezogenen Wahlen haben. Unterstützung käme außerdem von den 4 Abgeordneten um den ehemaligen PSL-Politiker Jagielinski und u.U. von den zwei Abgeordneten der deutschen Minderheit. Damit käme die SLD auf 228 von 460 Stimmen. Da die Abgeordneten der Opposition als wenig diszipliniert gelten, könnte diese Stimmenzahl zu einer faktischen Mehrheit reichen.
Eine Schlüsselposition kommt in dieser Lage aber auch der EVP-Partnerpartei SKL zu, die mit 8 Abgeordneten im Sejm vertreten ist. In ersten Gesprächen mit Miller sagte der SKL-Vorsitzende Balazs der Regierung seine Unterstützung zu. Dadurch würde Balazs eine Zusammenarbeit mit PiS und Bürgerplattform allerdings erschweren. Da die SKL sowohl 1997 (AWS) als auch 2001 (Bürgerplattform) auf den Wahllisten einer anderen Partei in den Sejm gelangte, dürfte ihr aber an einer engeren Zusammenarbeit mit den beiden größeren Parteien gelegen sein.
Ob Miller sich halten kann, ist allerdings unabhängig davon, ob Miller sich überhaupt als Ministerpräsident halten will. Die Umfragewerte des Ministerpräsidenten selbst sind seit Amtsantritt deutlich gefallen (Befürworter von 40% auf bis zu 25%, Gegner von 28% auf bis zu 55%). Die wirtschaftliche Lage ist angespannter denn je, die Arbeitslosigkeit stieg im Januar auf 18,7%. Es ist daher durchaus denkbar, dass Miller nach einem gewonnenen EU-Referendum eben durch den Rücktritt vom Amt des Regierungschefs seine persönlichen Popularitätswerte erhöht. Damit stiegen seine Chancen auf die Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2005.
Wie geht es weiter?
Unabhängig von Millers Rücktritt nach dem EU-Referendum sind gegenwärtig vier Szenarien zur Zukunft der Regierung unter Führung der SLD denkbar.
Szenario 1: Neuwahlen im Herbst
Dass die Regierung Miller bis zum EU-Referendum am 8. Juni im Amt bleibt, ist aus heutiger Sicht sicher. Neuwahlen wären zwar ein Risiko für die SLD, könnten aber in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten auch einer Flucht nach vorne gleichkommen. Nach dieser Rechnung könnte die SLD ohnehin nicht mit einer Wiederholung ihres Ergebnisses von 41,5% bei den Wahlen im September 2001 rechnen.
In gegenwärtigen Umfragen steht sie bei etwa 30%. Da das Regieren in Zeiten niedrigen Wirtschaftswachstums und instabiler Mehrheitsverhältnisse in den Jahren 2004 und 2005 nur noch schwieriger werden dürfte, wäre ein Urnengang im Herbst 2003 sogar noch von Vorteil. Befürworter dieser Lösung berufen sich auf die Erfahrung der Minderheitsregierung Buzek (AWS) zwischen Juni 2000 und September 2001, d.h. nach dem Ausscheiden der Freiheitsunion aus der Regierung. Zunächst stiegen die Werte der AWS in den Umfragen. Dann aber sanken diese dramatisch, bis die gesamte Formation schließlich in Skandalen und Inkompetenz versank und völlig auseinanderbrach. Wahrscheinlichkeit: 40%
Szenario 2: Minderheitsregierung bis 2005
Sollte die Zusammenarbeit mit den nicht-fraktionsgebundenen Abgeordneten gut funktionieren, könnte die SLD bis 2005 weiterregieren. Dazu wäre auch die Unterstützung der Bürgerplattform in Gesetzesvorhaben nötig, die die europäische Integration und die Haushaltsreform betreffen. Führende Politiker der SLD sehen dieses Szenario als wahrscheinlich an.
Innenminister Janik argumentierte wie folgt: Eine Koalition mit der PSL erschwere Entscheidungen im Kabinett und vereinfache Entscheidungen im Sejm, das Ausscheiden der PSL aus der Regierung vereinfache Entscheidungen im Kabinett und erschwere sie im Sejm. Die Erleichterung, die aus diesen Worten klingt, ist für die gegenwärtige Stimmung in der SLD bezeichnend. Wahrscheinlichkeit: 40%
Szenario 3: Die PSL kehrt in die Regierung zurück.
Dieses Szenario scheint auf den ersten Blick absurd, kann aber nicht ganz ausgeschlossen werden. Die PSL ist sich nie ganz sicher, ob sie in der Regierung oder in der Opposition ist. Das Regieren fällt ihr zwar schwer, aber auch die Oppositionsbänke könnten sich auf mittlere Sicht als hart erweisen. Dieses Szenario würde allerdings nur wahrscheinlich, wenn sich Kalinowski gegen seine innerparteilichen Widersacher durchsetzen kann. Wahrscheinlichkeit: 15%
Szenario 4: Die „Selbstverteidigung“ geht in die Regierung
Der Vorsitzende der populistischen Bauernbewegung „Selbstverteidigung“ (Samoobrona), Andrzej Lepper, hat sein Interesse an einer Koalition mit der SLD unmissverständlich zu verstehen gegeben. Auf Wojewodschaftsebene gibt es eine solche Koalition schon in sechs Fällen. In der SLD wird Lepper jedoch überwiegend kritisch gesehen. Die Koalition mit der PSL sei schon schwierig genug gewesen, so wird betont. Eine Koalition mit der „Selbstverteidigung“ sei vor diesem Hintergrund ein Himmelfahrtskommando. Wahrscheinlichkeit: 5%.
Das EU-Referendum
Für den polnischen EU-Beitritt ist die Beendigung der SLD/UP-PSL Koalition alles andere als hilfreich. Der PSL kam bei der Überzeugung der Landbevölkerung eine wichtige Rolle zu. Dies lag auch an ihrem Vorsitzenden, Jaroslaw Kalinowski, welcher in der eigenen Partei nicht eben beliebt ist, aber auf ausgezeichnete Umfragewerte verweisen kann. Wenn die PSL nun in die Opposition geht, könnte sie versucht sein, die Beitrittsbedingungen zu kritisieren (obschon sie diese natürlich maßgeblich mit ausgehandelt hat).
Optimistischere Stimmen verweisen auf die relativ sicheren Umfrageergebnisse (knapp 70% für den Beitritt) und auf die Tatsache, dass Politiker in Polen ohnehin keine große Glaubwürdigkeit besitzen und daher auch nicht ausschlaggebend für das Verhalten der Menschen am 8. Juni seien.
Fazit: Umfragen sind Umfragen, und Umfragen in Polen sind seit Jahren ungenau. Das EU-Referendum ist heute mehr denn je mit einer Partei assoziiert, nämlich der SLD. Diese Partei stellt eine Regierung, die an Popularität stark eingebüßt hat, auf die schwierige wirtschaftliche Situation keine Antwort weiß und den Problemen des Staates in Haushaltsfragen und den sozialen Sicherungssystemen ziemlich ratlos gegenüber steht. Insoweit kann das Referendum kaum als „schon gewonnen“ gelten.
Welche Auswirkungen hat die neue Lage auf die anderen Parteien?
- PSL
Die PSL muss ihre innerparteilichen Machtverhältnisse klären. Gewinnt Kalinowski, ist eine erneute Annäherung an die SLD möglich. Gewinnt Wojciechowski, ist eine pragmatischere Orientierung möglich. Interessant ist dabei die Frage, wie sich die PSL vor dem EU-Referendum verhalten wird. Die Versuchung ist groß, sich für ein „nein“ auszusprechen. Ob dies aber glaubwürdig ist, nachdem die PSL 13 Monate eine Regierung unterstützte, die alles für einen schnellen EU-Beitritt tat, ist äußerst fragwürdig. Erste Stimmen sagen der PSL bereits ein Schicksal voraus, das dem der Freiheitsunion nach dem Ausscheiden aus der Koalition mit der AWS gleichkäme, nämlich den sicheren Untergang.
- Bürgerplattform
Eine formelle Koalition mit der SLD hat die Bürgerplattform bereits ausgeschlossen. Ähnlich wie der CDU nach den letzten Wahlsiegen in Hessen und Niedersachsen die Rolle einer verantwortlichen Opposition zufällt, ist aber auch die Verantwortung der Bürgerplattform gewachsen. In Europa- und Haushaltsfragen hat die Bürgerplattform der SLD bereits Kooperationsbereitschaft signalisiert. Es bleibt abzuwarten, wie dies die Zusammenarbeit zwischen Bürgerplattform und PiS beeinflusst. Das Verantwortungsbewusstsein für die Staatsräson ist in der Bürgerplattform ausgeprägt, bei PiS weniger.
- PiS
PiS hat jegliche Unterstützung für die Regierung Miller ausgeschlossen. Dies war zu erwarten. In vielerlei Hinsicht sind die Schwierigkeiten der Regierung Miller Wasser auf die Mühlen der PiS-Strategen. Denn diese hatten nach den Wahlen 2001 vermutet, dass (1) der Wahlerfolg der SLD sich 2005 nicht wiederholen würde, (2) die Regierung SLD/UP-PSL instabil sei, (3) die PSL sich unter einem anderen Parteivorsitzenden durchaus als Koalitionspartner für PiS eignen könne und PiS (4) durch eine sichere Finanzierung aus dem Staatshaushalt und (5) durch die Popularität Lech Kaczynskis für 2005 auf knapp 20% der Stimmen kommen könne. Gegenwärtig steht PiS bei 15-18% in den Umfragen, die Bürgerplattform steht bei 12%, PSL bei 8%.