Country reports
Die knappe Mehrheit der Regierungskoalition in beiden Kammern des Parlaments ist durch die richterliche Amtsenthebung von fünf Abgeordneten (darunter zwei der Christdemokraten), die in einen Bestechungsskandal im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen und Parteien-finanzierung verwickelt sein sollen, auf einem Sitz im Kongress zusammengeschrumpft.
Im Senat ist die demokratisch legitimierte Mehrheit der Repräsentanten durch den Austritt eines Senators (Nelson Avila, PPD) aus der Fraktion der Partei des Staatspräsidenten, ebenfalls nur noch auf eine Stimme Mehrheit geschrumpft (19 zu 18 Senatoren). Geht man davon aus, dass die nicht gewählten sondern designierten Senatoren (9) eher der Opposition, der „Alianza por Chile“, bei Abstimmungen ihre Stimme geben und der einzige Senator auf Lebenszeit, Eduardo Frei, dem Regierungslager zuzuordnen ist, haben die Parteien der „Concertación“ in der zweiten legislativen Kammer keine Mehrheit.
Die Regierungsgeschäfte für Staatspräsident Lagos sind daher äußerst schwierig geworden. Innerhalb der Regierungsparteien haben sich die Spannungen verschärft. Insbesondere die Christdemokraten beklagen seit 2001 (bereits unter dem Parteivorsitzenden Hermozábal, dass der Regierungschef zu wenig Rücksicht auf die internen Kräfteverhältnisse innerhalb des Regierungslagers nimmt. Daran hat auch die im Januar 2002 vollzogene Kabinettsumbildung wenig geändert.
Zum Jahreswechsel mehrten sich die Gerüchte einer erneuten Regierungsumbildung im chilenischen Sommer 2003, bei der die wiedererstarkte Christdemokratie mit ihrem Flügel unter dem jetzigen Parteivorsitzenden Adolfo Zaldívar stärker vertreten sein sollte. Verschiedene Kräfte innerhalb dieser Koalitionsparteien sehen die „Concertación“ als ein erschöpftes Regierungsmodell und geben diesbezügliche Erklärungen öffentlich ab. Daher versucht Staatspräsident Lagos die Regierungsfähigkeit durch Schulterschlüsse mit den Parteien der parlamentarischen Opposition sicherzustellen. Dies verstärkt die schwelenden Konflikte der die „Concertación“ bildenden vier Parteien innerhalb und untereinander.
Während 2001 die Regierung noch mit wichtigen Reformvorhaben auf dem Weg zur Modernisierung des chilenischen Staates punkten konnte (Pressegesetz, Arbeitsmarktreform, Dezentralisierung), war das letzte Jahr durch innenpolitischen Stillstand gekennzeichnet. Ledig-lich die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierte Gesundheitsreform, die von Ärztestreiks größeren Ausmaßes begleitet war, fand in Dezember 2002 die knappe Zustimmung der Abgeordneten im Kongress. Die Mehrheit im Senat (die Abstimmung ist für Anfang 2003 vorgesehen) ist jedoch von erheblichen Zugeständnissen an die Opposition abhängig.
Für die in Chile so notwenige Änderung des Wahlrechts fand sich auch im Berichtsjahr keine Interessenkoalition. Gleiches gilt für die angekündigten Änderungen in der Verfassung. Eine Verständigung zwischen allen Parteien zur Neufassung des Parteiengesetzes inklusive einer transparenten öffentlichen und privaten Parteienfinanzierung bahnt sich an. In diesem Zusammenhang sind auch Gehaltsbestandteile hoher Regierungsträger, die teilweise direkt an die Parteien abgeführt wurden, als verdeckte Parteienfinanzierung angeprangert worden. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird der Ruf nach einer längst angekündigten aber bis heute nicht durchgeführten durchgreifenden Reform der öffentlichen Verwaltung immer lauter.
In der Außenpolitik konnte das Land seine Positionierung in den internationalen Beziehungen und seine Stellung als Musterknabe innerhalb der lateinamerikanischen Region festigen. Die im Vergleich zu den Nachbarländern relativ stabile wirtschaftliche und soziale Entwicklung veranlassten vor allem die Vereinigten Staaten und die Europäische Union, Zeichen für die Bedeutung ihrer Außenbeziehungen zum lateinamerikanischen Subkontinent an außergewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen mit Chile festzumachen. Damit prämierten die wich-tigsten Handelsblöcke (USA und Europa) den erfolgreichen wirtschafts-, sozial und demokratiepolitischen Entwicklungsweg des Landes seit der Redemokratisierung vor zwölf Jahren.
Die für die Handelspolitik, die entwicklungspolitische Zusammenarbeit und die politischen Beziehungen zwischen Chile und den Staaten auf den wichtigsten Exportmärkten ausgehandelten bilateralen Rahmenbedingungen sollen zugleich Ansporn für weitere Länder in Latein-amerika sein, sich am Beispiel einer sozialverträglichen und marktwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik in Chile zu orientieren.
Die Architektin dieser Abkommen auf chilenischer Seite, die christdemokratische Außenministerin Soledad Alvear zählt daher zu den beliebtesten und populärsten Politikern des Landes, obwohl ihr politischer Konkurrent, der chilenische Finanzminister Nicolás Eyzaguirre (PPD), der sich in letzter Minute in die Abschlussverhandlungen des Freihandelsabkommens mit den USA auf Bitte des Präsidenten einschaltete, einen Großteil des Erfolges in der Dar-stellung der öffentlichen Medien auf sich zog.
Die bilateralen Beziehungen zwischen Chile und Perú haben sich in den letzten Monaten durch die Schließung einer mit chilenischem Kapital errichteten Nudelfabrik im Großraum von Lima - von der peruanische Stadtverwaltung wegen angeblicher Verletzung von Umweltauflagen verordnet - erheblich verschlechtert. Auch nach den Kommunalwahlen und dem Wechsel im Bürgermeisteramt von Lima, scheint Perú an der Schließung der Fabrik festhalten zu wollen. Dies führt zu nicht unerheblichen Belastungen der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Nachbarländern.
Bolivien verhandelt mit Chile und Peru über den Zugang zu den hiesigen Pazifikhäfen für den Export von bolivianischem Erdgas. Hier gibt es ernstzunehmende Widerstände in Bolivien selbst. Wegen dem von Chile gewonnenen Pazifikkrieg (1879 bis 1883) verlor Bolivien den maritimen Zugang zum Pazifik. Der Erdgasexport kann daher heute nur über peruanische oder chilenische Pazifikhäfen erfolgen. Während die bolivianische Regierung einem Exportweg über chilenischen Häfen bevorzugt, versuchen populistische bolivianische Kreise unter Ausnutzung alter Vorurteile und Ressentiments das Milliardengeschäft für die beiden Nachbar-länder zu boykottieren. Dies belastet die laufenden Verhandlungen über ein bilaterales Freihandelsabkommen.
Situation der christlich demokratischen Partei
Am 25. Januar 2002 wurde der 58-jährige Adolfo ZaldívarLarraín mit knapp 53% der Delegiertenstimmen mit seiner Liste gegen zwei weitere Kandidaten im ersten Wahlgang auf dem Parteitag der DC zum neuen Vorsitzenden gewählt. Im Dezember 2001 erlebte die Partei bei den chilenischen Parlamentswahlen ein Waterloo. Sie verlor 14 Abgeordnetensitze und zwei Senatorenposten und musste die langjährig behauptete Stellung als stärkste Partei Chiles an die rechtskonservative Unión Democrática Independiente (UDI) abgeben.
Adolfo Zaldívar, der zum wirtschaftsfreundlichen Flügel innerhalb der Partei gehört, steht einer bedingungslosen Zusammenarbeit mit den Linksparteien (PS und PPD) innerhalb der seit 1990 bestehenden „Concertación“ kritisch und skeptisch gegenüber. Er traf in seiner Bewerbungsrede für das Amt des Parteivorsitzenden am besten die Stimmung der Delegierten. Durch die langjährige Zusammenarbeit innerhalb der drei „Concertacións“- Regierungen habe sich das eigenständige Profil der Christdemokratie verwischt.
Die chilenischen Wählerinnen und Wähler könnten nicht mehr erkennen, für was die DC stehe und wie sie sich in der Formulierung politischer Antworten von den anderen „Concertacións“-Parteien unterscheide. Dem müsse in den verbleibenden zweieinhalb Jahren, bis zu den Gemeinderatswahlen 2004, entschieden entgegengetreten werden. Die Partei müsse wieder Eigenständigkeit entwickeln. Dies könne nur durch klare Abgrenzung von extremen Positionen sowohl auf der linken wie der rechten Seite des pluralistischen chilenischen Spektrums geschehen. Die DC sei eine Partei des Zentrums. Dies müsse in Zukunft deutlich herausgestellt werden.
November und Dezember 2002 war es zu heftigen parteiinternen Auseinandersetzungen gekommen. Ein Bestechungsskandal im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge wurde durch die Medien entdeckt und denunzierte fünf Abgeordnete, die angeblich Beschleunigungsgelder von einer privaten Firma erhielten, die im Auftrag des Ministeriums für öffentliches Auftragswesen handelte.
Ohne staatsanwaltliche Ermittlungen abzuwarten und ohne der zuständigen chilenischen Justiz Zeit für eventuelle Anklagen und Prozesse zu geben, beantragte der Parteivorsitzende bei den zuständigen Parteigremien den sofortigen Ausschluss der beiden in den Skandal verwi-ckelten christdemokratischen Abgeordneten aus der Partei. Diese drastische Maßnahme wurde von vielen christdemokratischen Politikern als Vorverurteilung empfunden und rief in der Öffentlichkeit ausgetragene Kritik an Adolfo Zaldívar und seiner Führungsmannschaft hervor.
Die Parteibasis jedoch betrachtete diese Entscheidung mit großer Genugtuung, insbesondere da PS und PPD, von denen drei Abgeordnete ebenfalls beschuldigt wurden, nicht in der gleichen rigorosen Art und Weise sich dieses Problems entledigten. Die chilenische Christdemokratie hat moralische Größe gezeigt und verdeutlicht, dass ihre Prinzipien nicht nur in Sonntagsreden verkündet werden. Zwischenzeitlich hat eine zuständige juristische Prüfinstanz den fünf in den Skandal verwickelten Abgeordneten ihre Immunität entzogen und damit die Justiz in die Lage versetzt, ein ordentliches Gerichtsverfahren einzuleiten. Die zunächst als Vorverurteilung angesehene Entscheidung des Parteivorsitzenden wurde auf diese Weise im Nachhinein als opportun bestätigt.
Noch größer war die Aufregung als die wichtigste Tageszeitung des Landes „El Mercurio“! Adolfo Zaldívar mit den Worten zitierte, die „Concertación“ sei beendet. Natürlich hatte der Vorsitzende das so nicht gesagt. Der Mercurio, der dem rechten politischen Spektrum in Chile nahe steht, betreibt seit Beginn der Redemokratisierung eine Kampagne gegen die Christdemokratie. Es passte daher in die Strategie von Redaktion und Herausgebern, Unfrieden durch halbrichtige Zitate innerhalb der regierenden Koalitionsparteien zu säen.
Was Adolfo Zaldívar ausdrückte und meinte, fand in großen Teilen der Partei Unterstützung: Präsident Lagosregiere zu eigenmächtig, ohne die Kräfteverhältnisse der Koalitionsparteien untereinander in angemessener Weise zu berücksichtigen. Die DC fühle sich bei wichtigen politischen Regierungsentscheidungen nicht genügend konsultiert. Die jetzige Parteiführung sehe darüber hinaus in der momentanen Zusammensetzung des Kabinetts, ihre Interessen zu wenig vertreten. Der für März 2003 vorgesehene Kabinettswechsel soll diese Situation ändern und korrigieren.
Die Kritik am politischen Management der „Concertación“ wurde von einigen Kreisen in der Partei als Aufkündigung des Regierungsbündnisses durch ihren Vorsitzenden interpretiert, ohne dass die Parteiführung eine gangbare Alternative für andere Koalitionsformen zur Regierungsbildung in Chile anbieten könne und damit wurde Präsident Zaldívar mit dem Vorwurf der Zerstörung der Regierungsfähigkeit der „Concertación“ konfontiert.
Eine Gruppe von zehn Dissidenten (Abgeordnete, Senatoren und anderen DC-Spitzenpolitiker) reagierten mit einem Manifest, das breit über die Medien gestreut wurde und zum Ziel hatte, an der alternativlosen „Concertación“ festzuhalten. Diese Gruppe setzte sich damit an die Spitze einer erklärten Gegnerschaft zum jetzigen Parteivorsitzenden.
Adolfo Zaldívar lenkte ein und bildete ein Gremium von acht Politikern aus den Koalitions-parteien, die neue Bedingungen und Strategien zur Dämpfung des Ansehensverlustes der Regierung erarbeiten soll. Mittlerweile gibt es keinen Zweifel mehr, dass die christdemokratische Parteiführung an der „Concertación“ zumindest bis nach den Wahlen 2005 festhalten will. Mit einer konstruktiv kritischen Unterstützung von Staatspräsident Ricardo Lagos durch die DC bis zum Ende der Legislaturperiode kann gerechnet werden.
Die polarisierenden Aktionen und öffentlichen Auftritte von Adolfo Zaldívar haben der Parteibasis neues Selbstwertgefühl vermittelt. Lange war die Motivation und die Bereitschaft zum Engagement bei den Mitgliedern und Ortsverbandsvorsitzenden für das gemeinsame christdemokratische Politikverständnis nicht mehr gegeben. Ein Ruck geht durch die Partei und ihre Anhänger. Nach dem Motto „Leg Dich quer, dann bist Du wer“ hat es Adolfo Zal-dívar in nur einem Jahr vermocht, der Partei neues Selbstbewusstsein zu geben und verloren gegangenen Wählerschichten für christdemokratische Positionen neu zu interessieren.
Mit Blick auf die Kommunalwahlen und seiner notwendigen Wiederwahl 2004 kämpft er entschieden um Geschlossenheit und erreicht in zunehmendem Maße als stärkste Kraft inner-halb der „Concertacións“- Parteien wieder wahrgenommen zu werden. Die Parteibasis dankt ihm dies durch großen Zuspruch und Unterstützung.