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Die Nachricht vom Tod des Scheichs verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Palästinensischen Gebieten. Bereits wenige Stunden nach dem Angriff versammelten sich Tausende aufgebrachter Palästinenser in den Straßen der Autonomiegebiete. In Ramallah beschloss Palästinenserpräsident Arafat einen dreitägigen Generalstreik.
Für die israelische Regierung bedeutete die Tat einen wichtigen Fortschritt bei der Zerschlagung der militanten Hamas. In Erwartung palästinensischer Vergeltungsschläge rief Israel höchste Alarmbereitschaft aus. Sämtliche Grenzübergänge in Gaza und in der Westbank wurden abgeriegelt.
„Krieger ohne Arme und Beine“
Yassin stellte für die Anhängerschaft der Hamas aber auch für andere Palästinenser als spiritueller Führer, als „Krieger ohne Arme und Beine“ – wie ihn seine Anhänger bezeichneten – eine Symbolfigur für den palästinensischen Widerstand dar.
Yassin kam 17. Juni 1936 in Dschura, südlich von Ashqelon, heutiges Israel, zur Welt. Während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 floh der damals 12-Jährige mit seiner Familie nach Gaza. Dort brach er sich 1952 nach eigenen Angaben bei einem Tauchunfall das Rückrat und war seitdem an den Rollstuhl gebunden. Trotz seiner Behinderung beendete er seine Schulausbildung in Gaza und begann das Studium an der Kairoer Universität. Aus Geldmangel brach er das Studium vorzeitig ab, trat allerdings noch 1955 als Student einer verbotenen Moslembruderschaft bei.
1978 gründete Yassin offiziell die „Al Mujamma Al Islami“, eine fundamental-islamistische Organisation. Fünf Tage nach Beginn der ersten Intifada, am 14. Dezember 1987, rief der Scheich eine neue Bewegung ins Leben: Er verkündete die Gründung der „Hamas“ (arabisch: „Eifer“ oder „Engagement“), deren Charta fortan die Zerstörung Israels und die Ausrufung eines islamischen Gottesstaates auf dem Territorium des ursprünglichen Mandatgebiets Palästina - zwischen Mittelmeer und dem Jordan - beinhaltete. Yassin verbrachte in den 80ern und 90ern wegen mehrfachen Mordes und Waffenbesitzes insgesamt 9 Jahre in israelischer Haft. König Hussein von Jordanien erreichte 1997 die Freilassung des zum "größten Feind Israels" avancierten Scheichs. Von seinen Anhängern gefeiert, hielt Yassin wenig später triumphierend im Gaza-Streifen Einzug.
Die Hamas
Das Exekutivorgan der Hamas war und ist das Politbüro – bestehend aus Palästinensern von innerhalb und außerhalb der besetzten Gebiete. In Absprache mit dem Konsultativrat legt es – bis zum Tod des Scheichs in Abstimmung mit dessen moralischen und religiösen Leitlinien – die politische und militärische Richtung der Organisation fest. Unter dem Vorsitz von Khaled Mashal koordiniert das Büro auch die verschiedenen untergeordneten Komitees.
Eine dieser Subinstitutionen, das Steuerungskomitee Gaza-Streifen ist innerhalb der Hamas-Hierarchie von zentraler Bedeutung. In Absprache mit dem Politbüro lenkt es die Aktivitäten der Abteilung Besetzte Gebiete, Politbüro und Steuerungskomitee sind personell eng miteinander verwoben (siehe Diagramm „Organisationsstruktur der Hamas“). Scheich Ahmad Yassin war Vorsitzender dieses Steuerungskomitees Gaza-Streifen. Noch bedeutender war darüber hinaus seine Rolle als religiöser Wegweiser, wodurch er die gesamte Bewegung als Einheit zusammen hielt.
Die politische Führung der Hamas operiert erfolgreich auf einem grass-root-level in der palästinensischen Gesellschaft und ist für die militärische und strategische Planung der Organisation verantwortlich, während der militärische Arm (Kassem-Brigaden) für die Ausführung von Anschlägen zuständig ist, bei denen bisher 377 Israelis getötet wurden.
Die Hamas basiert auf einer islamistischen Ideologie und orientiert sich regelmäßig neu an der Bevölkerungs- basis. Das heißt, sie setzt die Mehrheit ihrer finanziellen Ressourcen für soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten ein. Im Gegensatz zu etlichen PLO-Funktionären, steht die Hamas-Führung nicht im Ruf korrupt zu sein. Ihre finanzielle Unterstützung bezieht die Organisation von expatriierten Palästinensern, sowie von anderen arabischen Staaten.
Der hohe Beliebtheitsgrad unter der palästinensischen Bevölkerung resultiert schließlich aus sozialem Engagement in Verbindung mit dem andauernden Kampf gegen die Besatzung und damit der Fähigkeit, Israel zu verletzen. Von vielen wird die extremistische Bewegung als inoffizielle Autorität vor allem im Gaza-Streifen angesehen, die die Herrschaft erfolgreicher ausübt, als die offizielle Palästinenser-Führung PA.
Yassins Nachfolge und die Zukunft der Hamas
Konfusion herrscht in der Frage, wer die Nachfolge des Sheichs antritt. Sein ehemaliger Stellvertreter und Pressesprecher Abdel Aziz Rantisi, ein Hardliner wurde vom moderaten Bürochef des Steuerungskomitees, Ismail Haniye, bereits als Kommandeur und Vorsitzenden im Gaza-Streifen verkündet Obwohl die Hamas-Mitglieder dort prinzipiell als moderater gelten, steht Rantisi seinem vertriebenen Mitstreiter, wie Khaled Mashal bezüglich Extremismus nicht nach. Dieser bestätigte ebenfalls, dass Rantisi die Kontrolle der Gruppierung im Gaza-Streifen übernommen hat. Mashals eigene Position wurde durch den Tod Yassins gestärkt, somit vereinigt er nun - zumindest vorerst - die Schirmherrschaft der gesamten Hamas auf seine Person. Palästinensische Quellen bezeichnen Rantisi als den „Leader“, während Mashal „Präsident“ der Hamas genannt wird.
Mahmoud Al Zahar, gemäßigter Mitbegründer der Organisation, annoncierte hingegen interne demokratische Wahlen um die Führungsspitze im Anschluss an die dreitätige Trauer um Yassin. Grundsätzlich lässt die Hamas Interna nicht an die Öffentlichkeit dringen, was bedeutet, dass die Struktur der neuen Führung noch im Dunkeln liegt. Auch können Männer vom Format Rantisis und Mashals die Lücke ihres geistlichen Führers nicht ohne weiteres schließen. Hinzukommend beabsichtigen die Israelis, jeden nachwachsenden Kopf zu liquidieren. Aus diesem Grund wird die Hamas aller Voraussicht nach zukünftig von einem kollektiven Führungszirkel aus dem Untergrund geleitet werden. In dessen Namen werden zivile Sprecher aus den Sozialeinrichtungen den Kontakt mit der Öffentlichkeit pflegen. Das neue Hamas-Gremium soll Yassins übergeordnete Führungsrolle übernehmen.
„Hamasnisierung“
Es ist zu erwarten, dass durch den Tod Yassins in der gesamten palästinensischen Gesellschaft eine Art „Hamasnisierung“ stattfinden wird. Yassins Visionen vom Heiligen Krieg und sein gewaltsamer Tod machten den hochrangigsten palästinensischen Extremisten, der in den letzten drei Jahren von Israelischen Sicherheitskräften getötet wurde, zum Schahid (Märtyrer). Seine Liquidierung wird sämtliche Bevölkerungsschichten animieren, sich mit der Hamas zu solidarisieren. Nicht weil sie der Organisation ideologisch nahe stehen, sondern weil die Vorgehensweise Israels anklingen lässt, dass jegliche Opposition gewaltsam aus dem Wege geräumt werden wird.
Beobachter vermuten, dass Yassins Tod die stärkste Anschlagswelle der zweiten Intifada nach sich ziehen wird. Derzeit ist es noch nicht absehbar, ob die Rechnung der israelischen Regierung aufgehen wird, nach der zwar kurzfristig Anschläge zunehmen werden aber langfristig das Rückrat der Hamas gebrochen wird. Wenn Yassin – wie es die palästinensische Autonomiebehörde behauptet – tatsächlich der „moderate Führer“ war, der Hamas kontrollieren konnte, droht der Hamas eine weitere Radikalisierung. Vor einigen Wochen hatte Yassin verkünden lassen, dass die Hamas unter den gegebenen Bedingungen sich für eine Lösung des Konflikts im Rahmen der 67er Grenzen einverstanden erklären kann und die endgültige Lösung des Konflikts, nämlich die „Rückeroberung des historischen Palästinas“ nachfolgenden Generationen überlässt. Nun wird die Organisation gewiss auf ihre ursprüngliche kompromisslose Haltung zurückfallen.
Der Tod Yassins bewirkt auf jeden Fall eine Destabilisierung der bisherigen Hamashierarchie und wird eine Verschiebung der Machtverhältnisse zur Folge haben. Es ist anzunehmen, dass die Hamas ohne Yassin in zwei ideologisch geteilte Lager zerfallen wird:
- Ein „moderater“ Teil, der wie bisher in den Palästinensergebieten aktiv bleibt und schwerpunktmäßig gegen Israel vorgeht und sich dabei auch auf Kompromisse wie einen Waffenstillstand einlassen kann. Allerdings ist dieser Flügel der Hamas u.a. durch die Ermordung des gemäßigten Abu Shanab stark an Einfluss in der Organisation verloren.
- Ein äußerst extremistischer Teil, der vermutlich den Schulterschluss zum Terrornetzwerk Al-Qaida suchen wird. Dieser hätte einen gravierenden Wandel in Struktur und Strategie im Vergleich zur bisherigen Hamas zur Folge. Früher nur lokal agierend, würde sich die Bewegung dann teilweise dem globalen Vorgehen des internationalen Terrorismus annähern. Anschlagsziele wären neben Israel dann auch die USA.
Unilateraler Rückzug
Das harte Vorgehen des israelischen Ministerpräsidenten gegen die Hamas kann im Rahmen seines unilateralen Rückzugsplans auch als eine Machtdemonstration verstanden werden. Diplomatischen Verhandlungen wird kein Spielraum mehr eingeräumt. Israel hält eine Abtrennung der Palästinenser langfristig für notwendig, um stabile Sicherheit für seine Bürger gewährleisten zu können. Der Befürchtung, ein Rückzug könnte als Schwäche und Flucht vor dem Terror verstanden werden, begegnet die israelische Regierung mit der Liquidierung von Extremisten, um infolgedessen den Gaza-Streifen ohne eine schlagkräftige Hamas zu hinterlassen.
Außer Acht gelassen wurde bei dieser Vorgehensweise offenbar die Option einer Solidarisierung der gemäßigten Fatah mit den extremistischen Organisationen Hamas, Islamischer Jihad und Al-Aksa-Brigaden. Obwohl Hamas und Arafats Fatah im Friedensprozess selten einer Meinung waren, ist nun abzusehen, dass jegliche Verhandlungen mit Israel einhellig zum Erliegen kommen.
Wichtiger als Dialog ist Israelis und Palästinensern, am Ende nicht als Verlierer dazustehen. Die tragische Wahrheit ist, dass mit der Eskalation des „low-intensity“-Konflikt zu rechnen ist. Die Gewaltspirale wird wieder angekurbelt werden. Die Fortführung des Teufelskreises aus gezielten Tötungen, Selbstmordattentaten und gegenseitiger Dämonisierung ist die Folge. Die israelische Regierung ist weit davon entfernt, sich für ein Übereinkommen mit der palästinensischen Autonomiebehörde zur Wiederaufnahme des Dialoges zu bemühen.
Der Teufelskreis aus Attentaten und Gegenattentaten dient weder dem Überleben eines jüdischen Staates noch der Gründung eines palästinensischen Staates.
Die Road Map ist tot
Mit der Tötung von Yassin ist eine neue Ära im palästinensisch-israelischen Konflikt angebrochen. Die ohnehin ins Stocken geratene Road Map ist endgültig gestorben. Die Autonomiebehörde steht vor den Scherben dessen, was einst ein Staat werden sollte. Kurzfristig wird es in den palästinensischen Gebieten um Chaos- und Gewaltmanagement gehen. Mittelfristig ist es zu hoffen, dass es der Autonomiebehörde gelingen wird, Hamas und ihre Anhänger unter Kontrolle zu bringen.
Aus internationaler Sicht stellt sich die dringende Frage, wie eine „Greater Middle East Initiative“ der Amerikaner, die der Region Demokratie bringen soll, umgesetzt werden kann, nachdem nun der Widerstand im gesamten arabischen Raum gegen die Amerikaner wieder gewachsen ist.