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Eine schnelle und friedliche Krisenlösung wird immer unwahrscheinlicher

by Michael Lingenthal
Die Opposition hat mit der größten „Spontandemo“ der Geschichte Venezuelas in friedlich-kreativer Art ihr Unzufriedenheit mit Präsident Chávez manifestiert und seinen Rücktritt gefordert, um den Weg zu Neuwahlen freizumachen. Präsident Chávez weist das Militär ausdrücklich an, alle richterlichen Entscheidungen zu mißachten, die seinem Dekret zur Übernahme von Öleinrichtungen und Transportkapazitäten widersprechen.

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Opposition und Regierung wollen ab 16. Dezember mit neuen Massenaktionen den politischen Kampf fortsetzen. Die Krise verschärft sich und die Bedingungen für die OAS-Vermittlung werden immer schwieriger, die Vermittlung selbst aber dadurch immer wichtiger. Mit Spannung wird der Beschluß des „Ständigen Rates der OAS“ zur Lage in Venezuela erwartet. Die Spannbreite in der OAS reicht von der Unterstützung der Chávez Regierung durch die Karibikstaaten bis zur Forderung nach schnellstmöglichen Neuwahlen durch die USA und wichtige südamerikanische Länder.

Präsident weist das Militär an, die richterliche Anordnung zu ignorieren, wenn sie seinen Anweisungen widersprechen

Präsident Chávez hat sein Rechtsstaatsverständnis am Sonntag in aller Offenheit in seiner fast sechsstündigen Sendung „Aló Presidente“ offenbart. Er hat Anordnung an alle Kommandeure der Streitkräfte gegeben, richterliche Anordnungen nicht länger zu befolgen, wenn sie gegen seine Präsidialdekrete gerichtet sind. Für ihn ist es nicht möglich, dass ein Richter mit einem Gouverneur der Opposition daherkommt und Dekrete des Präsidenten mißachtet.

Hintergrund ist ein Erlaß, welcher die Streitkräfte in die Lage versetzt, notfalls auch mit Gewalt. Öleinrichtungen zu übernehmen. Diese sind seit der Ausrufung des Generalstreiks am 2. Dezember d.J. praktisch paralysiert. Gegen die Intervention von Tankern der Ölflotte Venezuelas und gegen die Beschlagnahme von Privatbesitz (Tankwagen) hatten Richter den Einsprüchen der Betroffenen stattgegeben.

Präsident Chávez hat diesen Sonntag keinen Zweifel daran gelassen, dass er den Öl- und Versorgungskonflikt notfalls mit harter Hand lösen will. Er will auch die Devisenreserven des Landes einsetzen, um Lebensmittel, Benzin und Versorgungsgüter im Ausland einzukaufen. Die Luftwaffe ist angewiesen, Transportraum zur Verfügung zu stellen. Reis aus der Dominikanischen Republik, Milch aus den Niederlanden und aus Kolumbien und Benzin stehen auf der Einkaufsliste.

Die Reaktion der Regierung auf den „zivilen, nationalen Ausstand“ der Opposition beweist, dass der Ausstand große Wirkung zeigt und dass alle Regierungsaussagen zum „Gescheiterten Streik“ von der Regierung selbst nicht länger haltbar sind.

Der Ölkonflikt ist der entscheidende Konflikt, wie bereits mehrfach berichtet. Daher will der Präsident mit ausländischen Arbeitskräften die PDVSA-Angestellten ersetzen, die die Arbeit verweigern. Die Gegenmaßnahmen gegen den Ausstand reichen bis zum Plan, dass wenn 80% nicht arbeiten wollen, 80% mit Ausländern ersetzt werden sollen.

Präsident Chávez läßt vor dem In- und Ausland keinen Zweifel an seiner Standfestigkeit und seinem Beharrungswillen. „Chávez geht? Erstens, nur wenn Gott es will und zweitens wenn es das Volk will, weil die Stimme des Volkes die Stimme Gottes ist“.

Größter Massenprotest in der Geschichte Venezuelas

Mindestens weit mehr als 1 Million Menschen protestierten am 14. Dezember friedlich-fröhlich-kreativ gegen Präsident Chávez. Die Menge forderte den Rücktritt des Staatschefs von Venezuela und „elecciones ya“ (Neuwahlen jetzt). Dichtgedrängt stand die überwiegend junge Menge kilometerlang auf der sechsspurigen Ost-West Autobahn sowie auf den Zubringern. Politische Botschaften, politisches Kabarett der Spitzenklasse, populäre Lieder und Gedenken an die Opfer wechselten sich ab. Wieder hatte sich bei der Opposition die künstlerische und intellektuelle Elite des Landes eingefunden.

Es sind nicht „die Reichen“, die sich versammeln. Venezuela hat nicht eine Million Reiche. Es sind Menschen aller Schichten, aller Hautfarben und aller Ursprungsländer, die die Autobahn einnehmen. Die Bandbreite reicht von den reichen Familien mit Personenschutz bis hin zu Frauen und Männern aus den „marginalen Vierteln“ der Hauptstadt. Eine Million Menschen sind fast ausschließlich aus Caracas zusammengeströmt. Auch wegen der Benzinkrise kommt kaum jemand aus dem Inland in die Hauptstadt. Es sind keine Busse zu sehen, wie bei den Demonstrationen des Oficialismo, wo viele Busse aus allen Regionen gebraucht werden, um die Straßen zu füllen.

Die Opposition unterstrich ihre politische Hauptforderung, den Rücktritt von Präsident Chávez. Die protestierenden Militärs der „Plaza Francia“ wurden gefeiert, aber weit mehr inzwischen die neuen „Helden der Demokratie“, die streikenden PDVSA-Angestellten und allen voran die Delegation der Handelsmarine.

In weniger als 24 Stunden war diese Großdemonstration organisiert, mit den Sicherheitsorganen koordiniert und zusammengerufen. Ab diesem Zeitpunkt war das Internet geradezu blockiert mit Warnungen vor Gewaltakten und Heckenschützen. Die Stimmung ist dermaßen aufgeheizt, dass jede Form von Gerüchten auf beiden Seiten Konjunktur hat. Glücklicherweise trat keines dieser Horrorszenarien ein. Vom Anfang bis zum Ende verlief die Millionenkundgebung störungsfrei. Der Samstag war ein eindrucksvoller Beweis für die Fähigkeit der Opposition zu Massenprotesten, aber auch ein Zeichen, dass die Menschen trotz aller gestreuten Gerüchte die Angst verloren haben. „No tenemos miedo“ (Wir haben keine Angst) skandierte die Menge ein ums andere Mal.

OAS mit doppeltem Einsatz: Vermittlung sowie Ständiger Rat

Noch am 13. Dezember hatte OAS-Vermittler, César Gaviria, angekündigt, das Wochenende für Einzelgespräche zu nutzen, um die Lage zu entspannen und Lösungen der Krise zwischen Regierung und Opposition auszuloten. Zuvor hatte er festgestellt, dass „man keinesfalls nah an einer Lösung (der Staatskrise) sei“. „Die Regierung verhöhnt die OAS“ hatte die Tageszeitung „La Voz“ noch am Freitag getitelt und damit auf die Verzögerungstaktik der Regierung am Verhandlungstisch gezielt.

Im „Ständigen Rat der OAS“ hatte Venezuelas OAS-Botschafter, Jorge Valero, eine flammende Anklage gegen Opposition und Medien mit den bekannten Argumenten, „Ausstand gleich Vorbereitung von Putsch und Terror“ vorgetragen. Sichtlich indigniert reagierten etliche Länder. Und fast zeitgleich Botschafter Valero den Respekt der Regierung Chávez vor dem Rechtsstaat verkündete, zeigte Heeresgeneral Garneiro sein besonders Rechtsstaatsverständnis. Er ignorierte glatt eine Anordnung des 1. Verwaltungsgerichts, welches der Armee die Rückgabe der Installationen der „Policia Metropolitana“ auferlegt hatte.

Die OAS wird am Montag dem 16. Dezember ihre Beratungen über Venezuela fortsetzen. Die Karibikstaaten haben bislang die Regierung Chávez unterstützt. Hier zahlt sich für Präsident Chávez die besondere Pflege der Vielzahl der kleinsten OAS-Mitglieder sowie ganz offensichtlich die Vorzugsölabkommen aus. Argentinien, Kanada, Peru und USA drängen auf eine Respektierung der Opposition und drängen auf eine Lösung der Krise. Die USA hatten in Venezuela selbst aber auch vor der OAS auf vorgezogene Neuwahlen gedrängt.

Diese Forderung lehnte Präsident Chávez als verfassungsmäßig nicht möglich ab und empfahl dem Ausland vor Ratschlägen die „Bolivarianische Verfassung“ zu lesen, damit sich das Ausland nicht in die Nähe von Putschisten begibt. Mit Genugtuung zitiert Präsident Chávez für ihn freundliche Artikel der Auslandspresse und Solidaritätsadressen von der Vereinigten Linken Spaniens bis hin zu den Grünen im Europaparlament. Ohne Zweifel erfährt Chávez Unterstützung von eher am linken Spektrum angesiedelten Parteien und Gruppen in Lateinamerika und Europa. Für diese Organisationen ist er der Mann, der sich Neoliberalismus, Globalisierung und Kapitalismus entgegenstellt und deshalb von den „Reichen und Mächtigen“ vernichtet werden soll.

Vorgezogene Neuwahlen haben für Chávez den Charakter eines „Staatsstreichs“. Wieder hat der Präsident alle Möglichkeiten einer Verhandlungslösung unter Vermittlung der OAS vereitelt. Wieder hat er verdeutlicht, dass er als Staatschef keineswegs bereit ist angesichts des anhaltenden Massenprotestes auf die Opposition zuzugehen oder den Souverän entscheiden zu lassen. Vielmehr verschärft er den Konflikt, mit allen Mitteln und provoziert die nationale und internationale Öffentlichkeit indem er zur Demonstration der Million erklärt „habe ich nicht gesehen, habe gearbeitet und eine Serie von Besprechungen gehabt“.

Die OAS wird sich am Montag aber auch mit einem formellen Schreiben der Opposition zu den Vorfällen, insbesondere des Wochenendes, befassen müssen. Die „Coordinadora Democrática“ bezeichnet das Vorgehen von Präsident Chávez als „autogolpe“ (Staatsstreich von oben), weil er die Gewaltenteilung aufhebt indem er seine Anweisungen und das Militär über die unabhängige richterliche Gewalt stellt. Die Opposition wirft Präsident Chávez wörtlich vor, dass „Sie nicht aufgehört (haben), Putschist zu sein“ und bezieht sich auf die von Chávez verursachten Staatsstreichversuche vom 04.02. und 27.11.1992.

Perspektiven

Eine schnelle und friedliche Lösung der Krise wird immer unwahrscheinlicher. „Welche Krise?“ fragt Präsident Chávez ausländische Reporter zurück. Streik und Krise werden glattweg negiert und allenfalls als „Terror“ und „Putsch“ bezeichnet. Das Millionen friedlich demonstrierender Menschen in allen Regionen des Landes eine politische Lösung über Wahlen wollen, wird mit der gebetsmühlenartigen Formel „referendo revocatorio“ (Abberufungsreferendum) ab dem 3. August 2003 zurückgewiesen. Selbst wenn es innerhalb der Opposition unterschiedliche Flügel und Auffassungen gibt, die Nichtbeachtung eines Massenprotestes dieses Ausmaßes kommt einer direkten Provokation gleich.

Aber auch die Gegenseite bezichtigt ihrerseits die Opposition der Provokation. Provokateure sind die privaten Medien. Der Oficialismo ist überzeugt, dass „das Volk gewinnt“ und ruft zu diesem Kampf die Anhänger auf die Straße.

Die Gefahr besteht, dass durch das Gemisch von Militarisierung, Mißachtung der Justiz durch den Präsidenten, Provokation der Opposition und die aufgeheizte politische Atmosphäre eine Situation entsteht, die noch mehr Opfer als bislang fordert. Einen Vorgeschmack geben die Angriffe von Chávez-Anhänger, die erneut wie am Freitag zur „Plaza La Candelaria“ mit Autobussen anrücken und die „Cacerolazos“ der Opposition angreifen. Nur mit massivem Tränengaseinsatz können die Sicherheitskräfte die beiden Lager trennen.

Gefährlich ist auch der Aufruf eines profilierungssüchtigen Oppositionspolitikers, sich vor der Botschaft Indiens zum Protest zu versammeln, weil angeblich Schiffsmannschaften aus Indien die Tankerflotte übernehmen sollen. Zu Recht wird dieser Aufruf von der Regierung verurteilt, aber auch Medien und Opposition erklären ihr Nichteinverständnis mit der Einzelaktion. Sie befürchten zu Recht einen erneuten Imageverlust der Opposition, just zu dem Zeitpunkt, als die Opposition sich mehr und mehr von ihrem Negativimage des April 2002 (Umsturzversuch) löst und mit ihren friedlichen Massenprotesten die Weltöffentlichkeit beginnt zu überzeugen.

Die Opposition ist mehr denn je davon überzeugt, dass sie die politische Auseinandersetzung bestehen kann. Sie befürchtet aber auch, dass der Weg zu einer politischen Lösung zunächst noch mehr Opfer und Repressionen erfordern wird.

Als Reaktion auf die Anweisung an die Armee, Richterurteile nicht mehr zu akzeptieren, will die Opposition für Montag, 16. Dezember, für die Zeit von 6 bis 13 Uhr den Verkehr an Schlüsselpositionen lahmlegen und Straßen und Plätze bevölkern.

Trotz oder gerade wegen dieses Szenarios betont die Opposition die Notwendigkeit von OAS-Vermittlung und Neuwahlen. „Je schlimmer der Konflikt, desto wichtiger ist die OAS-Vermittlung“ betont das Delegationsmitglied Zambrano und fordert die OAS eindringlich auf, im Land zu bleiben.

Die Problematik der aktuellen Politik läßt sich mit gleichzeitigen Partien auf unterschiedlichen Spielfeldern beschreiben. Die Politik in Venezuela spielt eben nicht mehr auf einem gemeinsamen Feld nach gleichen Regeln des politischen „fair play“. Es hat den Anschein, als ob Präsident Chávez mit seiner „Bolivarianischen Revolution“, die so nirgends in der gültigen Verfassung verankert ist, ein eigenes Spielfeld (Bolivarianische Revolution) mit eigenen Regeln (Parallelsystem) betreten hat. Ausgerechnet die Opposition verbleibt auf dem Spielfeld der „República Bolivariana de Venezuela“, selbst wenn sie eigentlich dieses Konzept zu großen Teilen ablehnt, und müht sich um Verfassungsreformen, die schnelle Neuwahlen ermöglichen. Und OAS-Generalsekretär César Gaviria ist verzweifelt bemüht, beide Mannschaften schnell und wenigstens zeitweise auf ein gemeinsames „Trainingsfeld“ zu ziehen und zur gemeinsamen Akzeptanz seiner Regeln zu bewegen um im wahrsten Sinne des Wortes weiteres Blutvergießen zu vermeiden.

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December 16, 2002
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