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Garry Knight / Public Domain

Country reports

Erneuter Volksentscheid?

by Felix Dane
Deutlich über eine halbe Millionen Menschen gingen am vergangenen Samstag in London auf die Straße, um für ein neues Referendum über die endgültigen Bedingungen des Austritts Großbritanniens aus der EU zu demonstrieren. Eine Demonstration dieser Größe hat das Land seit den Protesten gegen den Irak-Krieg im Jahr 2003 nicht mehr erlebt; damals gingen weit über eine Millionen Menschen auf die Straße. Im Jahr 2003 zeigte sich die Regierung weitgehend unbeeindruckt, deren Position blieb unverändert.

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Obwohl Großbritannien einen sonnigen Herbst erlebt, ist die Stimmung im Land deutlich angespannt, gereizt und düster. Die Verhandlungen zum Austritt aus der EU stocken und ein sogenannter harter Brexit scheint immer wahrscheinlicher. In diesem von Unsicherheit geprägten Kontext hat die Kampagne “People’s Vote“ neuen Aufwind bekommen und es geschafft, am vergangenen Samstag (20. Oktober 2018) nach eigenen Angaben rund 700.000 Menschen auf die Straßen zu locken, um für ein erneutes Referendum zu demonstrieren. Die Kampagne übertraf damit ihre eigenen Erwartungen; ursprünglich wurde nur mit circa 100.000 Teilnehmern gerechnet. Die Demonstration verlief friedlich. Die Demonstranten kamen aus allen Bevölkerungsschichten und Landesteilen; auffällig war jedoch die große Anzahl junger Menschen, die zum Teil im Brexit-Referendum von 2016 noch nicht stimmberechtigt waren. Aus dem gesamten Parteienspektrum finden sich Befürworter eines neuen Referendums, und einige Tory- und Labour-Abgeordnete haben sich bereits prominent hinter die Kampagne gestellt und bei der Demonstration am vergangenen Samstag Farbe bekannt. Dies unterstreicht die tiefe Spaltung hinsichtlich des Brexits auch innerhalb der Parteien, denn bisher hatten sich beide Parteien nicht bzw. ablehnend zu einem erneuten Volksentscheid positioniert.

Am 23. Juni 2016 hatten die Briten 52% zu 48% für den Austritt aus der EU gestimmt, jetzt scheint die Stimmung im Land allerdings zu kippen. Laut einer Eurobarometer-Umfrage der letzten Woche wären nun 53% für den Verbleib in der EU und nur noch 35% für den Austritt. Zwar sind 53% eine deutliche Umkehr – und der Trend ist steigend – jedoch stellt dies bei Weitem keine überwältigende Mehrheit dar. Die Anzahl derer, die nach wie vor skeptisch der EU gegenüberstehen oder sich gerade durch die Verhandlungen mit der EU zum Brexit in ihrer Meinung bestärkt fühlen, dass Großbritannien nicht in die EU passe, bleibt weiterhin groß. Insofern wäre der Ausgang eines erneuten Volksentscheids auch von der genauen Formulierung der Frage abhängig, geschweige denn von der Stimmung im Land zum Zeitpunkt des Referendums. Im Zweifelsfall könnte ein erneutes Referendum die tiefe Spaltung in der Gesellschaft noch weiter verschärfen.

Fraglich bleibt, ob ein zweites Referendum erfolgreich wäre, und ob es juristisch zustande kommen und zeitlich noch vor dem offiziellen Austritt Großbritanniens aus der EU am 29. März 2018 realisiert werden könnte. Dafür müsste zunächst das Parlament primäre Gesetzgebung verabschieden, was viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Um den Vorgang noch zu verkomplizieren, müsste eine Wahlkommission die Verständlichkeit der vorgeschlagenen Referendums-Frage bewerten während der Gesetzentwurf das Parlament durchliefe; dies würde rund zehn Wochen dauern. Nachdem der Gesetzentwurf königliche Zustimmung gefunden hätte, müsste genügend Zeit eingeplant werden, um das Referendum zu organisieren: Wahlhelfer müssten ernannt werden, und der gegenwärtige Rechtsrahmen legt einen zehnwöchigen Kampagnenzeitraum vor. Die Gesetzgebung für das Brexit-Referendum im Jahr 2016 wurde dreizehn Monate vor der Abstimmung am 23. Juni eingereicht. Die Frage ist also nicht nur, ob unter den gegenwärtig außergewöhnlichen Umständen der Zeitrahmen für jeden dieser Schritte minimiert werden könnte, sondern auch was die Konsequenzen eines solch verkürzten Verfahrens wären.

Das Referendum von 2016 war rechtlich nicht bindend, jedoch sah sich die Regierung aufgrund des massiven politischen Drucks dazu aufgefordert, es als bindend zu behandeln. Ein erneutes Referendum könnte ebenso gehandhabt werden, dies ist juristisch jedoch nicht klar definiert. Fraglich ist auch weiterhin, ob das Parlament einem zweiten Referendum überhaupt zustimmen würde. Sollte dies der Fall sein, dann würden die gewählten Volksvertreter de facto selbst kapitulieren und die Frage zum Verbleib Großbritanniens in der EU an das Volk zurückgeben. Das Parlament befindet sich derzeit in einem Machtkampf mit der eigenen Regierung, da es fordert, über einen finalen Brexit-Deal abzustimmen. Die Abgeordneten wollen nicht nur einen möglichen Deal absegnen, sondern sich direkt in die Inhalte des Abkommens zum EU-Austritt einbringen. Ob ein Parlament in einem Machtkampf dieser Größenordnung dazu bereit wäre, die Frage zum EU-Austritt an das Volk abzugeben, ist durchaus fraglich. Auch wenn sich Politiker aller Parteien hinter die Kampagne zu einem erneuten Volksentscheid stellen, so bleibt die Stimmung im Parlament, was ein zweites Referendum anbelangt, eher verhalten.

Brexit-Verhandlungen

Der Erfolg der Kampagne für ein zweites Referendum hat vor allem zwei Gründe: Zum einen haben die Brexit-Verhandlungen mit der EU einen aufklärenden Charakter. Während noch im Vorlauf zum Referendum diverse Fehlinformation gestreut wurden und ein sehr rosiges Bild eines “freien“ Großbritanniens gezeichnet wurde, ist nun klar, dass viele dieser Versprechen nicht realisierbar sind. Auch haben sich die Brexit-Vorbereitungen bisher sehr negativ auf das Königreich ausgewirkt, obwohl der Brexit de jure noch nicht stattgefunden hat. So hat das Königreich nicht nur mit einer anhaltenden Pfundschwäche zu kämpfen, sondern auch mit einer steigenden Inflation, stagnierenden bis rückläufigen Preisen auf dem Wohnungsmarkt und täglich neuen Hiobsbotschaften bezüglich Unternehmen, die im Falle eines harten Brexit ihre Produktion nicht wie gewohnt fortführen könnten. Somit hat eine gewisse Ernüchterung eingesetzt, obwohl die britische Wirtschaft derzeit insgesamt gute Zahlen liefert und die Arbeitslosenquote sogar weiter gesunken ist.

Der zweite Grund liegt wohl in den Brexit-Verhandlungen an sich. Diese scheinen festgefahren, und die Frage um die irische Grenze scheint unlösbar zu sein. Man traut der Regierung kaum noch eine Lösung zu, denkt aber auch nicht, dass Neuwahlen eine Möglichkeit zur Lösung des Problems darstellen könnten. Der Grund hierfür ist, dass nicht nur die Conservative Party, sondern auch Labour tief gespalten ist; Parteiführer Corbyn stand der EU schon immer kritisch gegenüber und sprach sich während des Labour-Parteitags nicht offen gegen den Brexit aus. Auch fürchtet die Wirtschaft eine Regierung unter Corbyn mehr als den Brexit, da dieser anstrebt, Teile der Versorgungswirtschaft wie Strom oder Bahn zu verstaatlichen. So verwundert es kaum, dass die Conservatives vorgezogene Wahlen höchstwahrscheinlich gewinnen würden, trotz der oft kritisierten Regierung unter der Führung von Theresa May. Laut einer YouGov Umfrage zu Beginn des Monats würde die Wahl mit 42% zu 36% zugunsten der Conservative Party ausgehen.

Die Zeit aber rennt weiter unaufhörlich, denn ein Abkommen zum Austritt Großbritanniens aus der EU sollte spätestens im Herbst stehen, da dieses noch durch das Europäische Parlament und das britische Parlament ratifiziert werden muss. Der Knackpunkt ist nach wie vor die irische Grenze: sollte Großbritannien die EU verlassen, würde eine Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland entstehen. Diese würde den gerade einmal zwanzig Jahre alten Frieden auf der irischen Insel gefährden. Eine Sonderregelung für Nordirland ist wiederum für das Königreich inakzeptabel, da es die Integrität Großbritanniens infrage stellen und der Landesteil durch eine Grenze in der irischen See getrennt würde. Solch ein Szenario ist vor allem für die Democratic Unionist Party (DUP) in Nordirland nicht zu akzeptieren. Die Regierung ist jedoch auf die Stimmen der DUP im Parlament angewiesen, um eine konsistente Mehrheit zu garantieren. Derzeit werden Entscheidungen im Parlament oftmals nur mit einer knappen Mehrheit der Stimmen gewonnen und entsprechend schwierig wäre es, ein Brexit-Abkommen jeglicher Form durch das Haus zu bekommen.

Sollte kein Abkommen zwischen Großbritannien und der EU erzielt werden, würde es am 29. März 2019 zu einem harten Brexit kommen, also einem unmittelbaren Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ohne Übergangsphase. Eine Übergangsphase würde theoretisch zwei Jahre andauern, allerdings nur wenn ein Abkommen fest ausgehandelt wurde. Da eine Aushandlung neuer Handelsabkommen zwischen der EU und Drittstaaten viel Zeit beansprucht, wird seit dem letzten Ratstreffen am 17. und 18. Oktober über eine Verlängerung der Übergangsphase gesprochen. Hierfür wurde Premierministerin Theresa May von allen Seiten scharf kritisiert, was erneut zu Spekulationen bezüglich einer sogenannten “leadership challenge“ führte. Um eine Vorsitzendenwahl innerhalb der Conservative Party auszulösen, müssten im sogenannten “1922 Ausschuss“ mindestens 15% der Fraktionsmitglieder (zurzeit macht das 49 Abgeordnete) per Brief dem Parteivorsitzenden ihr Vertrauen entziehen. Scheitert die Wahl, so darf der Parteivorsitzende im Amt bleiben und ein Jahr lang nicht angefochten werden. Gerüchte, denen zufolge der Vorsitzende des “1922 Ausschusses“, Sir Graham Brady, beinahe die Anzahl von Unterschriften erhalten habe, halten sich zwar hartnäckig; Theresa May aber wurde schon oft abgeschrieben. Die Brexit-Befürworter befürchten, dass es zu einem weichen Brexit kommen könnte, sollte niemand aus den eigenen Reihen die Parteiführung übernehmen. Die Brexit-Gegner befürchten das Gleiche, allerdings umgekehrt. Und für einen “leadership contest“ ist es eigentlich auch schon zu spät, denn wer könnte realistisch gesehen in der knapp verbleibenden Zeit eine Einigung mit der EU erzielen?

Ausblick

Alles weist derzeit auf einen harten Brexit hin, da schier unlösbare Probleme auf dem Tisch liegen, die Regierungspartei offen gespalten ist, die Opposition in der gleichen Frage ebenfalls gespalten ist und die Bevölkerung das Vertrauen in die Politik zum größten Teil verloren hat. In diesen Rahmenbedingungen scheint der Ruf nach einem erneuten Referendum mehr als angebracht. Ein zweites Referendum könnte in der Tat die Karten neu mischen und neuen Schwung in die verfahrene Situation bringen. Einige hoffen auch, dass damit der Brexit gleich ganz gestoppt werden könnte. Vereinzelt ist auch zu vernehmen, dass Beamte bereits Szenarien für ein derartiges Referendum durchspielen. Die Premierministerin stellte bisher stets klar, dass sie streng gegen einen erneuten Urnengang ist. Die Frage, wie der Brexit ausgehen wird, bleibt also unbeantwortet. Nach wie vor ist alles möglich – ein Abkommen in letzter Minute, ein erneutes Referendum mit ungewissem Ausgang oder gar ein harter Brexit. Aufgrund des Zeitdrucks und der beschriebenen Dynamiken scheint letzteres Szenario derzeit aber leider am wahrscheinlichsten.

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