Country reports
Zucker ist in Brasilien seit Beginn der Kolonisierung durch die portugiesischen Eroberer ein zentraler Wirtschaftsfaktor des Landes. Die Erschließung und Entwicklung des Landes ging lange Zeit einher mit der Ausweitung der Zuckerrohrplantagen. Zucker hat die Entwicklung von Land und Leuten maßgeblich beeinflusst. Man denke nur an die afrikanischen Sklaven, die zur Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen ins Land gerufen wurden und deren Nachkommen heute. Vor diesem Hintergrund hat die jüngste Entscheidung der WTO in Sachen Zucker nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine kulturelle Dimension.
Anfang August 2004 hat die Welthandelsorganisation zwei für Brasilien wichtige Entscheidungen getroffen. Am 1. August wurde im Hinblick auf die Fortsetzung der sogenannten Doha-Runde vereinbart, dass Exportsubventionen für Agrarprodukte eingestellt werden sollten. Wenige Tage später, am 04. August, entsprach die WTO mit einer vorläufigen Entscheidung einer Klage Brasiliens, Thailands und Australiens und forderte, die EU möge die Subventionen für ihre Zuckerproduzenten revidieren und „ihre Maßnahmen in Einklang“ mit internationalen Normen bringen. Das war bereits ein zweiter Spruch der WTO zu Agrarfragen innerhalb weniger Monate. Eine erste Entscheidung war im April des Jahres gefallen, als die Welthandelsorganisation einer anderen Klage Brasiliens entsprach und eine Änderung der milliardenschweren Subventionen der USA für ihre Baumwollproduzenten verlangte.
In Brasilien ist der jüngste Spruch der WTO mit noch größerem Beifall aufgenommen worden als die Entscheidung in Sachen Baumwolle. „Brasilien gewinnt den Zuckerkrieg mit Europa“ lautete die Schlagzeile der Zeitung „O Estado de São Paulo“ am 05. August und ähnlich wurde die Nachricht auch von anderen Medien, Regierungskreisen und der Wirtschaft kommentiert. In einer ersten Verlautbarung schätzte der Zuckerverband von São Paulo Exporte in den nächsten beiden Jahren um 2 Millionen Tonnen steigen könnten. Ähnlich argumentierte die Regierung, nach deren Schätzungen bei einem Wegfall der EU-Überschüsse auf dem Weltmarkt, Brasilien, sofern es nur 30% des freien Bedarfs decken könne, etwa 1,5 Millionen Tonnen mehr verkaufen und 400 Millionen US $ mehr verdienen würde.
Zwar wird davon ausgegangen, dass die EU Widerspruch gegen den Spruch der WTO einlegen werde. In der Sache jedoch wird es wohl keine andere Entscheidung geben, zumal nach Einreichung der Klage durch jene drei Länder sich 22 weitere Staaten, darunter die USA, Kuba, Indien und China, als Dritte dem Verfahren angeschlossen hatten. Auch die Beteuerungen der Europäer, ihr System der Zuckersubventionen zu ändern, hat die WTO nicht von dem Urteilsspruch abgehalten. Auf Grundlage der seit 1995 geltenden Regelungen, haben die Europäer Anspruch auf Export von 1,3 Millionen Tonnen subventioniertem Zucker. 2002 aber hatten sie 5 Millionen Tonnen Zucker exportiert.
Die brasilianische Klage betraf einerseits die Subvention von Zuckerexporten der EU. Nach Feststellung der WTO hat die EU die erlaubte Grenze um 2,7 Millionen Tonnen überschritten. Brasilien behauptete, ohne diese subventionierten Exporte wäre der Zuckerpreis auf dem Weltmarkt um 20% höher. Die EU dagegen machte geltend, dass Brasilien seine Exporte in den letzten zehn Jahren von 1,3 auf 13 Millionen Tonnen verzehnfacht habe, was einen Preisverlust provozierte. Andererseits hat Brasilien dagegen geklagt, dass die EU den AKP-Staaten Importpräferenzen gewähre, gleichzeitig aber 1,6 Millionen Tonnen Zucker, die zunächst aus jenen Staaten importierten wurden, wieder auf dem Weltmarkt verkaufe. Dadurch werde die brasilianische Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Diese Menge trage zusätzlich zu den überhöhten Zuckerexporten der EU bei.
Beide Seiten können nun ihre Meinung zu dem Schiedsspruch der WTO abgeben und dann dagegen Widerspruch einlegen. Eine endgültige Entscheidung wird danach für das Frühjahr 2005 erwartet.
Neue Investitionen erwartet
Ungeachtet des vorläufigen Charakters des WTO-Spruches werden zusammen mit zunehmenden Exporten auch unmittelbare Effekte für die Investitionen im Zuckerbereich erwartet. Brasilien ist heute bereits der größte und wettbewerbsfähigste Zuckerproduzent der Erde. Nach Berechnungen des Zuckerverbandes UNICA beträgt die Anbaufläche des Zuckerrohrs 5 Millionen Hektar. Knapp zwei Drittel der brasilianischen Produktion in Höhe von ca. 23 Millionen Tonnen Zucker gehen in den Export. Die Europäische Union exportiert dagegen weniger als ein Drittel ihrer Produktion von ca. 18 Millionen Tonnen. Bemerkenswert sind die unterschiedlichen Produktionskosten, die sich in Brasilien auf 90 US $ / Tonne belaufen, in Europa dagegen US $ 700 / Tonne betragen.
Von besonderer Bedeutung ist der aus Zucker gewonnene Bioalkohol. In diesem Bereich werden weitere wichtige Investitionen erwartet. UNICA erwartet bis zum Jahr 2010 Investitionen in Höhe von 6 Milliarden US $ Dollar und eine Ausweitung der Anbaufläche von derzeit 5,5 Millionen Hektar um weitere 2 Millionen ha sowie einen Produktionszuwachs von 160 Millionen Tonnen auf 519 Millionen Tonnen. In diesem Zusammenhang wird die Schaffung von 400.000 neuen Arbeitsplätzen und ein Exportvolumen von 4 Milliarden US $ erwartet. Im Land werden zur Zeit etwa 40 neue Zuckerfabriken projektiert, insbesondere im Zentral-Süden. Einige befinden sich bereits in Bau und sollen ihre Fabrikation bis Jahresende aufnehmen.
Der Absatz von Fahrzeugen, die biologische Treibstoff verwenden, verläuft in Brasilien selbst sehr gut. Angesichts der hohen internationalen Rohölpreise wird mit weiteren Zuwächsen in diesem Markt gerechnet. Das ist die größte Boomphase des sogenannten PROÁLCOOL-Programm seit seiner Einführung infolge der Ölpreiskrise der siebziger Jahre. Damals begann der Staat damit die Entwicklung und Produktion von Fahrzeugen zu fördern, die auf der Basis von aus Zuckerrohr hergestelltem Äthylalkohol betrieben werden können. In den neunziger Jahren geriet dieses Programm zur Nutzung regenerativer Energieträger im Kfz-Verkehr in eine Krise, erlebt in den letzten Jahren jedoch einen neuen Aufschwung. Begünstigt wird dieser Sektor auch durch die im Kyoto-Protokoll vereinbarten Obergrenzen für den Ausstoß von Treibgasen.
Großes Interesse an brasilianischem Bioalkohol hat u.a. Japan angemeldet, dessen Bedarf auf 1,8 Milliarden Liter Alkohol pro Jahr geschätzt wird. In Brasilien selbst liegt der Verbrauch bei 600 Millionen Liter pro Jahr. Bereits knapp 30 % der im Land verkauften Fahrzeuge können mit Alkohol betrieben werden. UNICA hofft auf einen weiteren rasanten Anstieg des Anteils der mit Alkohol betriebenen Automobile; optimistische Schätzungen erwarten einen Anteil von bis zu 67%.
Erfolg der „neuen“ Außenpolitik
Die Entscheidung der WTO wurde in Brasilien auch als ein Erfolg der „neuen“ Außenpolitik der Regierung Lula gefeiert, die sich sehr um einen engeren Schulterschluss der Entwicklungs- und Schwellenländer bemüht und deren Interessen offensiver gegenüber den Industrieländern vertritt. Das war bereits im vergangenen Jahr während der Tagung der WTO in Cancún festzustellen, als eine von Brasilien koordiniere Ländergruppe (G-20) eine schnelle Einigung verhinderte, was zum Scheitern jener Konferenz beitrug. Im April erreichte Brasilien die erwähnte Baumwollentscheidung der WTO und im Juli wurde Brasilien eingeladen, zusammen mit den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, Australien und Indien im Rahmen der „Nicht-Gruppe der Fünf“ (G-5) mitzuarbeiten, damit die Barrieren der Doha-Runde der WTO beseitigt werden könnten. Brasilien hat somit viel neue Verantwortung im Rahmen des multilateralen Entscheidungsprozesses auf internationaler Bühne übernommen.
Allerdings müssen das Land und seine Regierung dann auch bereit sein, mittelfristig in anderen Bereichen diejenigen Regeln anzuwenden, deren Einhaltung sie nun mit Erfolg gegenüber der EU und den USA einklagten. Europa und die Vereinigten Staaten fordern seit einiger Zeit eine Öffnung der Weltmärkte für Industrieprodukte wie Schuhe, Textilien, Autoteile, Fahrzeuge, Haushaltsgeräte etc. Brasilianische Regierungsvertreter und Unternehmer reagieren auf solche Forderungen vielfach noch sehr abweisend und ängstlich. Ganz zu schweigen vom Bereich des öffentlichen Auftragswesens, bei dem Brasilien auf Forderungen nach Öffnung und Transparenz bisher sehr sensibel und zurückhaltend reagiert. Nicht zuletzt diese Themen aber behindern die Verhandlungen über ein Gesamtamerikanisches Freihandelshabkommen (ALCA) und sie belasten auch die Verhandlungen über ein Abkommen mit der Europäischen Union. Schon wegen der eigenen Glaubwürdigkeit wird man kaum umhinkommen, auch in jenen schwierigen Themen offenere Positionen einzunehmen.
Verhandlungen EU – MERCOSUR treten auf der Stelle
Vom 10. bis 12. August fand in Brasilia eine weitere Runde der Verhandlungen über den Abschluss eines Assoziationsabkommens statt. Die vorhergehende Verhandlungsrunde in Brüssel war Mitte Juli gescheitert, weil die Vertreter des MERCOSUR unvermittelt die Gespräche abbrachen. Anlass dafür war die Enttäuschung über die von den Europäern präsentierte Offerte im Agrarbereich, die hinter ihren Erwartungen zurückblieb. Seitens der MERCOSUR-Delegation waren Äußerungen des EU-Handelskommissars Pascal Lamy so verstanden worden, als würde die EU größere Zugeständnisse unterbreiten. Das betraf insbesondere die Importquoten für Rind- und Hühnerfleisch. Nun richteten sich die Hoffnungen darauf, dass in Brasilia konkrete Fortschritte erreicht würden, um – wie von den Regierungschefs beider Seiten am Rande des Gipfeltreffens zwischen Europa und Lateinamerika im Mai im mexikanischen Cancún vereinbart - die Verhandlungen bis Oktober abzuschließen. Schon wird von verschiedenen Beobachtern befürchtet, dass am Ende nur ein Abkommen „light“ vereinbart wird, das bei den sensiblen Fragen keine substantiellen Fortschritte gegenüber dem Status quo enthält. Die angestrebte Vertiefung der beiderseitigen Beziehungen bliebe dann nur Stückwerk.
Vor den Gesprächen in Brasilia machten beide Verhandlungsführer noch einmal deutlich, wo sie die größten Hürden bei der jeweils anderen Seite sahen. Der brasilianische Verhandlungsführer pochte auf weiteren Zugeständnissen im Agrarbereich, während der EU Vertreter eine weitere Öffnung des MERCOSUR im Bereich der Industrie und den Dienstleistungen anmahnte, womit insbesondere Brasilien angesprochen war. Die EU-Delegation betonte, das bisherige Angebot enthalte die bislang weitestgehenden Zugeständnisse der EU im Agrarbereich, die jemals in Verhandlungen angeboten worden wären und ermöglichten zusätzliche Importe des MERCOSUR in Höhe von 3 Milliarden Euro; dagegen bringe die Öffnung des südamerikanischen Blockes für die Europäer nur einen Zugewinn über 1,65 Milliarden Euro. Die MERCOSUR-Vertreter dagegen mahnten die Vorlage eines Gesamtpakets mit allen Zugeständnissen der EU im Agrarbereich an. Zunächst wurden solche Verlautbarungen dem üblichen Theaterdonner vor Eintritt in die konkreten Verhandlungen zugeschrieben.
Umso größer war die Überraschung, als die Verhandlungen am 12. August ohne Ergebnis abgebrochen wurden, weil keine der beiden Seiten konkrete neue Angebote präsentieren wollte. Wieder waren es die alten Themen, die als Vorwand zum Abbruch der Gespräche angeführt wurden: seitens des MERCOSUR das Ausbleiben erweiterter Quoten im Agrarbereich, seitens der EU das Ausbleiben eines Angebots beim öffentlichen Auftragswesen; daneben sind noch keine Ergebnisse bei den Themen Dienstleistungen, Investitionen und Industriegüter erreicht worden. Zwar wurde vereinbart, die Gespräche im September fortzusetzen, doch besteht auf beiden Seiten Skepsis, ob es gelingt, noch bis Oktober - das heißt vor dem Amtsantritt der neuen EU-Kommission - ein Abkommen zu erzielen. Der Wechsel der EU-Kommission aber kann die gesamten Verhandlungen wieder ein gutes Stück zurückwerfen, denn es ist keineswegs gesichert, mit welchem Mandat die Verhandlungen fortgesetzt werden können. Zwar mag der künftige Handelskommissar Peter Mandelsson aus Großbritannien dem EU–Protektionismus gegenüber kritischer eingestellt sein als sein Vorgänger, der Franzose Pascal Lamy. Doch sein Verhandlungsspielraum wird von den Mitgliedsstaaten definiert und es ist fraglich, ob die erweiterte EU noch die gleichen Interessen an einem Abkommen mit dem MERCOSUR hat. Für den MERCOSUR und insbesondere für Brasilien könnte es sich am Ende als problematisch erweisen, so sehr auf weitere Zugeständnisse in der Agrarfrage gedrängt zu haben. Denn einerseits ist Europa bereits der bei weitem wichtigste Abnehmer der Agrarprodukte aus Südamerika und zum anderen könnte sich ohne ein Abkommen die Situation der MERCOSUR-Länder auf dem europäischen Markt schon mittelfristig dramatisch erschweren. Mit China und Indien, um nur die beiden wichtigsten zu nennen, trifft Brasilien auf starke Konkurrenten, die beispielsweise in dem ab nächstem Jahr liberalisierten EU-Textilmarkt den Südamerikanern das Leben sehr schwer machen dürften.