Auch wenn die Bewegung der Gelbwesten inzwischen längst ihren Zenit überschritten hat, spiegelt sie auf eklatante Weise den Bruch vieler Franzosen mit der Politik wider. Die politische Vertrauenskrise bleibt trotz rückgängiger Teil-nehmerzahlen bei den Demonstrationen und sinkenden Zustimmungswerten in der Bevölkerung ein Pulverfass, das die französische Regierung ernst nehmen muss. Die zweimonatige „Große Nationale Debatte“ (Grand débat national), die – einer „Partnertherapie“ vergleichbar – die Bürger wieder für Politik begeistern und Politiker wieder zur Basis zurückführen sollte, wird nur dann ihre Früchte tragen, wenn sie einerseits für die Bürger spürbare Änderungen mit sich bringt, andererseits das Land nicht erneut in die Reformstarre zurückführt. Bereits in der zweiten Aprilwoche hatte Premierminister Édouard Philippe angekündigt, dass die Regierung ins-besondere die Steuerlast der Bürger verringern und die politische Teilhabe vergrößern wolle. Die am Abend des 15. April vorgesehene Rede von Präsident Macron, bei der er konkrete Maß-nahmen verkünden wollte, wurde aufgrund der Brandkatastrophe in der Pariser Kathedrale Notre Dame kurzfristig abgesagt.
Die Gelbwesten-Bewegung
Mehr als ein Sturm im Wasserglas?
Am 14. April 2019 fand die 22. Demonstration der Gelbwesten-Bewegung statt. Seit November legen die Samstagsdemonstrationen Teile der Hauptstadt Frankreichs, aber auch Toulouse, Bordeaux und Clermont-Ferrand lahm. Die Dauer und Beständigkeit der Protestbewegung ist dabei als historisch zu bezeichnen.
Während bei der ersten Demonstration am 17. November 2018 laut Angaben des französischen Innenministeriums knapp 300.000 Demonstranten mobilisiert werden konnten, nehmen die Zahlen seither stetig ab und haben sich inzwischen bei rund 30.000 Teilnehmern ein-gependelt. Die Bewegung hat sich radikalisiert und ist gewaltsamer geworden. Seit November 2018 sind 11 Personen im Rahmen der Proteste getötet worden, über 2000 wurden verletzt. Rund 8700 Personen wurden in Polizeigewahrsam genommen. Nach Angaben der Versicherungen entstand bisher ein Sachschaden in Höhe von 200 Millionen Euro.
Auch wenn die Mehrheit der französischen Bevölkerung die Forderungen der Gelbwesten nicht mehr unterstützt – die Zustimmungswerte fielen von 68% im Dezember 2018 auf inzwischen weit unter 50% – ist die Gelbwestenbewegung ein entscheidender Vektor für den Erfolg der Amtszeit von Emmanuel Macron geworden.
Denn die Gelbwesten haben Macrons Reformzug ausgebremst: 14 umfassende Reformpakete in verschiedenen Bereichen hat Staatspräsident Emmanuel Macron in seinem ersten Regierungs-jahr auf den Weg gebracht. Er ließ sich dabei nicht durch Streikbewegungen, etwa bei der französischen Bahn SNCF, ausbremsen. Die Reformen waren dabei so eng getaktet, dass für den sozialen Aufstand kaum Zeit blieb.
Für 2019 standen bisher ambitionierte Reformen auf dem Plan: Kürzungen im öffentlichen Dienst, Einsparungen bei der Arbeitslosenversicherung, Änderungen bei den Renten, Einschnitte bei der Krankenversicherung. Doch viele Vorhaben wurden aufgrund der Proteste der Gelbwesten bis auf weiteres verschoben. Das aktuelle soziale Klima scheint für ihre Umsetzung ungeeignet, zumal sich die französischen Gewerkschaften, die bei der Gelbwestenbewegung keine Rolle gespielt haben, derzeit warmlaufen.
Die französische Regierung kann vor den aktuellen Spaltungen innerhalb der französischen Gesellschaft nicht die Augen verschließen. Die Bewegung der Gelbwesten hat ein „Mal-être“, ein Unwohlsein innerhalb der französischen Gesellschaft aufgedeckt. Stadt und Land stehen in einem Spannungsverhältnis, das Sprengkraft in sich birgt. Dabei hat sich dieses Stadt-Land-Gefälle über Jahrzehnte aufgebaut. Die Gelbwestenbewegung hat sie nun offen auf den Tisch gelegt.
Dabei hat das von Macron formulierte Ziel einer „Start-Up-Nation“ die Spannungen noch befeuert: Macron haftet das Bild des „Präsidenten der Reichen“ an. Auch wenn bisher nicht erkennbar ist, ob sich die Bewegung „La République en Marche“ längerfristig im französischen Parteien-system etablieren wird, ist festzustellen, dass ihr Führungspersonal einen wichtigen Faktor unter-schätzt hat: LREM hat es bisher nicht geschafft, sich auf der lokalen Ebene zu verankern und eine Brücke zwischen der französischen Provinz und der Hauptstadt zu schlagen. Solide lokale Strukturen, Bürgermeister und Stadträte vor Ort, hätten einerseits in einer Mittlerfunktion die Regierung vor dem Ausmaß des „Mal-être“ warnen und andererseits schlichtend auf die Bewegung einwirken können. Auch die rund 300 Abgeordneten, die für LREM in die Assemblée nationale gewählt wurden, fallen vielfach als Mittler aus, da sie bislang häufig kaum in ihren Wahlkreisen präsent waren.
Bilanz der „Großen Nationalen Debatte“
Ein Papiertiger?
Als direkte Reaktion auf die Gelbwesten-Bewegung initiierte Präsident Emmanuel Macron die „Große Nationale Debatte“ („grand débat national“). Die Beteiligung ist beeindruckend: Über 10.000 Debatten wurden von Januar bis März 2019 auf lokaler Ebene organisiert, an denen rund 500.000 Bürger teilnahmen; die Vorschläge füllen 630.000 Seiten, online wurden fast zwei Millionen Beiträge eingereicht.
Mit der „Großen nationalen Debatte“ hat Emmanuel Macron erneut gezeigt, dass er bereit ist, verkrustete Strukturen aufzubrechen und neue Wege der demokratischen Teilhabe zu testen. Damit wird er seinem Wahlkampf-versprechen von 2017 gerecht. Jedoch nahmen nur wenige Vertreter der Gelbwestenbewegung an dem Debattenformat teil. Die Teilnehmer entstammten überwiegend dem konstruktiven Teil der Bürgerschaft, die ihre Ideen in die politischen Entscheidungsprozesse einspeisen wollten und hier eine Möglichkeit dazu fanden.
Macron selbst konnte in kommunikativer Hinsicht punkten: Mehrfach diskutierte er mit hoch-gekrempelten Ärmeln bis zu sieben Stunden lang mit Bürgern oder Bürgermeistern. Er bewies damit, dass er ein „Macher“ ist und die „Große Nationale Debatte“ mehr als eine Maskerade war. Selbst den politischen Gegnern verlangte Macrons Stehvermögen Respekt ab.
Gleichzeitig ging Macron ein Risiko ein: Er hat den Ausgang der „Großen Nationalen Debatte“ schicksalshaft mit den Erfolg seiner gesamten Amtszeit verknüpft. Damit die Debatte nicht als „Papiertiger“ endet, muss die Regierung nun schnell Leuchtturm-Maßnahmen umsetzen, die möglichst viele Franzosen erreichen.
Ob sich die Gelbwesten mit diesen Maßnahmen zufrieden geben werden, bleibt fraglich. Trotz vieler Zugeständnisse seitens der Regierung bleibt ein radikalisierter Teil von rund 30.000 Demonstranten weiterhin auf der Straße.
Die Ergebnisse der „Großen Nationalen Debatte“ könnten die Regierung auch in die Ecke treiben: Statt der ursprünglich geplanten Sparmaß-nahmen und Staatssanierung könnte es zu Steuergeschenken und einer Anhebung von Sozialleistungen kommen. Ein Vertreter des bürgerlich-konservativen Lagers kommentierte dazu lakonisch, dass Macron nur zwei Möglich-keiten übrig blieben: Mit unbeliebten Spar-maßnahmen zum Gerhard Schröder Frankeichs zu werden oder wie François Hollande reformlos eine Amtszeit zu verschenken.
Europawahlkampf
Erneutes Duell zwischen pro-europäischen und rechtspopulistischen Kräften?
Die Ergebnisse der „Großen nationalen Debatte“ sollen nach dem Willen des Präsidenten direkt in den Europawahlkampf von der Regierungspartei einfließen. Aktuelle Umfragen sagen ein erneutes „Duell“ zwischen Pro-Europäern und Rechts-populisten voraus: Mit 22,5% liegt Emmanuel Macrons Bewegung „La République en Marche“ (LREM) knapp vor Marine Le Pens Partei „Rassemblement National“ (RN, ehemals Front National), die gegenwärtig auf 20,5% kommen würden. Es folgen die bürgerlich-konservative Partei „Les Républicains“ mit 14%, die links-populistische Partei „La France insoumise“ mit 9% und die Allianz der Grünen mit 7,5%. Die Sozialisten treten einerseits mit der Bewegung ihres früheren Präsidentschaftskandidaten „Génération.s“, andererseits mit der Listen-verbindung „PS-Place Publique“ an und werden mit 5,5% bzw. 3,5% bewertet. Sollten die Gelbwesten mit einer Liste bei den Europawahlen antreten, könnten sie bis zu 2,5 Prozentpunkte holen. Die Anmeldefrist zur Teilnahme an den Europawahlen läuft in Frankreich am 3. Mai aus.
Der europafreundliche Kurs der Bewegung LREM trägt Früchte. Die von Emmanuel Macron verkündete „Schlacht von Progressisten gegen Nationalisten“ scheint in den Köpfen der Wähler angekommen zu sein. Nicht zuletzt mit seinem bewusst proeuropäischen Wahlkampf um das Präsidentenamt, seiner Sorbonne-Rede vom September 2017 sowie dem in allen EU-Staaten veröffentlichten Beitrag zum „Neubeginn Europas“ (März 2019) hat Macron sein Profil als „letzter Europäer“ geschärft. Auch angesichts der Tatsache, dass die linken und rechten Ränder des französischen Parteienspektrums das Feindbild „Europäische Union“ vor sich hertreiben, und angesichts der betont europakritischen Linie des Vorsitzenden der bürgerlich-konservativen „Républicains“, Laurent Wauquiez, entsteht der Eindruck, dass nur die Regierungspartei LREM für eine starke Europäische Union einsteht.
Es ist wenig erstaunlich, dass sich Beobachter wiederholt die Frage gestellt haben, ob Macron mit seinem europapolitischen Schwarz-Weiß-Denken nicht selbst als Populist zu bezeichnen ist und dem rechtspopulistischen Lager den Weg ebnet. Auch unabhängig von dieser Frage, ist das Verdrängen der französischen Volksparteien kritisch zu sehen; die Beschränkung der politischen Debatte auf Gut und Böse ist in dieser Hinsicht geradezu gefährlich: Volksparteien können aufgrund ihrer historisch gewachsenen Strukturen politische Konflikte und Debatten intern filtern und sind somit Garant einer nach außen sachlich geführten Debatte; Bewegungen können diese Funktion nur partiell erfüllen.
Zur wirklichen Feuerprobe für die Bewegung „La République en Marche“ werden vielmehr die Kommunalwahlen 2020 werden. Die Bewegung hat es in den letzten zwei Jahren nicht geschafft, die „Marcheurs“ der ersten Stunde an sich zu binden und verlässliche Strukturen auf kommunaler Ebene aufzubauen. Somit werden die Kommunalwahlen zeigen, ob „La République en Marche“ sich im französischen Parteiensystem fest verankern kann oder auf den verregneten Frühling eine Trockenzeit folgt.
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