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Allgemein wird die jüngste Terrorwelle in Russland, die innerhalb von zehn Tagen nach zwei Flugzeuganschlägen und zwei Explosionen in Moskau mit insgesamt 100 Toten jetzt in der Tragödie von Beslan ihren Höhepunkt gefunden hat, als Ausdruck einer tiefen Krise der russischen Tschetschenien- und Nordkaukasuspolitik gesehen. Gerade vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, wie die Führung Russlands mit dieser Tatsache umzugehen versucht.
Grundsätzlich versucht die Kremladministration der Stimmung in der Öffentlichkeit in drei Richtungen zu begegnen: Teileingeständnisse von Schwäche, Förderung der emotionalen Anteilnahme und Ablenkung auf das Problem des internationalen Terrorismus.
Anders als in früheren Terrorkrisen spricht der Präsident offen von einer Schwäche Russlands und seiner Sicherheitsorgane, die durch die Geiselkrise offen zutage trat. Eine der Hauptursachen sei die grassierende Korruption in Sicherheitskreisen. Neu war auch, dass einer der nationalen Fernsehsender, RTR, am vergangenen Samstag es deutlich als „Fehler“ bezeichnete, dass die Behörden die Öffentlichkeit über das wahre Ausmaß der Geiselkrise nicht unterrichtet hätten.
Während die Hauptsender im Verlauf der Geiselnahme ihren Programmablauf fast kaum unterbrachen, überwiegt in den letzten Tagen auffällig eine emotionale Berichterstattung über die Beerdigung der Toten, Familientragödien, Krankenhäuser, Opfer unter den Sicherheitsbeamten. Eine für Dienstag anberaumte Großdemonstration im Zentrum Moskaus, zu der die Gewerkschaften und Radiostationen aufgerufen hatten, sollte vordergründig der Solidarität mit den Opfern gelten. Kritiker bemerkten aber, der eigentliche Zweck dieser Maßnahme liege in der Demonstration öffentlicher Unterstützung für den Präsidenten.
In allen seinen Stellungnahmen nach dem Ereignis und insbesondere in seiner Ansprache an die Nation am 3. September hat Präsident Putin mit keinem einzigen Wort Tschetschenien erwähnt. Die jüngste Terrorwelle und die Geiselnahme in Beslan werden in der offiziellen Sprachregelung auf einen Krieg zurückgeführt, die der „internationale Terorismus“ Russland erklärt haben soll. Diese These sollte von ursprünglichen Meldungen aus Beslan bestätigt werden, mindestens die Hälfte der Geiselnehmer seien „Araber“, darunter sogar ein „Schwarzer“ mit sudanesischer Nationalität, gewesen. Keine von diesen Meldungen ist aber bisher bestätigt worden.
Die vom Kreml kontrollierten Fernsehsender Russlands gehen in Ihren Kommentaren sogar viel weiter. Der Terrorkrieg gegen Russland soll von „externen Mächten“ organisiert und finanziert werden, die Russland den Status einer nuklearen Grossmacht neiden. Dem Zuschauer bleibt dann nur zu raten, welche „externen Mächte“ dabei gemeint sind. Das samstags erscheinende Informationsprogramm „P.S.“ von Alexej Puschkow geht in seinen Schuldzuweisungen sogar viel weiter. Die Geiselnehmer und die tschetschenischen Terroristen seien nur ein Instrument in den Händen von Oligarchen, die Putin seines Amtes berauben wollen. Neben dem üblich in diesem Zusammenhang figurierenden Londoner Exil-Oligarchen Boris Beresowskij wurde zum ersten Mal auch ein Versuch unternommen, einen Zusammenhang zwischen dem ehemaligen Jukos-Chef Michail Chodorkowskij und der Finanzierung tschetschenischer Kämpfer herzustellen.
Dementsprechend lässt sich auch die Reaktion der Staatsmacht auf die Terrorwelle interpretieren. Putin ruft zum Zusammenschluss und zur Mobilisierung der Nation für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Die Regierung zeigt Härte. Mit Terroristen (und auch mit der Opposition in Tschetschenien) wird weder verhandelt noch um politische Lösungen diskutiert. Die Regierung und die Parlamentsfraktion der Regierungspartei „Einiges Russland“ arbeiten schon an der Verschärfung der Geseztzgebung zur Terrorismusbekämpfung, die auch Einschränkung bürgerlicher Freiheiten mit sich bringen soll. Die Diskussion über die Wiedereinführung der Todesstrafe ist wieder entfacht worden. Der stellvertretende Ministerpräsident Alexander Schukow schliesst nicht aus, die Mittel für Sicherheitskräfte im Jahr 2005 weiter aufzustocken, über die ohnehin substantielle Erhöhung des Haushalts für nationale Sicherheit hinaus.
Abgesehen von den Fernsehkanälen greifen aber die meisten Zeitungen und Internet-Medien Russlands die Regierung und den Präsidenten Putin ungewöhnlich einheitlich scharf an. Die jüngste Terrorwelle und insbesondere das Geiseldrama von Beslan werden auf das Scheitern der bisherigen Tschetschenienpolitik Putins zurückgeführt. Gleichzeitig beklagt man die offenkundige Unprofessionalität der zuständigen Sicherheitsdienste und kritisiert scharf die mindestens unzureichende, oft aber auch lügenhafte Berichterstattung über das Geiseldrama in den staatlich kontrollierten Massenmedien.
Grundsätzlich wird in den unabhängigen Medien das gesamte Konzept des Putin-Regimes in Frage gestellt. Das Geiseldrama soll der Öffentlichkeit vor Augen führen, dass der implizite Gesellschaftsvertrag mit Putin tatsächlich nicht funktioniert hat. Die harte Politik gegenüber Tschetschenien und die Errichtung einer halbautoritären politischen Ordnung, die ein Parlament ohne Vertrauen in der Bevölkerung, keine politische Opposition und keine kritischen Fernsehmedien kennt, hat das versprochene Resultat – ein Mehr an persönlicher Sicherheit – nicht gebracht. Gerade das Gegenteil sei der Fall.
Wenn die Nation jetzt mobilisiert werden soll, kommt es darauf an, wie es geschieht. Eine „Mobilisierung von Oben“ kann in einen Polizeistaat münden, ohne eine erfolgreiche Bekämpfung des Terrorismus zu versprechen. Viele Printmedien fordern deshalb eine Liberalisierung der politischen Ordnung, die allein die politischen und sozialen Grundlagen für einen gesellschaftlichen Konsens schaffen kann.
Die ersten Schritte der Regierung Putin zeigen aber, dass sie sich eher in die erste Richtung, die einer Verhärtung der Politik, bewegt. Dafür sprechen der eindeutigenVerzicht Putins auf jegliche Verhandlungen mit oppositionellen Kräften in Tschetschenien sowie ein klarer Verzicht auf eine transparente öffentliche Untersuchung der Tragödie von Beslan, etwa in Form einer parlamentarischen Untersuchung, die, so Präsident Putin wörtlich, nur in einer „politischen Show“ ausarten würde. In diese Richtung deutet auch die Absetzung des Chefherausgebers der Zeitung „Iswestija“, der erst vor einem Jahr sein Amt angetreten hatte und zu den kritischen Stimmen gehörte. In diese Richtung deutet auch die mangelnde Möglichkeit für kritisch gestimmte oppositionelle Politiker, ihre Kritik an der Politik des Kremls im Fernsehen artikulieren zu können.
Die bewährten Mittel der „gelenkten Demokratie“ müssen die Regierung wohl keine direkten Konsequenzen aus der gegenwärtigen Kritik befürchten lassen. Nur die gedruckten Medien registrieren einen tiefen Vertrauensverlust der Bevölkerung für die Regierung und den Präsidenten. Sie versuchen auch in den Grenzen des Möglichen, diese Stimmung zu artikulieren. Der Mangel an Möglichkeiten für die politische Artikulation von Kritik lässt aber keine ernsthaften Konsequenzen befürchten. Jedenfalls kunzfristig nicht.