Was und wo wurde gewählt?
Insgesamt 48 Millionen Wählerinnen und Wähler waren am Wahltag, auch als "Super Thursday" tituliert, zur Abgabe ihrer Stimme aufgerufen. Gewählt wurden: 129 Mitglieder des schottischen Parlaments (Scottish Parliament), 60 Mitglieder des walisischen Parlaments (Senedd Cymru), 143 Gemeinderäte in England, 13 direkt gewählte Bürgermeister (einschließlich des Bürgermeisters von London), 25 Mitglieder für die London Assembly und 39 sogenannte Police and Crime Commissioners in England und Wales. Gewählt wurde somit in allen Landesteilen des Vereinigten Königreiches, außer Nordirland. Es gab auch eine Nachwahl zum britischen Parlament im nordenglischen Hartlepool - ein Wahlkreis, der bisher traditionell fest in der Hand von Labour war.
Bereits vor den Wahlen lag die Conservative Party (Tories) in den landesweiten Umfragen vorn, was zum Teil auf die erfolgreiche Impfkampagne und die ersten Öffnungsschritte aus dem monatelangen Corona-Lockdown zurückzuführen war. Labour versuchte, im Vorfeld die Erwartungen herunterzuschrauben. Gleichwohl hoffte die Parteiführung, dass ein Lobbying-Skandal um den ehemaligen Premierminister David Cameron und die fragwürdige Finanzierung von Renovierungsarbeiten in der Wohnung des amtierenden Premierministers Boris Johnson nicht nur das Regierungsviertel beschäftigt, sondern aus der "Westminster bubble" heraus die breite Öffentlichkeit erreichen und die Wahlen beeinflussen könnte.
Die Parlamentswahlen in Schottland
Ein Sieg der schottischen First Minister Nicola Sturgeon und ihrer Scottish National Party (SNP) stand nie in Frage. Die einzige Frage war das Ausmaß des Sieges: Würden sie das phänomenale Ergebnis von 2011 wiederholen, als die SNP eine absolute Mehrheit errang und damit die Bedingungen replizieren, unter denen Schottland 2014 ein Unabhängigkeitsreferendum gewährt wurde? Oder würden sie diese wie 2016 knapp verfehlen? Mit insgesamt 64 Mandaten konnte die SNP zwar leicht zulegen, dennoch verfehlte sie die absolute Mehrheit (65 oder mehr) um genau einen Sitz. Gleichwohl untermauerten sie damit ihre dominante Rolle in Schottland. Und: Gemeinsam mit den schottischen Grünen, die ebenso für die Unabhängigkeit eintreten, gibt es im neugewählten schottischen Parlament eine Mehrheit für ein mögliches zweites Unabhängigkeitsreferendum. Der Weg dahin ist aber kompliziert, sowohl politisch als auch verfassungsrechtlich. Dazu mehr im abschließenden Teil.
Tabelle 1 - Wahlen in Schottland
Partei | % 2021 | Sitze 2021 | +/- % zu 2016 | Sitze 2016 |
---|---|---|---|---|
SNP |
40,3 |
64 |
-1,4 |
61 |
Scot. Conservatives |
23,5 | 31 | +0.6 | 30 |
Scot. Labour |
18,0 | 22 | -1,1 | 23 |
Scot. Lib Dem |
5,1 | 4 | -0,1 | 5 |
Scot. Green |
8,1 | 8 | +1,5 | 5 |
Wahlbeteiligung 64%
Dass die SNP die absolute Mehrheit verfehlte, hängt auch mit dem Additional Member System (AMS) zusammen, mit dem die 129 Mitglieder des schottischen Parlaments (MSP) in Holyrood gewählt werden. Das System ähnelt dem gemischten Wahlrecht für Bundestagswahlen in Deutschland. 73 MSPs werden in Einpersonenwahlkreisen, weitere 56 MSPs werden über acht regionale Listen gewählt. Die Listensitze werden so aufgeteilt, dass ein weitgehend proportionales Ergebnis gewährleistet ist. Die Anzahl der Sitze ist festgelegt und es gibt keine Überhangmandate.
Eine genauere Wahlanalyse deutet darauf hin, dass taktisches Wahlverhalten zugunsten der Parteien, die für einen Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich plädieren, der SNP eine absolute Mehrheit verwehrt haben. Wähler und Wählerinnen der Konservativen Partei, der Labour-Partei und der Liberaldemokraten gaben in wichtigen Schlüsselwahlkreisen ihre Stimmen der Partei, die die größten Chancen hatte, den SNP-Kandidaten zu besiegen. In Dumbarton zum Beispiel, nordwestlich von Glasgow gelegen, steigerte die Labour-Partei ihre Stimmenzahl um 6% fast ausschließlich auf Kosten der Konservativen. Ebenso in Edinburgh Southern, wo Labour seinen Stimmenanteil um 10%-Punkte vermehrte, während die Konservativen um mehr als 14% einbrachen.
Insgesamt konnten die Konservativen aber ihre Position als zweitstärkste Partei im Parlament und größte Partei in Schottland, die sich gegen eine Unabhängigkeit ausspricht, halten. Das Überraschungsergebnis der letzten Wahl im Jahr 2016, als sie bereits Labour auf den dritten Platz verdrängten, war daher kein Zufall. Es spiegelt vielmehr eine Neuausrichtung im politischen Wahlverhalten in ganz Großbritannien wieder, bei der traditionelle Parteizugehörigkeiten in den Hintergrund treten und neue Konfliktlinien, wie die Haltung zum Brexit oder kulturelle Identitäten, wichtiger geworden sind. Obwohl die Labour-Partei von taktischem Abstimmungsverhalten profitierte, wurden ihre Hoffnungen auf eine Wiederbelebung in Schottland enttäuscht und sie liegt weiterhin auf dem dritten Platz. Symbolhaft dafür ist, dass die Partei ihre Hochburg East Lothian, an die Hauptstadt Edinburgh grenzend, an die SNP verloren hat. Der Sitz war seit der Gründung des schottischen Parlaments im Jahre 1999 in den Händen der Labour-Partei.
Kommunalwahlen in England
Wie bei den britischen Unterhauswahlen gilt auch bei den Gemeinderatswahlen das „first-past-the-post voting“, d.h. ein reines Mehrheitswahlrecht, bei dem der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen gewählt ist. In England errang die Conservative Party die Kontrolle über 63 Gemeinderäte, 13 mehr als bei den letzten Kommunalwahlen. Labour gewann 44 Gemeinderäte, 8 weniger als bisher. Während die Tories vor allem im Norden und in den Midlands, eigentlich traditionelles Labour-Gebiet, zugewannen, sah das Bild Im Süden etwas anders aus. Labour konnte in einigen Tory-Hochburgen, wie West Sussex, Teilen von Surrey und sogar in Tunbridge Wells, zulegen. Das liegt zum Teil daran, dass junge, gebildete und eher liberal ausgerichtete Menschen aus London in umliegende Gebiete gezogen sind. Die Grünen sind ebenfalls auf dem Vormarsch und konnten zahlreiche Sitze in Stadträten hinzu gewinnen gewonnen, etwa in Bristol und Sheffield zu Lasten von Labour oder in Suffolk zu Lasten der Tories.
Tabelle 2 - Lokalwahlen England
Partei | Gemeinden | +/- | Sitze | +/- |
---|---|---|---|---|
Conservatives | 63 | +13 | 2345 | +235 |
Labour |
44 | -8 | 1345 | -326 |
Liberal Democrat |
7 | +1 | 586 | +7 |
Green Party | 0 | 0 | 151 | +88 |
Mebyon Kernow | 0 | 0 | 5 | +1 |
Reform UK | 0 | 0 | 2 | +2 |
Liberal Party | 0 | 0 | 1 | -1 |
UKIP | 0 | 0 | 0 | -48 |
Independent | 0 | 0 | 255 | +39 |
No Overall Control | 29 | -6 | - | - |
Parlamentswahlen in Wales
Ähnlich wie in Schottland wird bei den Senedd-Wahlen in Wales das Additional Member System (AMS) eingesetzt. Während Labour in England und Schottland enttäuschend abschnitt, konnte die walisische Labour-Partei die Hälfte der Sitze des walisischen Parlaments gewinnen und sich somit als Regierungspartei klar behaupten. Der Erfolg ist wohl auch auf den Führungsstil des walisischen Labour-Vorsitzenden und First Minister Mark Drakeford zurückzuführen, der Wales in den Augen vieler Menschen umsichtig durch die Pandemie führte. Die walisisch-nationale Partei Plaid Cymru konnte keine nennenswerten Zugewinne erzielen. Ähnlich wie die schottische SNP spricht sich Plaid Cymru für eine Unabhängigkeit ihres Landesteils aus, auch wenn der Rückhalt dafür in der walisischen Bevölkerung bei weitem nicht so stark ist wie in Schottland.
Tabelle 3 - Wahlen in Wales
Partei | % 2021 | Sitze 2021 | +/- % zu 2016 | Sitze 2016 |
---|---|---|---|---|
Welsh Labur | 36,2 | 30 | +4,7 | 29 |
Welsh Conservatives | 25,1 | 16 | +6,3 | 11 |
Plaid Cymru | 20,7 | 13 | -0,1 | 12 |
Welsh Lib Dem | 4,3 | 1 | -2,2 | 1 |
UKIP Wales | 1,6 | 0 | -11,4 | 7 |
Wahlbeteiligung 47%
Labour kann sich in großen Städten behaupten
Ein besonderes Augenmerk richtete sich auf die Bürgermeisterwahlen. Dabei handelte es sich um 13 Direktwahlen in Großstädten und Großstadtregionen, bei dem jeweils eine erste und zweite Präferenzstimme abgegeben werden konnte. Wenn kein Kandidat 50 % der Stimmen erreicht, bleiben die beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl übrig und die Stimmen werden neu unter Einbeziehung der Zweitpräferenz bei den ausgeschiedenen Kandidaten ausgezählt.
Die Labour-Partei schnitt bei den Bürgermeisterwahlen besser ab als bei den Gemeinderatswahlen. Sadiq Khan wurde mit 1,2 Mio. Stimmen als Londoner Bürgermeister wiedergewählt. Das Ergebnis war knapper als erwartet. Sein konservativer Herausforderer Shaun Bailey erhielt die meisten Erstpräferenzstimmen in zwei Wahlkreisen, in denen Khan bei der letzten Wahl vorne lag. Dies wurde auf Khans angebliche Selbstgefälligkeit im Wahlkampf zurückgeführt. In der London Assembly dominiert Labour weiterhin, sie erhielten 11 Sitze, einen weniger als bei der letzten Wahl 2016, während die Konservativen neun Sitze erhielten, einen mehr als 2016. Die Grünen gewannen drei Sitze und die Liberaldemokraten sicherten sich zwei Sitze.
Der bekannte Labour-Politiker Andy Burnham wurde als Bürgermeister von Greater Manchester wiedergewählt, die Labour-Abgeordnete Tracy Brabin wurde die erste gewählte Bürgermeisterin von West Yorkshire. Labour gewann auch die Bürgermeisterwahlen in der Liverpool City Region und nahm in Cambridgeshire & Peterborough sowie in West of England das Bürgermeisteramt der Conservative Party ab. Die Zugewinne der Labour-Partei in diesen Gebieten sind zum Teil auf die sich verändernde Demografie zurückzuführen. Diese Regionen umfassen Großstädte, die aufgrund der dort ansässigen Universitäten einen hohen Anteil an Studenten haben.
Dennoch schmerzte der Labour-Partei die Wiederwahl von Bürgermeistern der Konservativen in ihren traditionellen Kerngebieten. Ben Houchen wurde als Bürgermeister von Tees Valley, einem Gebiet, das den Wahlkreis Hartlepool umfasst, mit überwältigenden 73% der Erstpräferenzstimmen wiedergewählt. Andy Streets wurde als Bürgermeister der West Midlands mit 314.669 Stimmen im Amt bestätigt. Beide sind in ihren Regionen sehr beliebt. Ben Houchen verbindet seinen Konservatismus mit einer wirtschaftlich interventionistischen Politik, wie z.B. bei der Verstaatlichung des internationalen Flughafens von Teesside, was bei den Wählern offensichtlich gut ankam.
Siegeszug der Regierenden
Gewinner der Wahlen 2021 waren die amtierenden Regierungsparteien in England, in Schottland und Wales. Bei den Parlamentswahlen in Schottland und Wales wurde damit auch das Handeln der Regierungen in den aktuellen Krisenzeiten honoriert. Wenn man die Ergebnisse der Kommunalwahlen in England in nationale Stimmenanteile umrechnet, kommen Berechnungen der BBC zufolge die Tories auf 36% der Stimmen, Labour auf 29%. Erfahrungsgemäß verlieren amtierende Regierungen bei Nachwahlen oder Kommunalwahlen, das Wahlvolk sucht sich ein Ventil für Enttäuschungen oder unpopuläre Entscheidungen der Regierenden. Es zeichnet sich, zumindest momentan, ein anderes Bild: Die Conservative Party ist in Westminster seit 11 Jahren im Amt und kann dennoch weiter zulegen. Politische Analytiker auf der britischen Insel haben dafür vor allem zwei Erklärungsmuster: Zum einen habe es Boris Johnson vermocht, seine Partei neu zu profilieren und sich nach seinem fulminanten Wahlsieg 2019 als neue Regierungsmannschaft zu präsentieren, die das Land nach dem versprochenen und nunmehr „gelieferten“ Brexit zu neuen Stärken führen möchte. Zum anderen hat die erfolgreiche Umsetzung des Impfprogramms zur Eindämmung des Corona-Virus dem Regierungshandeln in Downing Street 10 viel Anerkennung zu Teil werden lassen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat eine erste Dosis erhalten, ein Viertel ist bereits vollständig geimpft. Viele Briten erleben den Monat Mai bereits mit geöffneten Pubs, Restaurants und Geschäften.
Eroberung der „Red Wall“
Die größere politische Geschichte dahinter ist der anhaltende Siegeszug der Konservativen Partei im Stammland von Labour, der sogenannten „Red Wall". Es sind die traditionellen Arbeiterklassen-Wahlkreise im Norden Englands und auch in den Midlands, die seit Generationen sichere Labour-Hochburgen waren, aber jetzt in wachsender Zahl Labour den Rücken kehren und die Tories wählen. Der Sieg der Kandidatin der Conservative Party bei den Nachwahlen in Hartlepool bringt es erneut auf den Punkt. Er verdeutliche, so Kommentatoren, dass die Wähler in diesen Gebieten ihre Stimme bei der Parlamentswahl 2019 nicht nur vorübergehend an die Konservativen "verliehen" haben, sondern es sei ein Zeichen für eine dauerhafte Neuausrichtung in der Parteienlandschaft. Der Wandel hatte sich bereits seit dem Brexit-Referendum abgezeichnet.
Der Trend hin zu den Tories wird auch dem politischen Geschick von Boris Johnson zugeschrieben, sich gleichzeitig als Regierung und Opposition in einer Person zu präsentieren. Er regiert In London mit absoluter Mehrheit und wird in Kürze Gastgeber des G7-Gipfesls sein. Gleichzeitig positioniert er sich als Sprachrohr für die vom Strukturwandel hart getroffenen Landkreise und Städte im entfernten Norden, als ein Politiker, der Nähe und Identität vermittelt. Allein drei Mal war er im Wahlkampf in Hartlepool vor Ort. Es ist daher auch sein persönlicher Sieg. Bei Labour läuten demgegenüber schon lange die Alarmglocken. Ohne Trendumkehr in der „Red Wall“ werden sie in Zukunft keine Chance haben. Der Vorsitzende der Labour Party, Keir Starmer, trägt zwar die Verantwortung, aber an ihm allein liegt es sicherlich nicht. Er hat die Partei erst im vergangenen Frühjahr in schwieriger Lage übernommen. Die Umbildung seines Schattenkabinetts in dieser Woche als erste Konsequenz wirkte gleichwohl überstürzt.
Der Zusammenhalt des Königreichs – wie geht es weiter?
Hier richten sich die Augen vor allem auf Schottland. Obwohl sie die eigene absolute Mehrheit knapp verfehlte, hat SNP-Chefin Nicola Sturgeon ein klares demokratisches Mandat für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum erhalten. Dieses "Indyref2" hat sie ihren Wählerinnen und Wählern versprochen. Nach den Wahlen verkündete sie folglich, dieses Referendum in der Zeit bis Ende 2023 abzuhalten - vorausgesetzt, die Pandemie-Krise sei überwunden. Der Weg zu einem Referendum ist jedoch kompliziert. Der einzige verfassungskonforme Weg, der in Frage kommt, ist, dass London die Befugnisse zur Durchführung des Referendums durch eine sogenannte „Section 30 Order“ an das schottische Parlament in Holyrood überträgt. Genau dieser Weg wurde auch beim ersten Unabhängigkeitsreferendum in 2014 beschritten. Premierminister Boris Johnson hatte bereits mehrmals gesagt, dass ein solches Referendum nur einmal in einer Generation stattfinden könne. Außerdem würde jetzt die Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie im Vordergrund stehen.
Wie könnte dann die Unabhängigkeitsdebatte weitergehen? Nicola Sturgeon befindet sich auch in keiner einfachen Lage. Zum einen muss sie die Erwartungen der Unabhängigkeitsbefürworter sorgfältig wägen. Ein inoffizielles Referendum nach katalanischem Vorbild, das ohne die Zustimmung von Westminster abgehalten wird, wird häufig von radikaleren Nationalisten ins Gespräch gebracht. Sturgeon hat einen solchen Vorschlag bereits abgelehnt. Es würde nicht nur von den Unabhängigkeitsgegnern boykottiert werden, sondern auch die Beziehungen zu den EU-Regierungenchefs beschädigen - nicht zuletzt zu Spanien - und möglicherweise den Antrag eines zukünftigen unabhängigen Schottlands auf Beitritt zur EU gefährden. Andererseits muss sie auch die tatsächliche politische Stimmung im Lande wahrnehmen. 2014 hatten sich 45% für eine Unabhängigkeit ausgesprochen, 55% dagegen. Der Brexit hat natürlich das Unabhängigkeitslager gestärkt, hatten sich die Schotten doch mit deutlicher Mehrheit für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Bei der aktuellen Stimmung pro Unabhängigkeit sind die Bäume aber nicht in den Himmel gewachsen. Meinungsumfragen steht es in der schottischen Bevölkerung derzeit 50:50, wenn nach einer möglichen Unabhängigkeit gefragt wird.
„Unite and level up“ – die Strategie Londons
Daher kommt es Nicola Sturgeon wohl auch gelegen, wenn sie durch die Pandemiebekämpfung, der jetzt noch Priorität eingeräumt wird, etwas Zeit gewinnt. Auf Zeit spielt eindeutig die Regierung in London. Gleich nach den Wahlen hat Boris Johnson in einem Brief Sturgeon zum Wahlsieg gratuliert und sie gemeinsam mit den Regierungschefs der beiden anderen sogenannten „devolved nations“, Wales und Nordirland, zu einem Gipfeltreffen eingeladen, um über eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung der Corona-Folgen zu beraten. Damit verfolgt Johnson auch das Ziel, mit großzügigen Finanzspritzen und Infrastrukturprojekten direkt aus London in die Regionen, den Zusammenhalt im Königreich zu stärken und den Unabhängigkeitsbegehren den Wind aus den Segeln zu nehmen. "We intend to unite and level up across the whole of our United Kingdom”, das ist die Marschrichtung, die Boris Johnson derzeit nicht nur an seine Anhänger, sondern an das gesamte Vereinigte Königreich ausruft.
Ein wahrscheinliches Szenario ist deshalb, dass das schottische Parlament zu gegebener Zeit, das könnte bereits in 2022 erfolgen, ein eigenes Referendumsgesetz ohne Londons Zustimmung verabschiedet. Damit wäre die Regierung in Westminster herausgefordert, dessen Rechtmäßigkeit vom Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof, prüfen zu lassen. Dem Vernehmen nach hat Johnsons Regierung bereits juristischen Rat eingeholt mit dem Ergebnis, dass das Gericht zu ihren Gunsten entscheiden würde. Sollte der Supreme Court gegen ein derartiges Gesetz entscheiden, würden damit alle Wege zur Unabhängigkeit Schottlands versperrt sein. Dies ist nicht ohne Risiko für London, da ein solches Urteil die Argumentation der Unabhängigkeitsbefürworter nur bekräftigen würde, dass das Vereinigte Königreich nicht mehr eine freiwillige Union sei, sondern vielmehr nur durch richterlichen Spruch zusammengehalten werde und damit der demokratische Wille der Einwohner Schottlands untergraben würde. Es ist auffällig, dass die britische Regierung mittlerweile ein „Indyref2“ nicht mehr kategorisch ablehnt, sondern ein „nicht jetzt“ (wegen der Pandemie) kommuniziert – genau um nicht in diese argumentative Falle zu geraten.
Seit 1707 sind England und Schottland in einem Königreich vereint. Die Frage um eine Unabhängigkeit Schottland wird weiter auf der Tagesordnung bleiben und die Integrität des Vereinigten Königreichs herausfordern. Hinzu kommt die Nordirland-Frage, die durch den Brexit wieder an Brisanz zugenommen hat. In der Debatte um eine mögliche Unabhängigkeit Schottlands haben bisher die praktischen Konsequenzen keine große Rolle gespielt, sei es die Frage nach der Landgrenze zu England, nach der Währung und überhaupt die Wirtschafts- und Finanzkraft Schottlands. Es ist bemerkenswert, dass die Befürworter einer Unabhängigkeit Schottlands nahezu ähnliche Argumente anwenden wie die Brexit-Anhänger aus dem Jahre 2016. Es geht vor allem um Souveränität, nationale Identität und demokratische Selbstbestimmung. Die praktischen Konsequenzen, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen werden möglichst nicht thematisiert.