Country reports
Am 24. August feierte die Ukraine den elften Jahrestag der Unabhängigkeit – noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Flugzeugkatastrophe bei Lemberg und mehrerer Bergwerksunglücke. Während noch im vergangenen Jahr in Kiew Panzer und Raketen auf Lafettenfahrzeugen den Boulevard Chreschtschatyk entlang und Flugzeuge über die Zuschauer hinweg donnerten, war dieses Jahr ein neuer Stil spürbar: statt früher 6.000 Soldaten aus allen Formationen paradierten diesmal nur 4.000 vor der auf dem Unabhängigkeitsplatz aufgebauten Tribüne vor Präsident Kutschma und den anderen Repräsentanten des Staates. Vieles erinnert jedoch noch immer an das Gepränge früherer sowjetischer Feiertage. Diesmal war jedoch die eigentliche Parade abgekürzt und statt dessen bot sich den erstaunten Zuschauern ein gewissermaßen tänzerisches Militär: vier große Musikkapellen der Teilstreitkräfte vereinigten sich am Ende der Parade zu einem Konzert mit Operettenmelodien und tänzerischen Swing-Einlagen, die gelegentlich an die traditionellen ´Tattoos´ des britischen Militärs erinnerten.
Ansonsten gab es wie immer an den staatlichen Feiertagen kostenlose Rockkonzerte auf den Hauptplätzen Kiews und über eine Woche lang abendliche Feuerwerke, die noch gegen 23.00 abends manche Bürger mit Kanonenschlägen aus dem Schlaf rissen. Diese Volksbelustigungen angesichts einer zum großen Teil in Armut abgesunkenen Bevölkerung finanziert vor allem Oberbürgermeister Omeltschenko u.a. aus Sonderfonds, über welche er niemandem Rechenschaft schuldet.
Nach einer vom Rasumkow-Zentrum für wirtschaftliche und politische Studien kurz zuvor durchgeführten Umfrage hat jedoch die Bedeutung des Unabhängigkeitstages für die Bevölkerung nur mehr einen beschränkten Stellenwert: für 17,1% ist es ein wichtiger Feiertag, für 35,2% ein Feiertag wie jeder andere, für 35,1% nur ein weiterer arbeitsfreier Tag. Für weitere 9,4% ist dieser Tag nicht mal einen freien Tag wert. Andere Feiertage wie der 1. Mai (31,8%), der Siegestag (70%) und Ostern (80,7%) spielen im Bewußtsein der Bevölkerung eine weit größere Rolle. Über die Hälfte der Bevölkerung (56,3%) glaubt nach elf Jahren, dass die Ukraine als unabhängiger Staat nicht erfolgreich war. Während 1991 über 90% der Bevölkerung für die Unabhängigkeit gestimmt hatten, wären es heute nur noch 48,8%.
Als Begründung für den bedenklichen Meinungswandel in der Bevölkerung sieht der Direktor des Rasumkow-Zentrums, Hrytsenko, eine grundlegende und sich über die elf Jahre Unabhängigkeit hin dramatisch verschärfende Enttäuschung über den Staatsaufbau, insbesondere was Bürgernähe, Rechtssicherheit und Garantie von Bürger- und Menschenrechten betrifft sowie insbesondere über die desolate sozio-ökonomische Lage. Hrytsenko resümiert die Einstellung der Bevölkerung mit den Thesen,
- dass man einen Staat ´unabhängig von der eigenen Bevölkerung´ aufgebaut habe: 92% glauben, dass sie keinen Einfluß auf Regierung und Verwaltung haben;
- dass der Staat die Bürgerrechte massiv verletzt: 91,2% glauben, dass ihre verfassungsmäßig garantierten Rechte auf einen angemessenen Lebensstandard, Gesundheit und Bildung verletzt werden. Diese Zahl reflektiert die für einen Großteil der Bevölkerung unerträglich gewordenen Lebensbedingungen;
- dass die Wirtschaftsentwicklung absolut unzureichend verlaufen ist: 80,5% meinen, dass der Lebensstandard ihrer Familien sich seit 1991 im wesentlichen verschlechtert habe. 30% der Ukrainer sind bereit ihr Land zu verlassen, wenn sie Gelegenheit dazu hätten. Circa 2,5 Millionen haben dies auch inzwischen getan.
Umfragewerte für Präsident Kutschma auf dem Tiefpunkt
Das negative Meinungsbild der großen Mehrheit der Bevölkerung konzentriert sich dabei auf den Präsidenten, der in den vergangenen Jahren eine immer größere Machtfülle für sich erwirkt hat und einen zunehmend autoritären Regierungsstil pflegt.
Schon das Ergebnis der Parlamentswahl vom 31.3.2002 hatte gezeigt, dass die Allianz präsidententreuer Parteien und Gruppierungen unter dem Namen ´Für eine einheitliche Ukraine´ - die kräftig von den Oligarchen und Finanzclans gestützt wurde – auf Platz 3 mit lediglich 11,77% hinter das von Viktor Juschtschenko angeführte Reformbündnis ´Unsere Ukraine´ (23,57%) und die Kommunisten (19,98%) zurückgefallen war. Inzwischen sind 77,6% gegen eine Änderung der Gesetzgebung für die Präsidentschaftswahl, die Kutschma eine dritte Amtsperiode zugestehen würde. 71,17% befürworten sogar einen frühzeitigen freiwilligen Rücktritt des Präsidenten.
Wesentlich zum schlechten Image des Präsidenten beigetragen haben sicher auch die von ukrainischen wie internationalen Wahlbeobachtern bekannt gemachten Manipulationen und Verfälschungen bei den Wahlergebnissen sowie die unfaire Darstellung der Oppositionskandidaten zum Regierungsblock ´Für eine einheitliche Ukraine´ in den staatlichen Medien.
Ebenso wurde der von offizieller Seite ausgeübte Druck auf die Opposition und die freien Medien von den Wahlbeobachtern gerügt. Die anschließenden Machenschaften um die Besetzung des Parlamentspräsidiums und die Vorsitze der Parlamentsausschüsse haben die inzwischen allgemein ´Opposition´ genannten, nicht präsidentennahen, Fraktionen von ´Unsere Ukraine´ unter der Führung von Viktor Juschtschenko, dem Wahlblock von Julia Timoschenko, der Sozialistischen Partei unter dem früheren Parlamentschef Moros und die Kommunisten zusammenrücken lassen.
Insbesondere ist auch die Haltung von Viktor Juschtschenko, der keiner der in seinem Wahlblock und seiner Fraktion integrierten Parteien angehört, bedeutend präsidentenkritischer geworden. ´Unsere Ukraine´ hatte die Parlamentswahl mit 23,57% nach dem Verhältniswahlsystem (welches aber nur für 50% der 450 Abgeordneten steht) gewonnen, war aber anschließend durch die Einbeziehung eines Großteils der aus den Mehrheitswahlkreisen gewählten parteiunabhängigen Abgeordneten in den Präsidentenblock ´Für eine einheitliche Ukraine´ ausmanövriert worden.
Anti-Kutschma-Demonstrationen für September in Vorbereitung
Anfang August hatten die Intimfeinde Kutschmas, Julia Timoschenko und Olexander Moros zusammen mit der Bewegung ´Ukraine ohne Kutschma´ Demonstrationen gegen das herrschende Regime angekündigt, mit denen u.a. des zweiten Jahrestages des Verschwindens des mutmaßlich ermordeten Journalisten Georgij Gongadse ab 16. September gedacht werden soll. Timoschenko und Moros hatten in der vergangenen Legislaturperiode mehrfach Anträge auf die Amtsenthebung Kutschmas im Parlament gestellt, die aber nicht die erforderliche Unterstützung fanden. Bereits im Winter 2000/2001 war es zu Straßendemonstrationen in Kiew mit über 10 000 Beteiligten gekommen, an denen sich auch national-demokratische Gruppierungen beteiligt hatten. Am 21. August nun kündigten auch die Kommunisten ihre Teilnahme an, womit sie das Risiko eingingen, mit ihrem ideologischen Gegner ´Unsere Ukraine´, dessen Beteiligung zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, zusammenarbeiten zu müssen.
Neue Initiative des Präsidenten
In dieser Situation ergriff Kutschma in einer Aufsehen erregenden Rede zum Unabhängigkeitstag die Flucht nach vorn. Nachdem zu Anfang seines Textes noch von dem ´gewachsenen internationalen Ansehen der Ukraine und der erfolgreichen Integration in europäische und euroatlantische Strukturen´ sowie gleichzeitig guten Beziehungen zu den Nachbarn, in erster Linie Rußland, die Rede war, kam die wirkliche Überraschung: nach einem Exkurs über die anhaltende wirtschaftliche Krise, die Zerstörung der sozialen Infrastruktur, den Verlust der Wertorientierungen und einem Bekenntnis zur Wichtigkeit der Förderung von Klein- und Mittelunternehmen sowie Bekämpfung der Bürokratie schlug Kutschma Änderungen am politischen System vor.
Man müsse die präsidial-parlamentarische Republik zu einer parlamentarisch-präsidialen Republik umbauen. Er sei nachdrücklich für eine Koalitionsregierung, die sich auf eine stabile parlamentarische Mehrheit stütze. Und in einem kühnen Bogen wies Kutschma darauf hin, dass dies auch dem Geist des Präsidentenreferendums vom Jahre 2000 entspreche, das von allen Beobachtern seinerzeit eher als ein Versuch zur Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten gewertet worden war. Kutschma wandte sich weiter an die Werchowna Rada (Parlament) mit dem Appell, endlich eine parlamentarische Mehrheit in dieser Richtung zu bilden. Die von ihr gewählte Regierung müsse dann auch Verantwortung für Ihre Politik vor dem Volke tragen. Die entsprechenden Verfassungsänderungen müßten so schnell wie möglich eingeleitet werden.
Ferner schlug Kutschma eine Wahlrechtsreform vor, die ein Verhältniswahlsystem nach europäischem Muster zum Inhalt habe. Nun erinnert sich jedoch jeder politisch Interessierte, dass Kutschma noch im letzten Jahr fünfmal sein Veto genau gegen eine derartige Wahlrechtsänderung eingelegt hatte. Schließlich stellte Kutschma akuten Bedarf an einer tiefgreifenden Verwaltungsreform und Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung fest.
Offener Brief Juschtschenkos an Kutschma
Ohne näher auf diese Initiative Kutschmas einzugehen, machte nun Juschtschenko am 28. August in einem ´Offenen Brief an den Präsidenten der Ukraine´ klar, dass auch sein Block ´Unsere Ukraine´ an Demonstrationen teilnehmen werde, wenn nicht eine Reihe von grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Reformschritten zügig umgesetzt werde. Die Parlamentswahl 2002 habe gezeigt, dass der Präsident, die Exekutive, Ordnungskräfte und Steuerbehörden gesetzwidrig den Wahlkampf manipuliert hätten. Bei der Nachwahl am 14. Juli 2002 sei es zu noch eklatanteren Verstößen gekommen. Insgesamt gesehen habe die Staatsführung beim Schacher um den Parlamentsvorsitz und die Ausschußvorsitz die Wahlergebnisse verfälscht.
Besonders rügte Juschtschenko die Besetzung des Parlamentsvorsitzes durch den seinerzeitigen Anführer des Wahlblocks ´Für eine einheitliche Ukraine´ Litwin, welcher die Wahl eindeutig verloren habe. Die Regierung (Ministerkabinett) stütze sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit und sei dem Parlament nicht verantwortlich. Die Verletzung der Menschenrechte und Bürgerrechte nehme einen Massencharakter an. Die Justiz werde verstärkt unter Druck gesetzt, die Ordnungskräfte zur Verfolgung unbequemer Politiker mißbraucht. Die Medien ständen unter fast totaler Kontrolle, während die Opposition keinerlei Zugang mehr zu ihnen habe. Auch die Einschränkungen der kommunalen Selbstverwaltung deuteten darauf hin, dass die Demokratie weiterhin abgebaut werde. Das Vorgehen der Staatsführung bedrohe somit nicht nur die internationalen Interessen und die Unabhängigkeit der Ukraine, sondern stellen auch den Bürgerfrieden in Frage. Die Überwindung der Krise erfordere eine Konsolidierung aller demokratischer Kräfte, da die Ukraine heute vor der Wahl Demokratie oder Diktatur stehe.
Juschtschenko strebt ganz offensichtlich eine Koalitionsregierung an, welche auf der Basis von ´Unsere Ukraine´ als des bei der Wahl erfolgreichsten politischen Bündnisses beruhen soll. Er mahnt ferner dringend praktische Schritte zur europäischen Integration der Ukraine an. Dagegen sollten Verhandlungen über den Beitritt der Ukraine zur von Rußland angeführten Euroasiatischen Wirtschaftsunion abgebrochen werden.
Dies waren in ihrer Eindeutigkeit bisher ungewohnte Worte von Juschtschenko, der in der Vergangenheit zum Leidwesen vieler Mitglieder seiner national-demokratischen Kernparteien wenig Mut zur klaren Distanz und Positionierung gegenüber dem Präsidenten gefunden hatte. Da im Moment kaum davon auszugehen ist, dass Kutschma vor Beginn der angekündigten Demonstrationen auf Juschtschenkos Brief eingehen wird, ist wohl damit zu rechnen, dass das Juschtschenko-Bündnis zumindest teilweise bei den Demonstrationen ab September mitmachen wird. Allerdings sind auch separate Protestaktionen von ´Unsere Ukraine´ im Gespräch. Somit könnte ein wirklich heißer Herbst beginnen, der dem Präsidenten – zusätzlich zu seiner sinkenden Popularität und zwei Jahre vor der Präsidentschaftswahl 2004 – äußerst ungelegen kommen dürfte.
Reaktionen auf die Kutschma-Rede
Die Reaktionen auf Kutschmas Rede von Seiten der Opposition und unabhängiger Medien sind sich einig in dem Tenor, dass der Präsident mit seiner Initiative den für Mitte September angekündigten Demonstrationen den Wind aus den Segeln nehmen will. Offenbar fühlt sich der Präsident derart bedroht, dass er mit seiner ´Flucht nach vorn´ die Rhetorik der Opposition im wesentlichen übernimmt: Einführung eines Verhältniswahlsystems, Recht der Parlamentsmehrheit das Ministerkabinett zu stellen und sogar eine Schwächung der Autorität des Präsidenten.
Damit hofft er – so die Mehrheit unabhängiger politischer Beobachter –, gleichzeitig seine Position zu stärken und diejenige der Opposition zu schwächen. Denn, wohlgemerkt, die Initiatoren der für September angekündigten Demonstrationen hatten ja nicht den Rücktritt Kutschmas als ihr Hauptziel formuliert, sondern einen demokratischen Machttransfer. Kutschma will die Initiatoren mit seinem Schachzug dazu zwingen, ihre Slogans und ihre Taktik zu revidieren.
Im übrigen könnte es durchaus im Interesse Kutschmas liegen, die Initiative zur Regierungsbildung dem Parlament zu überlassen. Während er seine verfassungsmäßigen Vorrechte weiterhin behält, hofft er offenbar, dass er die Verantwortung für eine vermutlich erfolglose ´Koalitionsregierung´ der wohl eher amorphen ´Pseudomehrheit´ im Parlament zuschieben kann. Auch ist keineswegs geklärt, ob eine parlamentarische Mehrheit – falls sie rechnerisch zustande kommt –, überhaupt in der Lage ist, ein verantwortliches Kabinett zu bilden.
Der Präsident hat weiterhin alle Möglichkeiten, die Arbeit einer solchen ´Koalitionsregierung´ zu behindern, um dann nachher – wie bereits mehrfach in der Vergangenheit – das Parlament als handlungsschwach, amorph und chaotisch darzustellen.
Die angesehene Wochenzeitung ´Zerkalo nedeli´ (Wochenspiegel) sieht ein frühes Ende für die Präsidentenambitionen von Viktor Juschtschenko, falls dieser sich in die Machtspiele des Präsidenten als Chef einer solchen ´Koalitionsregierung´ einlassen würde.
Mit seiner überraschenden Initiative vom 24. August, welche die gesamte Opposition völlig unvorbereitet traf, könnte es Kutschma erneut gelingen, die neu en Turbulenzen wie auch die früheren Affären und Skandale, die es in seiner Amtsführung seit 1994 zahlreich gab, auszusitzen.