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Mit seiner Rede, die der indische Premierminister Atal Behari Vajpayee am 18. April 2003 in Srinagar, der Hauptstadt Kaschmirs, vor 30.000 Zuhörern hielt, startete er den dritten Versuch seiner Amtszeit, die verhärteten und von starrer Konfrontation geprägten Beziehungen zwischen Indien und Pakistan zu normalisieren. Diese Rede, die nicht nur in Kaschmir Aufsehen erregte, wurde unmittelbar als „new beginning“ apostrophiert. Vajpayee schwelgte darin in Friedenslyrik, zitierte aus seinen eigenen Gedichten in Kaschmiri und stellte alles in den Schatten, was seine Regierung in den Monaten und Jahren zuvor verkündet hatte. Auch sechs Wochen später, bei seinem Besuch in Berlin Ende Mai, diente ihm der Rest der Berliner Mauer als Kulisse, um über die Chancen und die Notwendigkeit des Falls von Mauern zu philosophieren.
Den ersten Versuch Vajpayees, auf Pakistan zuzugehen, bildete seine Reise nach Lahore im Februar 1999, als er selber mit dem ersten Bus der neu eingerichteten Busverbindung zwischen Delhi und Lahore auf dem Landweg über die Grenze fuhr. Damals wurde er noch von Premierminister Nawaz Shariff empfangen, der zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass die pakistanische Armee (unter Mitwirkung von General Musharraf) ein Eindringen auf indisches Territorium in der Region Kargil vorbereitete. Dieser Krieg, der dann im April 1999 von pakistanischer Seite ausgelöst wurde, erwies sich als grandiose Selbstüberschätzung Pakistans. Dass Indien diesen Angriff „nur“ abwehrte, ohne die „Line of Control“ (LoC) zu überschreiten, die Kaschmir seit 55 Jahren teilt, trug nicht nur zur Aufwertung seines internationalen Ansehens bei, sondern auch zur internationalen Aufmerksamkeit für das Kaschmirproblem.
Den zweiten Versuch einer Annäherung bildete die Einladung an den neuen pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf, seine Geburtsstadt Delhi zu besuchen, und das anschließende Gipfeltreffen in Agra im Juli 2001. Über die Gründe, warum und inwiefern dieses Gipfeltreffen "gescheitert" ist, wurde bereits viel gerätselt und geschrieben. Jedenfalls kam es – trotz nächtelangen Ringens – nicht zu der angestrebten Unterzeichnung einer Abschlusserklärung. Während Vajpayee selber sehr gerne die tiefen Gräben der Vergangenheit überschritten hätte, verhandelte die pakistanische Seite sehr hart und die Falken auf indischer Seite hielten dem ebenso scharf entgegen. Schließlich musste die Annäherung vertagt werden, und Vajpayee betonte wiederholt, dass der begonnene Dialog fortgesetzt werde. Doch dann kam zunächst der 11. September, durch den Pakistan (und nicht Indien!) zum Hauptpartner der USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus erhoben wurde. Vor allem aber kam der für Indien viel bedeutsamere 13. Dezember 2001, als eine Gruppe von Terroristen einen Anschlag auf das indische Parlament verübte, der dann zum Anlass für die „Operation Parakram“ wurde.
Vita brevis, ars longa
Da die derzeitige Amtszeit von Premierminister Vajpayee Anfang 2004 zu Ende gehen wird und es fraglich ist, ob er – angesichts seiner gesundheitlichen Belastungen – bei den dann anstehenden Nationalwahlen erneut als Spitzenkandidat der Bharatia Janata Party (BJP) nominiert werden kann, steht er unter dem Diktat der knappen Zeit. Gerne würde er den Ruf hinterlassen, maßgeblich zu einer dauerhaften Friedenslösung zwischen den verfeindeten Brüderstaaten beigetragen zu haben. Während seines Besuchs in Deutschland hatte er in einem Interview mit dem SPIEGEL erklärt, er beabsichtige „to retire“, falls sein dritter Versuch scheitern solle. Doch konnten die indischen Medien nur rätseln, ob „to retire“ das Ende weiterer Versuche der Annäherung oder einen Rücktritt vom Amt des Premierministers bedeuten sollte. Ebenfalls blieb in diesem Interview offen, was genau mit den „serious compromises“ gemeint war, zu denen Vajpayee sich bereit erklärt hatte.
Die pakistanische Seite hat bisher außerordentlich positiv auf die erneuten Versuche einer Annäherung reagiert. Jedes Angebot der indischen Regierung in Richtung auf eine Normalisierung wurde aufgegriffen und entsprechend erwidert: Überflugverbote wurden aufgehoben, direkte Flugverbindungen wieder eingerichtet und die gegenseitige Vergabe von Visa – die fast auf dem Nullpunkt angekommen war – großzügig wieder aufgenommen. Ferner kam es in großem Umfang zur Freilassung von Gefangenen, sofern diese nicht direkt in Terrorangriffe involviert waren. Am 30. Juni traf dann auch – nach 13monatiger Unterbrechung – ein neuer pakistanischer Botschafter (High Commissioner) in Delhi ein, der Indienkenner Aziz Ahmad Khan. Zwei Wochen später nahm umgekehrt Shiv Shankar Menon seinen Dienst in Islamabad auf, da er zuvor noch – als indischer Botschafter in Peking – den Besuch von Premierminister Vajpayee in der chinesischen Hauptstadt betreuen sollte.
Wichtiger als die pakistanische Bereitschaft, auf die Friedensbemühungen von indischer Seite einzugehen, erscheint jedoch der Druck von Seiten der USA auf beide Staaten, ihre Beziehungen zu normalisieren. Die USA haben ein außerordentlich großes Interesse daran, zwischen dem Mittleren Osten und Ostasien nicht noch einen weiteren Konfliktherd zu bekommen. Deshalb hatte Colin Powell im März d. J. in Aussicht gestellt, dass die USA nach dem Ende des Irak-Krieges, dem Konflikt zwischen Indien und Pakistan mehr Aufmerksamkeit schenken würden. Und die anschließenden Gespräche seines Stellvertreters, Richard Armitage, der Anfang Mai Islamabad und Delhi besuchte, wirkten wie ein auslösender Impuls auf beiden Seiten, sich mit vertrauensbildenden Maßnahmen gegenseitig zu überbieten. Darüber hinaus soll der Sonderbeauftragte für den Wiederaufbau im Irak, Jay Garner, sogar geäußert haben, dass die USA das Kaschmirproblem bis Ende 2004 zu lösen gedenken. Doch schränkte demgegenüber Robert Blackwell, der amerikanische Botschafter in Delhi, Ende Mai ein, es gebe keine „American road map, no American game-plan“ für die erneute indisch-pakistanische Annäherung.
Alles in allem erscheinen der aktuelle Zeitpunkt und die Umstände günstig für eine „Normalisierung“ der indisch-pakistanischen Beziehungen, ja vielleicht sogar für eine tentative „Lösung“ des Kaschmirproblems. Zwar gibt es nach wie vor terroristische Übergriffe entlang der LoC, aber die indische Regierung verzichtet darauf, für jeden Anschlag die pakistanische Regierung verantwortlich zu machen. Beide Seiten bewerten die Probleme und Konflikte, die ihre Beziehungen seit Jahrzehnten überschatten, zur Zeit nicht primär militärisch. Ja, es scheint sogar, als ob beide Seiten unausgesprochen eingestehen, dass sich ihre Differenzen militärisch auch gar nicht überwinden lassen. Über Jahrzehnte hinweg haben beide Seiten eine Politik der gegenseitigen Nötigungen betrieben, für die das militärische Engagement stets das wichtigste Mittel war. Und obwohl beide Seiten über ein erschreckendes Nuklearpotential verfügen, hat es nie eine funktionierende Politik der Abschreckung gegeben. Vor allem aber hat es noch nie eine systematische Friedenspolitik gegeben, und außer Premierminister Vajpayee scheint es zur Zeit auf beiden Seiten noch ein paar weitere Verantwortliche zu geben, die versuchen, die Chancen einer solchen Friedenspolitik auszuloten.
Darüber hinaus gibt es noch zwei spezielle Aspekte in Bezug auf Kaschmir, die den aktuellen Zeitpunkt als günstig erscheinen lassen. Zum einen akzeptiert inzwischen auch die indische Seite – trotz vereinzelter gegenteiliger Meldungen – zunehmend die Einmischung der USA, nachdem sich Indien jahrzehntelang gegen jede Form der Internationalisierung des Kaschmirproblems gewehrt hat. Zum anderen hat der von Indien kontrollierte Teil Kaschmirs seit Oktober 2002 eine neue Landesregierung, die – eindeutiger als je zuvor – aus demokratischen Wahlen hervorgegangen ist und von einer Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird, da sie nicht als Handlanger Delhis erscheint.
Als Delhi und Islamabad sich im Shimla-Abkommen von 1971 darauf verständigten, das Kaschmirproblem ausschließlich bilateral zu behandeln, bedeutete dies nicht nur das Ignorieren der Interessen dritter Staaten, sondern auch des Willens der kaschmirischen Bevölkerung. Während Islamabad seitdem immer wieder versucht hat, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das Kaschmirproblem zu lenken, hielt Delhi strikt am Prinzip des Bilateralismus fest. Seit einem halben Jahr hingegen kommt Delhi offensichtlich nicht länger daran vorbei, auch den Willen der Kaschmiris in Rechnung zu stellen. Aber auch die pakistanische Regierung betont nachdrücklicher denn je, dass sie keine Friedenslösung für Kaschmir anstrebe, die nicht von der Mehrheit der dortigen Bevölkerung akzeptiert werde. Der neue Ausdruck für die derzeit geführten Gespräche lautet deshalb zu Recht: „composite dialogue“.
Perspektiven für einen Erfolg
Trotz der Anzeichen dafür, dass der aktuelle Zeitpunkt für eine indisch-pakistanische Annäherung günstig zu sein scheint, lassen sich gravierende Zweifel an den Erfolgsaussichten nicht unterdrücken. Diese Zweifel gründen zum einen in den tiefen, sachlichen Differenzen, für die seit langem keine Einigung in Sicht ist. Zum anderen gründen sie in dem alltäglichen, psychologischen Klima innerhalb der Bevölkerung, die letztlich auf beiden Seiten mehrheitlich von der Tragfähigkeit einer „Normalisierung“ der gegenseitigen Beziehungen überzeugt werden muss. Was zunächst die sachlichen Differenzen betrifft, lassen sich vor allem drei Problembereiche unterscheiden, die auch bereits für das Scheitern des Gipfeltreffens in Agra im Juli 2001 ursächlich waren.
An erster Stelle steht dabei die unterschiedliche Bewertung des Kaschmirproblems und somit die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Kaschmirproblem im besonderen und der Normalisierung der bilateralen Beziehungen im allgemeinen. Während Pakistan seit eh und je darauf insistiert, dass beides unauflösbar miteinander verbunden ist und deshalb auch nur gleichzeitig gelöst werden kann, favorisiert die indischen Seite eine Stufenfolge. Aus indischer Sicht sollten zuerst die Beziehungen allgemein verbessert werden bevor dann die gemeinsame Suche nach einer Lösung des Kaschmirproblems beginnen kann. Diese unterschiedliche Bewertung spiegelt sich derzeit in einem bezeichnenden Streit über ein Adjektiv wider: Aus pakistanischer Sicht bildet das Kaschmirproblem im Rahmen der aktuellen Annäherung ein „core issue“, während die indische Seite darauf besteht, dass es lediglich als „main issue“ ins Protokoll aufgenommen wird.
Ein zweiter gravierender Problembereich ist die Frage, inwieweit die pakistanische Regierung für den anhaltenden grenzüberschreitenden Terrorismus in Kaschmir verantwortlich zu machen ist. Seit der Unabhängigkeit ist in Pakistan lediglich vom „Freiheitskampf“ der kaschmirischen Bevölkerung die Rede, der von „Freiwilligen“ sei es aus Pakistan, sei es aus anderen islamischen Nachbarstaaten unterstützt wird. Die fortgesetzten, massiven terroristischen Übergriffe auf indisches Gebiet, die seit dem Ende der achtziger Jahre zum Alltag geworden sind, lassen sich damit jedoch nicht rechtfertigen. Die verschiedenen Regierungen in Islamabad hatten in den vergangenen Jahren einerseits ein leichtes Spiel, da sie diese terroristischen Übergriffe im Innern lediglich zu tolerieren brauchten, und gleichzeitig nach außen versuchten, ihre Hände in Unschuld zu waschen. Andererseits gibt es aber auch zahlreiche Belege dafür, dass die Terroristen aktive staatliche Unterstützung – insbesondere durch die Armee – erhalten haben und Pakistan damit eine Politik der fortwährenden Nadelstiche und des „Ausblutenlassens“ gegen Indien geführt hat. Derzeit bekundet Islamabad durchaus glaubwürdig das Interesse an einer friedlichen Neuregelung der Beziehungen zu Indien, ist aber gleichzeitig nicht in der Lage, dem grenzüberschreitenden Terrorismus effektiv Einhalt zu gebieten.
Der dritte Bereich scheinbar unüberbrückbarer Differenzen besteht in der bereits erwähnten Bindung an beziehungsweise Loslösung von früheren Verträgen und damit letztlich der jeweiligen Staatsräson. Indien müsste eingestehen, dass sein Anspruch auf Kaschmir als Ganzes in der Tat umstritten ist und sich seine Politik faktisch längst von den Vereinbarungen im Shimla Abkommen gelöst hat. Gleichzeitig müsste Pakistan seine erheblichen demokratischen Defizite eingestehen und endlich aufhören, den Islam als vermeintliche Trumpfkarte politisch zu instrumentalisieren. Die beiden einschneidenden Veränderungen der vergangenen Jahre sind zum einen die folgenreiche Aufwertung beider Staaten als Nuklearmächte und zum anderen die rasch fortschreitende Internationalisierung ihrer Beziehungen. Beides, so scheint es, hat die Position Pakistans erheblich gestärkt.
Unabhängig von diesen eindeutigen politischen Differenzen gibt es jedoch auch Zweifel an den Erfolgsaussichten einer Annäherung, die im psychologischen Bereich begründet liegen. Hierzu gehören die gegenseitige Perzeption beider Staaten, die in der Bevölkerung weit verbreiteten Feindbilder und die dürftige Tradition bisheriger Gesprächsbereitschaft. Jeder, der erlebt hat, wie verbreitet in Pakistan das Ressentiment gegen das anscheinend übermächtige, acht mal so große Indien ist, oder mit welcher Selbstverständlichkeit überall in Indien Wohngebiete von Muslims als „Mini-Pakistan“ bezeichnet werden, wird verstehen, warum noch viele „vertrauensbildende Maßnahmen“ nötig sein werden, bevor eine dauerhafte Friedenslösung umgesetzt werden kann. Die aktuell erweiterte Erteilung von Visa ist ein erster Schritt, auf den noch viele folgen müssen. Es wird Austauschprogramme in einem Umfang geben müssen, wie es sie noch nie gegeben hat: für Studenten und Wissenschaftler, für Journalisten und Politiker, vor allem aber für die Wirtschaft.
Ein erneuter Anlauf für einen „composite dialogue“ kann nur mit einem sehr langsamen Erfolg rechnen. Er darf sich nicht schon am Anfang in Detailfragen verlieren, und braucht jeweils einen innenpolitischen Rückhalt. Die beiden letzten Gipfeltreffen endeten in einer Sackgasse, weil keine der beiden Seiten zu einem aufrichtigen „Give and Take“ bereit war. Auch wird der amerikanische Druck in Richtung Dialog allein nicht ausreichen, wenn nicht gleichzeitig beide Seiten ein genuines Interesse haben, aufeinander zuzugehen. Die Frage, welche vertrauensbildenden Maßnahmen welchen außenpolitischen Vereinbarungen vorausgehen müssten, erinnert an die nach der Henne und dem Ei. Denn beide Länder scheinen noch nicht an dem Punkt angekommen zu sein, wo sie erkennen, dass ihre Vorstellungen von Nationalismus ihren nationalen Interessen entgegenstehen.