Ein neuer Herausforderer
Anfang Januar hatte Gantz lange Spekulationen beendet und seine Kandidatur angekündigt. Statt sich einer bestehenden Partei anzuschließen, gründete er kurzerhand seine eigene: Chosen leIsrael („Widerstandskraft für Israel“). Es gelang ihm, zwei weitere ehemalige Generalstabschefs, Gaby Ashkenazi und Moshe Yaalon, zur Mitarbeit zu gewinnen. Der größte Coup war allerdings die Absprache mit dem Vorsitzenden der Partei Yesh Atid („Es gibt eine Zukunft“), Yair Lapid, zur Gründung eines Parteienbündnisses. Unter dem Namen Kahol Lavan („Blau-weiß“) – in Anlehnung an die Farben der israelischen Flagge – führte der Zusammenschluss einige Wochen die Umfragen an. Von Beginn an aber war unklar, wofür genau Gantz und seine Mitstreiter politisch standen. Gantz selbst hielt sich lange Zeit bedeckt und sagte wenig bis gar nichts über seine politischen Pläne. Während dahinter anfangs Kalkül gesteckt haben mochte, sich zur Projektionsfläche der politischen Wünsche möglichst vieler Wähler zu machen, wurde es mit der Gewinnung immer weiterer Mitstreiter zur puren Notwendigkeit. Denn je mehr Personen mit disparaten Vorstellungen sich um Gantz scharrten, desto mehr wurde der Wunsch nach Ablösung Netanjahus zur einzigen Klammer, die „Blau-weiß“ zusammenhielt. Das galt sogar für die Spitzenkandidaten, unter denen sich mit Yaalon ein ehemaliger Likudnik befand, der als Verteidigungsminister dem Kabinett Netanjahu angehört hatte und der in vielen Punkten eher rechts als links vom aktuellen Premier steht. Dementsprechend gelang es Blau-Weiß nie, ein konsistentes Gegenprogramm zu den Vorstellungen des Likud und seiner rechten Partner zu entwickeln. Stattdessen versuchten sie, Netanjahu auf seinem eigenen Feld anzugreifen. Mal für Mal hatte dieser die Wahlen als Garant der israelischen Sicherheit gewonnen. Und nicht zufällig hatte vor allem die Arbeiterpartei verzweifelt versucht, einen hochrangigen Ex-Militär auf einen der ersten Plätze ihrer Liste zu heben. Mit einem solchen Pfund wollte man dem Likud das Argument aus der Hand schlagen, seine Opponenten hätten keine sicherheitspolitische Kompetenz. Auch deshalb schien das Bündnis der drei Generäle mit Lapid so aussichtsreich zu sein. Um alle Zweifel an seiner Entschlossenheit im Kampf mit Israels Feinden auszuräumen, trat Gantz im Wahlkampf bewusst robust auf. In seinem ersten
Wahlwerbestopp rühmte er sich seiner Härte im Gaza-Krieg 2014 und schreckte selbst vor der Aussage nicht zurück Teile Gazas „zurück in die Steinzeit“ zurückbombardiert zu haben.
Schmutziger Wahlkampf
Genutzt hat es nicht. Denn Netanjahu zog von Anfang an die Zuverlässigkeit seiner Gegner in Zweifel. Er warf Gantz und seinen Mitstreitern vor, „links“ zu sein. In den Augen weiter Teile der israelischen Gesellschaft ist dieser Begriff seit dem gescheiterten Friedensprozess diskreditiert und gleichbedeutend mit der naiven Bereitschaft zu weitgehenden Zugeständnissen an die Palästinenser, ohne die Aussicht auf konkrete Verbesserungen für Israel. Der Likud unterstellte dem seinerzeit von Netanjahu selbst ernannten Generalstabschef mentale Instabilität, bezeichnete ihn als Verbündeten des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas und der Hamas. Als der Iran Gantz‘ Mobiltelefon hackte, machte Netanjahu diese Information in Bruch üblicher Vorgehensweise öffentlich. Der Likud verbreitete, auf dem Telefon habe sich ein Sex-Video des Ex-Generals befunden, das nun in den Händen des Erzfeindes in Teheran sei. Dieser sei folglich erpressbar und damit der Kandidat der Mullahs.
Zudem griff Netanjahu erneut auf die Taktik zurück, die ihm laut Meinung vieler Experten 2015 in letzter Minute den Wahlsieg gesichert hatte: Hetze gegen die israelischen Palästinenser. Dabei handelt es sich um die rund 20 Prozent der israelischen Gesamtbevölkerung ausmachenden Araber, die in den Grenzen Israels von 1949 wohnen und die israelische Staatsbürgerschaft inklusive voller Bürgerrechte besitzen. Hatte Netanjahu vor vier Jahren am Wahltag gewarnt, die „Araber“ kämen „in Scharen“ zu den Wahlurnen und damit unschlüssige jüdische Wahlberechtigte zur Stimmabgabe bewegt, gehörte das anti-arabische Ressentiment diesmal von Anfang an zum Kampagnerepertoire des Premierministers und seiner Partei. Blau-Weiß wurde die Absicht unterstellt, mit den arabischen Parteien eine Koalition eingehen zu wollen. Letztere wurden ihrerseits beschuldigt, die Existenz des Staates Israels abzulehnen, was in dieser Absolutheit schlichtweg falsch ist. „Bibi oder Tibi“ war ein populärer Slogan der Likud-Kampagne, bei der der Vorsitzende der arabischen Ta’al-Partei („Arabische Bewegung für Veränderung“) Ahmad Tibi zum Schreckgespenst hochstilisiert wurde. Der Tiefpunkt war erreicht, als Netanjahu in einer Auseinandersetzung mit einer Schauspielerin verkündete, Israel sei nicht der Staat aller seiner Bürger, sondern nur der jüdischen.Ganz auf dieser Linie lag auch das illegale, vom Likud organisierte Einschmuggeln von über tausend Mini-Kameras in die Wahlbüros vorwiegend arabischer Wohngegenden, um das Abstimmungsverhalten zu überwachen.
Keine klare Alternative
Die Reaktion von Blau-Weiß hierauf zeigte jedoch deutlich, wie wenig das Bündnis bereit war, sich inhaltlich von Netanjahu abzusetzen. Eine klare Verurteilung dieser Äußerungen erfolgte nicht, ebenso wenig ein konsequentes Einschreiten für die arabischen Mitbürger. Im Gegenteil: Gantz erklärte offen, eine Zusammenarbeit mit den arabischen Parteien abzulehnen. Diese seien anti-israelisch, und die israelischen Palästinenser sollten sich von ihnen abwenden.
Ähnlich sah es bezüglich der Frage des Verhältnisses zu den Palästinensern aus. Netanjahu, der bereits im letzten Wahlkampf beteuert hatte, unter ihm werde es zu keiner Gründung eines palästinensischen Staates kommen, unterstellte Gantz, genau diese Staatsgründung betreiben zu wollen. Statt seinen klaren Willen zu einem Ausgleich mit den Palästinensern und einer Beendigung der seit bald 52 Jahren andauernden israelischen Besatzung der Westbank und des Gazastreifens zu bekunden, blieb der General a. D. auch diesbezüglich vage. Zwar erklärte er sich zur Wiederaufnahme von Verhandlungen bereit, betonte aber auch, keinen Verhandlungspartner zu haben. Zudem knüpfte er seine Verhandlungsbereitschaft an Voraussetzungen, die für die palästinensische Seite nicht hinnehmbar gewesen wären. Jerusalem solle ungeteilte israelische Hauptstadt bleiben, die großen Siedlungsblöcke und das Jordantal bei Israel verbleiben. Unter solchen Umständen wäre die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates so gut wie unmöglich. Auch bezüglich des Gaza-Streifens, den Israel seit dem Rückzug der Besatzungstruppen und
Räumung der dortigen jüdischen Siedlungen im Jahr 2005 nur noch von außen kontrolliert, blieb Gantz vage. Als vor wenigen Wochen erneut Raketen von dort nach Israel flogen, tat er sich vor allem mit der Forderung nach hartem Vorgehen hervor.
Statt deutliche Alternativen zum Amtsinhaber aufzuzeigen, präsentierte sich Gantz eher als dessen bessere Version. Regelmäßig lobte er Netanjahu und grenzte sich eher im Stil, denn Inhalt von ihm ab. Vor allem die gegen den Premierminister erhobenen Korruptionsvorwürfe stellte er in den Mittelpunkt seiner Kampagne. Sein wichtigster Programmpunkt war die Ablösung Netanjahus, und damit verkehrte er das Mittel zum Zweck.
In der Bevölkerung aber herrschte keine Wechselstimmung. Die wirtschaftliche Lage des Landes ist gut, außenpolitisch sehen sich viele Israelis vor allem durch Trumps jüngste Entscheidungen gestärkt, und die Terrorbedrohung durch radikale Palästinenser scheint beherrschbar zu sein. In dieser Situation sahen viele Wähler keine Notwendigkeit, die Pferde zu wechseln. Stärker als von den personellen Vorlieben wurden diese Wahlen jedoch von strukturellen Faktoren entschieden: Ungefähr seit der Zweiten Intifada bezeichnen sich rund 55 Prozent der Israelis als politisch „rechts“. Und noch viel länger, nämlich seit 1977, ist der Likud die bestimmende politische Kraft im Land. Die Stimmen für Gantz kamen aber fast ausschließlich von Wählern, die vorher andere Parteien des Zentrums und der Linken gewählt hatte. Gegen den langfristigen Trend zu einer Mehrheit rechts der Mitte ist er nicht angekommen.
Desaster der Linksparteien
Gantz‘ kometenhafter Aufstieg aus dem Nichts zum Konkurrenten Netanjahus auf Augenhöhe symbolisiert damit vor allem eines: die tiefe Krise der politischen Linken in Israel. Nur weil sie das Vertrauen der Bürger weitgehend verspielt hatte, konnte ein politischer Nobody ohne tiefere Programmatik 35 Mandate erringen, während die beiden linken Parteien, Meretz und die Arbeiterpartei, zusammen auf gerade einmal zehn Sitze und damit gut acht Prozent kamen. Damit setzt sich der politische Niedergang der Linken fort. Im Zentrum dagegen, woher die meisten Voten für Blau-Weiß kamen, besteht ein parteipolitisches Vakuum. Statt Mitte-Parteien mit festen Strukturen und klaren Programmen beherrschen dort One-Man-Shows und kurzfristige Wahlbündnisse das programmatisch-diffuse Bild.
Zur Schwäche der Mitte-Links-Parteien trägt das ungeklärte Verhältnis zu den israelischen Palästinensern bei. Auf der einen Seite gelingt es ihnen nicht, eine nennenswerte Anzahl von ihnen dazu zu bewegen, ihre Stimmen für jüdische Parteien links der Mitte abzugeben. Auf der anderen Seite unterbleiben ernsthafte Versuche, Gemeinsamkeiten mit arabischen Parteien zu identifizieren. Die mitunter, allerdings nicht von allen arabischen Parteien demonstrierte Ablehnung des jüdischen Staates macht einen solchen Versuch allerdings auch nicht leicht. Die Aufspaltung der gemeinsamen arabischen Liste vervollständigte das düstere Bild: statt 13 Mandaten (2015) konnten die arabischen Parteien diesmal nur zehn erringen.
Verschiebungen auf Rechten
Aber auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums hat der Likud seine Vorrangstellung ausbauen können. Die Zuspitzung des Wahlkampfs auf das Duell Gantz gegen Netanjahu bescherte letzterem das beste Ergebnis seiner politischen Karriere. Parteiinterne Kritik an ihm dürfte damit vorerst verstummen. Seine beiden charismatischsten Konkurrenten, die bisherige Justizministerin Ayelet Shaked und der bisherige Bildungsmister Naftali Bennet verpassten hingegen mit ihrer neugegründeten Partei „Die neue Rechte“ nach aktuellem Stand den Einzug in die Knesset. Ihre politische Zukunft ist unklar.
Die vor allem unter Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion populären Partei „Unser Haus Israel“ unter Avigdor Liebermann wird auch in der neuen Knesset vertreten sein, allerdings lediglich mit fünf Sitzen. Liebermann hatte die Koalition mit Netanjahu im vergangenen November aus Protest gegen dessen Gaza-Politik verlassen. Dennoch ist damit zu rechnen, dass er auch einer neuen Regierung des Likud-Vorsitzenden angehören wird.
Abgestürzt ist ein weiterer Bündnispartner des Likud, die Mitte-rechts-Partei Kulanu („Wir alle“) unter dem bisherigen Finanzminister Moshe Kahlon. Statt zehn hat sie zukünftig nur noch vier Sitze.
Auf einen Sitz mehr kommt das rechtsextreme Parteienbündnis „Union der rechten Kräfte“. An der Entstehung dieses Bündnisses war Netanjahu maßgeblich beteiligt. Aus Angst, Stimmen für rechte Parteien aufgrund von Zersplitterung und der 3,25%-Sperrklausel zu verlieren, hatte er sich für den Zusammenschluss der radikalen Parteien HabeitHaJehudi („Jüdisches Heim“), Tkuma („Auferstehung“) und Otzma Yehudit („Jüdische Kraft“) eingesetzt. Als Anreiz bot er zwei Kabinettsposten sowie einen Platz auf der Likud-Liste an. Vor allem die Einbeziehung von Otzma Yehudit löste große Empörung aus. Die Partei ist die Nachfolgeorganisation der Kach-Partei, die wegen rassistischer Hetze verboten worden war. Unter den Kritikern befanden sich auch zwei der bedeutendsten amerikanischen jüdischen Organisationen, AIPAC und AJC, die üblicherweise die israelische Regierung nicht öffentlich kritisieren.
Stärker als bei der letzten Wahl abgeschnitten haben dagegen die beiden ultraorthodoxen Parteien die sich um jeweils einen Sitz auf zusammen fünfzehn Mandate verbessert haben. Die beiden waren auch die ersten, die am Wahlabend ihre Unterstützung für Netanjahu bekundeten. Die alte Annahme, die ultraorthodoxen Parteien unterstützten jede mögliche Koalition, solange sie den Erhalt ihrer Privilegien garantiert, scheint immer weniger zu gelten. Auch hier ist eine Bewegung nach rechts zu verzeichnen.
Koalitionsoptionen
Netanjahu hat nun die Wahl, ob er wieder eine Rechtskoalition bildet oder auf Gantz und Lapid zugeht. Im ersten Fall würde es sich um die rechteste Regierung aller Zeiten handeln, ein Prädikat, das bereits die letzte Koalition zu Recht für sich in Anspruch genommen hat. (Im israelischen Kontext bedeutet „rechts“ in erster Linie die Ablehnung eines palästinensischen Staates, Unterstützung des Siedlungsbaus und Festhalten an den 1967 eroberten Gebieten.) Der Likud stünde dann mit seinen 35 Mandaten einem Bündnis mit fünf anderen Parteien gegenüber, die allesamt nur einstellige Ergebnisse aufweisen. Auf der anderen Seite könnte jede dieser fünf Parteien durch Aufkündigung der Koalition die Regierung zum Scheitern bringen. Ein Zusammengehen mit Blau-Weiß brächte dagegen eine solide Mehrheit von 70 der insgesamt 120 Knesset-Mitglieder. Allerdings würden sich die beiden Parteien dabei auf Augenhöhe begegnen.
Eine entscheidende Rolle bei der Koalitionsfrage dürfte die drohende Anklageerhebung des Generalstaatsanwaltes gegen Netanjahu spielen. Eventuell wird er versuchen, einen politischen Ausweg aus dieser juristisch heiklen Situation, etwa in Form eines Immunitätsgesetzes zu finden. Ein solches würde er, wenn überhaupt, wohl nur von einer Rechtskoalition erhalten, erste Unterstützungsbekundungen gab es bereits. Seine potenziellen Koalitionspartner dürften in diesem Fall einen hohen Preis fordern, eventuell die Annexion von Teilen der Westbank, die sowohl seine eigene Partei als auch die Union der rechten Kräfte fordern. Bisher hat sich Netanjahu derartigen Forderungen immer widersetzt, wenige Tage vor der Wahl hat er dann jedoch die Annexion jüdischer Siedlungen angekündigt. Ob es sich dabei um mehr als ein später nicht eingelöstes Wahlversprechen handelt, bleibt abzuwarten. Ebenso, ob nicht am Ende doch die Justiz seine lange politische Karriere beendet. Eines jedoch ist nach dieser Wahl klar: Es wäre zu früh, Netanjahu abzuschreiben.