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Lech Kaczyński ist neuer Präsident

Die Revolte der Wirklichkeit

Lech Kaczyński von der national-konservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hat die Stichwahl zum Amt des Präsidenten der Republik Polen klar gewonnen. Laut amtlichem Endergebnis liegt er mit 54,04 % deutlich vor seinem Konkurrenten Donald Tusk von der liberal-konservativen „Bürgerplattform“ (PO) mit 45,96 %. Die Wahlbeteiligung lag bei 50,99 %, das ist deutlich schlechter als bei den letzten Präsidentenwahlen (2000: 61,12 %; 1995: 68,33 %), als sich Kontrahenten aus verschieden politischen Lagern gegenüberstanden, und auf einem ähnlichen Niveau wie 1990 (53,4 %), als sich Lech Wałęsa gegen den Außenseiter Tymiński durchsetzte. Die erste Runde der Präsidentschaftswahl vor zwei Wochen hatte Tusk mit 36,3 % noch vor Kaczyński mit 33,1 % gewonnen.

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Mit den Ämtern des Staatspräsidenten und Ministerpräsidenten sind die entscheidenden politischen Schaltstellen nun in der Hand der PiS, die allerdings für die Regierung auf eine Koalition angewiesen ist, die sie mit der PO bilden will. Hier wird es entscheidend auf das Programm der Koalition ankommen, das in dieser Woche verhandelt werden soll. Zweifel an einem Zusammengehen mit PiS, die jetzt vereinzelt aus Reihen der PO geäußerten werden, gehören wohl eher zum politischen Poker. Entzöge sich nämlich die PO der Verantwortung, könnte PiS nur mit Hilfe der populistischen Parteien "Selbstverteidigung" und "Liga der Polnischen Familien" regieren.

Kaczynski betonte am Wahlabend die Notwenigkeit der Abrechnung mit der Vergangenheit auf der einen Seite und die Einigkeit der Nation auf der anderen Seite. Er wolle gute außenpolitische Beziehungen pflegen, aber gleichzeitig die polnischen Interessen "verteidigen". Seine ersten Auslandreisen plant er in die USA und zum Vatikan, was außenpolitische Zeichen setzt. Der Amtsantritt ist für den 23. Dezember, ein Tag vor Heilig Abend, vorgesehen.

Der Präsident der Republik hat den Oberbefehl über die Armee. Er kann das Parlament unter bestimmten Umständen auflösen, bestimmt den Termin der Parlamentswahl und ernennt den Ministerpräsidenten, den er mit der Regierungsbildung beauftragt. Er kann selbst die Gesetzesinitiative ergreifen und ein Veto gegenüber Gesetzen ausüben - mit Ausnahme des Haushaltsgesetzes. Als direkt gewähltes Staatsoberhaupt kommt ihm auch in der Repräsentation der Republik nach außen eine besondere Rolle zu.

Wie schon bei den Parlamentswahlen vor fünf Wochen haben die Meinungsumfragen, die fast bis zuletzt Tusk vorne gesehen hatten, getrogen. In einer Revolte der Wirklichkeit haben die Wähler die Umfrageergebnisse erneut ad absurdum geführt. Das mag auch daran liegen, dass viele Wähler aus dem rechtsnationalen Bereich sich weniger zugänglich bei Umfragen zeigen. Kaczynski hat sich mit Unterstützung einer Phalanx des rechten politischen Spektrums - der Parteien Selbstverteidigung, Liga der Katholischen Familien, Volkspartei, des nationalkatholischen Rundfunksenders "Radio Maria", der Gewerkschaft Solidarnosc - mit seinem sozial-etatistischen, konservativ-nationalen Programm einer IV. Republik durchgesetzt. Am Wahlabend dankte er ausdrücklich sowohl dem Radiosender wie auch den Mitgliedern der Solidarnosc für ihre Stimmen. Dass auch die bäuerliche Volkspartei PSL zu seinen Befürwortern Kaczynskis gehörte, ist deshalb pikant, weil sie im Europäischen Parlament gemeinsam mit der PO der Fraktion der Europäischen Volkspartei angehört, was zu verständlichem Unmut auf Seiten der PO führt. Wie schon bei den Parlamentswahlen, gibt es auch bei der Präsidentenwahl wieder eine deutliche West - Ost Trennung im Wahlverhalten: im besser entwickelten Westen und Norden und im Süden bis nach Oberschlesien (d.h. in ehemals deutschen Gebieten) liegt Tusk vorne; im Osten und in Zentralpolen dominiert Kaczynski, für den besonders oft ältere Personen mit nur durchschnittlicher Bildung in ländlichen Gebieten votierten, während Tusk in besonderem Maße von den jüngeren gut ausgebildeten Wählern sowie von Unternehmern gewählt wurde. Die Arbeitslosen, die in der ersten Runde noch mehrheitlich für Tusk gestimmt hatten, unterstützten diesmal in größerer Zahl Kaczynski.

Die Kampagne von Tusk, die liberale Freiheit und Selbstverantwortung betonte, als weltoffener und europafreundlicher angesehen wurde, führte nicht zum Erfolg. In ersten Analysen ist davon die Rede, dass das Programm von Tusk am Ende zu wenig konkret war, die Konturen des Kandidaten nicht scharf genug herauskamen. Dass die letzten drei Tage einen Umschwung bei den Wählern herbeigeführt hätten, wie manche mit Blick auf die Umfragen glauben, ist unwahrscheinlich angesichts des großen Vorsprunges von rund 8 % für Kaczynski. Offensichtlich haben sich die Wähler, die am Ende für Kaczynski votierten, im Vorfeld stärker bedeckt gehalten. Tusk könnte nun nach der verlorenen Wahl zum Sejmpräsidenten gewählt werden. Bereits in der Wahlnacht hat Kaczynski ihm das Amt als Koalitionszugeständnis angetragen. Tusk selbst erklärte, dass er und die PO sich auch weiterhin für ein durch Freiheit und Verantwortung geprägtes Polen einsetzten werden. Mit 48 Jahren ist Tusk jung genug, um gegebenenfalls einen abermaligen Anlauf auf das Amt des Präsidenten zu nehmen. In der PO bleibt er der dominierende Politiker, wenn sich auch Jan Rokita als voraussichtlicher Vizekanzler profilieren dürfte. Dieser stand am Wahlabend bemerkenswerter Weise nicht hinter Tusk, sondern vor ihm im Publikum, und sagte der Presse: "Seit heute ist Lech Kaczynski mein Präsident. Ich wünsche mir, dass es eine große Präsidentschaft sein wird".

In Deutschland muss man jetzt etwas nüchterner und weniger polemisch die politische Realität in Polen zur Kenntnis nehmen. Wenn noch am Freitag selbst im Feuilleton der FAZ davon zu lesen war, das Land scheine "wie gelähmt in der Angst vor den Brüdern Kaczynski", dann zeugt dies von einer sehr einseitigen Wahrnehmung des Landes und einer Dämonisierung der Kaczynski-Brüder. Eine Mehrheit der Wähler hat sich in Polen in demokratischen Wahlen für eine politische Führung durch die Brüder ausgesprochen, allen Unkenrufen im In- und Ausland zum Trotz. Selbst der Vorsitzende der liberalen Demokratischen Partei, Frasyniuk, äußerte: er habe keine Angst vor der Präsidentschaft von Lech Kaczynski. Dieser sei "kompetent und ehrlich".

Die polemische Qualifizierung der Kaczynskis und ihrer Partei als Populisten in den deutschen Medien ist undifferenziert und wenig sachgerecht: Die PiS ist eine national-konservative zum Teil etatistisch-sozial zum Teil regelrecht wirtschaftsliberal ausgerichtete Partei, betrachtet man ihr Steuerkonzept, das im Wesentlichen einen Satz von 18 % vorsieht. Wenn sie zum Beispiel in den ARD-Tagesthemen als "antideutsch und stark nationalistisch" bezeichnet wird, steht das vor allen Dingen mit zwei Punkten in Zusammenhang: Zum einen hat Lech Kaczynski als Oberbürgermeister von Warschau als Antwort auf Restitutionsforderungen von einer kleinen Minderheit von deutschen Vertriebenen und mit Blick auf das von CDU/CSU unterstützte "Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin publikumswirksam die Frage von Kriegsreparationen Deutschlands an Polen wieder aufgeworfen; zum anderen hat er im gleichen Kontext die Schäden der fast völligen Zerstörung Warschaus im zweiten Weltkrieg durch deutsche Truppen als Beispiel für das von Polen erlittene Schicksal berechnen lassen und will dies Deutschland notfalls auch in Rechnung stelllen. In diesen Fragen ist die Tonart aus Reihen der PiS schärfer als etwa bei der PO. Während Tusk sich im Wahlkampf demonstrativ mit deutschen Politikern von der mit der PO partnerschaftlich verbunden CDU zeigte - Treffen mit Angela Merkel, Helmut Kohl, Bundespräsident Köhler -, legte Kaczynski ebenso demonstrativ Wert auf Abstand. Bei all dem sollte man jedoch nicht übersehen, dass es in der Ablehnung jeglicher deutscher Besitzansprüche wie auch gegenüber dem Projekt "Zentrum gegen Vertreibungen" in Polen einen parteiübergreifenden Konsens gibt. Das betrifft im Hinblick auf eine Koalition von PiS und PO im Übrigen auch die Kritik an der geplanten russisch-deutschen Gasleitung durch die Ostsee, die Skepsis gegenüber einer zu starken französisch-deutschen Dominanz in der EU und die angestrebte deutlichere Akzentuierung polnischer Interessen. Was die nationale polnische Interessenvertretung angeht, scheint man in Deutschland mit einem anderen Maß als etwa gegenüber England und Frankreich zu messen, die gemeinhin nicht zimperlich in der Durchsetzung ihrer Ansprüche auf dem europäischen Parkett sind. Warum sollte sich Polen dabei zurückhalten? Selbst die im Wahlkampf diskutierte Wehrmachtsvergangenheit des Großvaters Tusk erscheint ein wenig in einem anderen Licht, wenn man sich etwa der nationalen Ressentiments erinnert, die in den 60er Jahren in Deutschland gegen Willy Brandt als national unzuverlässig vorgebracht wurden, weil er die Zeit des Weltkrieges im skandinavischen Exil verbracht hatte. So ist Konrad Schuller von der FAZ zuzustimmen, wenn er nach eingehender Analyse der Argumente von einer Klassifizierung von PiS als "rechtspopulistisch" Abstand nimmt und die nüchternere Einordnung "national-konservativ" oder "konservativ-paternalistisch" wählt (Polnische Volkspartei, in: FAZ vom 21.10.05).

Festzustellen ist allerdings, dass Deutschland und Europa sich mit Polen unter der Führung der PiS auf einen kritischeren Partner einstellen müssen, der nicht einfach im Umgang sein wird. Die Brüder Kaczynski sind wie die meisten führenden Politiker von PiS wenig international erfahren und verfügen dementsprechend auch über wenig internationale Kontakte. Die müssen jetzt geknüpft werden. In der Koalition wird das Außenministerium an den Partner von der PO gehen. In einigen strategischen Fragen der Außenpolitik wie der transatlantischen Partnerschaft und der Ostpolitik gibt es gute Anknüpfungspunkte, ebenso auf dem Feld der innenpolitischen Reformen. Die Brüder Kaczynski stehen nun in der Pflicht, die Ihnen übertragene Verantwortung sachgerecht wahrzunehmen. Da werden sie von manchem Wahlkampfgetöse, das das Auftreten in der Vergangenheit geprägt hat, Abschied nehmen.

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October 21, 2005
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