Fünf Wochen entscheiden die nächsten fünf Jahre
Vom 11. April bis zum 19. Mai wird gewählt - fünf Wochen, 930.000 Wahllokale und nahezu 900 Millionen Menschen können mitbestimmen, welchen politischen Kurs Indien in den nächsten fünf Jahren einschlagen wird.
Die letzte Wahl im Jahr 2014 war eine historische: Die BJP, als damalige Oppositionspartei, löste mit absoluter Mehrheit die regierende Kongresspartei ab. Einen solchen Einzelsieg hatte es seit 1984 nicht gegeben und auch nicht eine derartige Niederlage für den INC mit ernüchternden 44 von 543 Sitzen.
Die kompromisslose Degradierung des INC wird dabei hauptsächlich der Gallionsfigur Narendra Modi zugesprochen. Selten wurde eine Wahl so maßgeblich von einer charismatischen, nicht unumstrittenen, Führungsperson entschieden.
Die Agenda Modis basierte insbesondere auf dem Versprechen, für wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu sorgen. Dass die Erwartungen der Bevölkerung nur in Teilen erreicht wurden, zeigte sich deutlich in den Bundesstaatenwahlen Ende 2018, bei denen die BJP die drei entscheidenden Staaten Rajasthan, Madhya Pradesh und Chhattisgarh an den Kongress verlor. Dies lässt darauf schließen, dass das Ergebnis der kommenden Wahlen im Vergleich zu 2014 eher knapp ausfallen wird. Der Kongress kritisierte damals genau diesen auf die Person Modi zugeschnittenen Wahlkampf und warb mit dem Spruch “Main nahin, hum” - Nicht Ich, sondern Wir.
Auch im aktuellen Wettbewerb stehen die beiden Parteiführer Narenda Modi (BJP) und Rahul Gandhi (INC) im Rampenlicht. Oppositionsführer Gandhi setzt verstärkt auf Sozialpolitik und versucht mit Hindu-freundlicher Rhetorik Stimmen aus dem Regierungslager zu gewinnen und somit die schweren Verluste der Vergangenheit auszubügeln. Hauptvorwurf gegenüber dem Indian National Congress (INC) ist nach wie vor dessen maßgebliche Verflechtung mit dem Nehru-Gandhi-Clan. Tatsächlich ist Rahul Gandhi ein Urenkel des Staatsgründers Jawaharlal Nehru, dessen Nachkommen seit den Unabhängigkeitsbestrebungen die Geschicke des Landes prägen und seit jeher entscheidende Regierungsämter bekleiden. Auch Priyanka
Gandhi, die Schwester Rahul Gandhis, wirkt nun an prominenter Stelle im Wahlkampf mit. Um sich einer starken BJP entgegen zu stellen, führt der INC derzeit Gespräche zu möglichen Allianzen mit anderen Oppositionsparteien.
Für die BJP sind die Wahlen 2019 vor allem ein Test, bei dem sich zeigen wird, ob die Entscheidungen der letzten Jahre für die Wiederwahl reichen und die „Marke Modi“ auch langfristig funktioniert. Bemerkenswert bei der anstehenden Wahl ist, dass nicht nur mehr als 80 Millionen Erstwähler zur Wahl aufgerufen sind, sondern auch, dass die Wahlbeteiligung der Frauen die der Männer übertreffen könnte.
Besonderheiten im indischen Wahlsystem
Das indische Wahlsystem weist einige Besonderheiten auf, die mit dem deutschen personalisierten Verhältniswahlsystems Vertrauten ungewöhnlich vorkommen mögen. So tritt Rahul Gandhi, der Spitzenkandidat der Kongresspartei, die im Parteienspektrum links der Mitte angesiedelt ist, in zwei Wahlbezirken an: In Amethi, aus Indiens bevölkerungsreichstem Bundesstaat Uttar Pradesh (UP), einem Teil des sogenannten „Hindi Heartlands“ und in Wayanad, Kerala, dem einzigen kommunistisch regierten Bundesstaat mit Malayalam als Amtssprache.
Die Bevölkerung in Kerala gilt im indischen Vergleich als besonders gebildet und verzeichnet auf dem Human Development Index (HDI) die höchsten Werte. Aufgrund ihrer soziokulturellen, ethnischen und politischen Strukturen sind sowohl Uttar Pradesh als auch Kerala von strategischer Bedeutung für die Wahlen und entsprechend heiß umkämpft.
Bei der letzten Parlamentswahl 2014 ließ Narendra Modi – damals noch Chief Minister von Gujarat – sich ebenfalls in zwei Wahlbezirken aufstellen und gewann sowohl den Sitz aus seinem Heimatsstaat Gujarat als auch von Varanasi in Uttar Pradesh. Nach der Wahl nahm er das Mandat aus Varanasi an und will in diesem Jahr eben diesen Sitz verteidigen.
Ein Abgeordneter, zwei Sitze - wieso geht das überhaupt?
Eine Lücke im indischen Wahlsystem erlaubt politischen Kandidaten sich für mehrere Wahlkreise aufstellen zu lassen, auch wenn schließlich nur das Mandat für einen Sitz in der Lok Sabha angenommen werden kann. Aus der indischen Politik werden zwar Rufe nach einer Reform des Wahlgesetzes lauter, dennoch wird der Supreme Court bis zu den Wahlen sicher nicht über diesen Fall entscheiden. Höchstwahrscheinlich wird daher die doppelte Mandatsaufstellung auch in dieser Nationalwahl als Instrument der Politiker angewendet werden, die eigene Partei in mehreren Bundesstaaten prominent zu positionieren.
Die Wählerschaft - Spannungen und Konfliktlinien im Subkontinent
Zwischen der süd- und nordindischen Wählerschaft lassen sich traditionell große Unterschiede ausmachen, und weder die BJP noch die Kongresspartei können auf einen großen Rückhalt in der südindischen Bevölkerung zählen. 2014 konnte die BJP insgesamt 22 Sitze im Süden gewinnen - 17 davon in Karnataka, der einzige Staat, in dem die Wählerschaft deutlich der BJP zugeneigt ist. Dies zeugt davon, wie wenig die politische Stimmung in den fünf Bundesstaaten des Südens, Andhra Pradesh, Telangana, Tamil Nadu, Karnataka und Kerala, von den Grabenkämpfen zwischen BJP und Kongress in Delhi beeinflusst wird. Für die großen Parteien lautet daher das Schlagwort “pre-post alliances”, der Versuch, die dominierenden Regionalparteien in den einzelnen Bundesstaaten schon vor der Wahl in eine Allianz zu bringen, um so schließlich Mandate für die Lok Sabha zu erringen. Mit der Kandidatur Rahul Gandhis in Kerala hofft der Kongress, eine Welle der Zustimmung für die eigene Partei auszulösen und gleichzeitig der BJP das im Süden ohnehin schwache Standbein zu nehmen.
Doch neben dem Nord-Süd-Gefälle lassen sich weitere gesellschaftliche Dissonanzen in der indischen Bevölkerung ausmachen. Mehr als 70 Jahre nach der Teilung Britisch-Indiens in das muslimische Pakistan und das hinduistische Indien, sehen sich die über 170 Millionen Muslime im Land nach wie vor struktureller Diskriminierung ausgesetzt, die sie im Durchschnitt mit weniger Chancen sowohl im Bildungssystem als auch auf dem Arbeitsmarkt zurücklassen. Muslime, als die größte Minderheit in Indiens Konglomerat aus verschiedensten Kulturen und Religionen, sind dabei als Wählergruppe durchaus wahlentscheidend. Sie sehen sich vor allem nicht von der regierenden hindu-nationalistischen BJP vertreten, die von den Minoritäten des Landes immer wieder fordert, sich der dominierenden Hindu-Kultur unterzuordnen. Bisher war es daher vornehmlich die links-liberale Kongresspartei, die die Stimmen der Muslime im nationalen Parlament vertreten konnte. Ob dies auch bei der kommenden Wahl der Fall sein wird, wird sich zeigen.
Nach wie vor werden Wahlen in Indien auf dem Land gewonnen. Dies kann leicht vergessen werden, hat man doch schnell die Mega-Städte Mumbai und Delhi im Sinn, wenn es um indische Politik geht. Ca. 70% der Inder leben auf dem Land, und für eben jene sind stabile Getreidepreise und Nahrungsmittel-subventionen von entscheidender Bedeutung. Diese hinduistische Bevölkerungsgruppe fühlte sich zuletzt von der Regierung im Stich gelassen.
Die vergangenen Bundesstaatswahlen im „Hindi Heartland“ von Madhya Pradesh und Rajasthan zeigten dabei umso deutlicher, dass der Kongress mit einer hindu-freundlichen Politik in der Lage ist, die Stimmen von Landwirten, Landarbeitern und kleinen Unternehmern einzufangen.
Die Kontrahenten
Mit einer auf Spitzenkandidat Modi genau zugeschnittenen Medienkampagne schaffte es die BJP 2014, Modi als Mann des Volkes zu etablieren und ihn den Indern gleichzeitig als einzig mögliche Alternative zum regierenden Establishment der Kongresspartei zu präsentieren.
Eine Wiederwahl Modis scheint aufgrund verschiedener Faktoren zu Beginn der Parlamentswahl ungefährdet: Obgleich Journalisten und Intellektuelle konkrete Kritik an seinen nicht erfüllten Versprechen üben, büßt Modi kaum etwas an Popularität ein. Durch regelmäßige Auftritte in Radio- und Fernsehsendungen, geschickte Nutzung sozialer Medien und auf Volksnähe ausgerichtete Massenkundgebungen hat er es geschafft, die BJP als erfolgsversprechende Volkspartei und sich selbst als aufrichtig, fleißig und entschlossen zu präsentieren. Seine Belohnung: Nur wenige zweifeln an seinem unerschütterlichen Bekenntnis zur indischen Nation und an seinem Bemühen, Entwicklung und Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten zu generieren.
Im Bereich der Wirtschaftsreformen konnte Modi mit der Einführung der „Goods and Services Tax“ (GST), die einen einheitlichen indischen Wirtschaftsraum gestaltete, punkten und wird nach wie vor von vielen für seine Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit respektiert.
Zudem sind durch seinen Einsatz für zahlreiche bereits vergebene Bauaufträge im Infrastrukturbereich – allen voran Straßen und Schienenverkehr – die Weichen für weiteres Wachstum und höhere Mobilität in den kommenden Jahren gestellt worden.
Im Infrastrukturbereich sieht sich allerdings gerade der Nordosten des Landes abgehängt und vernachlässigt. Wegen der relativen Entfernung zum Kernland und der räumlichen Trennung aufgrund des in das Staatsgebiet einschneidende Bangladesch kommt es zu einer stellenweisen Entfremdung mit der nordöstlichen Bevölkerung. Bezeichnend ist hierbei insbesondere, dass vermehrt Infrastrukturprojekte in Regionen gefördert werden, in denen sich auch viele Hindi-Sprecher aufhalten, anstatt eine stärkere Bindung zu Randprovinzen zu fördern.
Zu einem großen Teil wird Modis erneuter Wahlerfolg also von der gut geölten Wahlkampfmaschinerie seiner Partei unter Leitung des BJP-Präsidenten Amit Shahs abhängen. Noch vor den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielte die Partei keine große Rolle in Indiens Parteienlandschaft. Gegründet 1980 steht sie für das Bestreben, ein hinduistisch geprägtes Indien nach dem „Hindutva“- Ansatz (dt. hindunationalistisch) zu bilden. Umsetzbar ist dies nur, wenn Hinduismus als die dominierende Kultur und Religion im ganzen Land anerkannt wird.
Der BJP gegenüber steht die Kongresspartei, Indiens älteste und geschichtsträchtigste Partei. Gegründet 1885 begleitete sie die Kolonie durch den Kampf der Unabhängigkeit bis hin zur ersten demokratisch gehaltenen Wahl. Der Kongress dominierte nach der Unabhängigkeit lange Jahre die politische Landschaft Indiens, obwohl sich Wahlverluste wiederholten und die Opposition immer stärker wurde. Alleine zwei vom Kongress gestellte Premierminister Indiens, Indira und Rajiv Gandhi, wurden Opfer tödlicher Anschläge.
Während sozialistische Rhetorik die ersten Jahrzehnte indischer Politik prägte, hat sich das Land spätestens seit den 90er Jahren zu einer offen kapitalistischen Marktwirtschaft entwickelt. Kritiker monieren, dass sich hinter dieser fadenscheinigen Rhetorik nationale Großkonzerne und Privatiers über Jahrzehnte erfolgreich ausbreiten konnten. Insbesondere die Kongresspartei sieht sich daher Vorwürfen ausgesetzt, eine elitäre und bürgerferne Politik zu betreiben die jedoch eine wesentliche Programmatik vermissen lasse.
Ein erneuter Gewinn der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) angeführt von der BJP wird von einer zersplitterten und eher unvorbereiteten Opposition befördert. Der Kongress und verschiedene regionale Parteien haben wenig gemeinsam, das sie eint, außer ihren Willen, Modis Wiederwahl verhindern zu wollen. Darüber hinaus ist unter den Oppositionsparteien nur der Kongress eine nationale Größe.
Die Stimme der indischen Frau
Die Wahlexperten Prannoy Roy und Dorab Sopariwala fanden bei Recherchen heraus, dass 21 Millionen indische Frauen über 18 Jahre nicht für die Wahl registriert sind und aus diesem Grund bei der anstehenden Parlamentswahl ihre Stimme nicht abgeben werden.
Diese Unregelmäßigkeit in den Wahlregistern ist trotz der Zahl von 900 Millionen wahlberechtigten Indern eine ungeheuerliche Erkenntnis. Dennoch konnten die Wahlexperten die Gründe hierfür nicht genau beschreiben. Die Stimmen der nicht-registrierten Frauen könnten jedoch das entscheidende Zünglein an der Waage spielen im erbitterten Kampf um die einzelnen Wahlkreise sowie angesichts des indischen Mehrheits-wahlsystems.
Bezeichnend ist auch, dass die gesellschaftliche Rolle der Frau in Indien weiterhin stark geprägt ist vom Kastenwesen und allgegenwärtigen patriarchalischen Strukturen. So argumentieren Eltern, dass sie ihre Tochter besser nicht für das Wahlverzeichnis registrieren lassen möchten, da auf diese Weise klar würde, dass die junge Frau über 18 sei - ein entscheidendes Kriterium, um in Indien die Heiratsfähigkeit einer Tochter zu messen.
Dies zeigt sich auch in dem Unterschied zwischen dem traditionelleren Nordindien gegenüber dem liberaleren Süden. Die Hälfte der fehlenden Wählerinnenstimmen fällt dabei auf die großen nördlichen Bundesstaaten Uttar Pradesh, (Einwohnerzahl: 204,2 Millionen) Maharashtra (114,2 Millionen) und Rajasthan (68,89 Millionen). Die Ergebnisse in Uttar Pradesh, dem größten Bundesstaat Indiens, sind dabei besonders entscheidend für den Ausgang der Parlamentswahl. Gleichzeitig sind in UP insgesamt sechs Millionen weibliche Wählerinnen nicht registriert. Jedem Wahlkreis des Bundesstaates fehlen somit 80.000 weibliche Wählerstimmen. Laut Fazit der Wahlexperten muss daher eine genaue Untersuchung folgen, um Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses auszuräumen.
Modi: Weltraumwaffen als Trumpf
Premierminister Narendra Modi kündigte zwei Wochen vor Beginn der Parlamentswahlen über Twitter eine Ansprache an die Nation an. Das Volk erwartete diese nervös, löste doch erst vor anderthalb Monaten der Terroranschlag in Kaschmir ein Aufleben der indisch-pakistanischen Spannungen aus, welche die beiden Nuklearmächte an den Rand eines Krieges brachte. Die Botschaft der Rede entpuppte sich als folgende: Mit einer neu entwickelten Rakete hatte es Indien geschafft, einen ausrangierten Satelliten im Orbit abzuschießen. Bislang war dies nur den USA, Russland und China vorbehalten gewesen.
Modi versicherte, Indien sei aufgrund dieses Tests stärker geworden und in die “Space Super League” aufgestiegen. Militärische Stärke zu präsentieren ist das eine, dies jedoch in dieser Form während des Wahlkampfs zu tun, bedeutete laut Opposition einen Machtmissbrauch, der durch die Wahlkommission zu beanstanden sei. Diese hat die Aufgabe darauf zu achten, dass Politiker im Amt solche Aktionen während des Wahlkampfs nicht unrechtmäßig zum Stimmenfang missbrauchen, entschied, jedoch, dass Modi nicht im Unrecht war. Während Modi im Anschluss an die “Mission Shakti” - so wurde der Weltraumtest in Anlehnung an indische Atomwaffenversuche 1998 genannt - stolz von Indien als Weltraumgroßmacht sprach, gratulierte Oppositionsführer Rahul Gandhi dem Premier zum “Welttheatertag”. Auch internationale Stimmen klangen besorgt. Pakistan warnte vor einer Militarisierung des Alls, China beschwor alle Nationen Ruhe im All zu bewahren und die USA warnten vor Chaos im Weltall.
„Niemand bleibt hungrig, niemand bleibt arm.”
Der neueste Coup der Kongresspartei kurz vor den Wahlen ist das Versprechen eines bedingungslosen Grundeinkommens, das den 20% ärmsten Haushalten Indiens zugutekommen würde. Konkret impliziert das von Rahul Gandhi kürzlich vorgestellte Schema die folgenden Zahlen und Fakten: Jede indische Familie, die unter 12.000 Rupien pro Monat zur Verfügung hat, erhält mit Nyuntam Aay Yojana (NYAY, Hindi für Mindesteinkommen) eine monatliche Finanzspritze von 6.000 Rupien. Eine zu den 20% ärmsten Haushalten zählende Familie erhielte nach dieser Auflistung 72.000 Rupien (ca. 930 EUR) pro Jahr. Die BJP übt derweil schärfste Krtitik an NYAY, allen voran Finanzminister Arun Jaitley, der betont, dass das Konzept finanziell nicht zu stemmen sei, ohne die von der BJP in den letzten fünf Jahren eingeführten finanziellen Erleichterungen für die Armen zu revidieren. Die Kongresspartei rühmt sich derzeit damit, dass sie nach der gewonnenen Bundesstaatenwahl Ende letzten Jahres in Chhattisgarh das Versprechen an die Bauern, ihnen ihre Schulden innerhalb von 15 Tagen zu erlassen, bereits nach einem Tag einlösen konnte. Tatsächlich sind viele Bauern in Indien von extremer Armut betroffen, was nicht nur zum Leben am Existenzminimum beiträgt, sondern auch zu einer überdurchschnittlich hohen Anzahl an Suizidfällen geführt hat. Ohne soziale Sicherungssysteme, die sie auffangen könnten, und fehlende Reformen sind die Landwirte Preisschwankungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse direkt ausgeliefert, was auch in dem „Kisan Mukti March“ im November 2018 zum Ausdruck gebracht wurde, bei dem an die 100.000 Bauern einen Protestzug nach Neu-Delhi anführten. NYAY soll nun eine weitere Hilfe für die Armen darstellen und die Kongresspartei von der BJP abgrenzen, der sie unter anderem vorwerfen, die indischen Landwirte nicht ausreichend zu unterstützen und nichts gegen die verheerende Jugendarbeitslosigkeit getan zu haben.
Der Terroranschlag in Kaschmir
Lange passierte gar nichts - dann ganz viel. Die Region Kaschmir im Norden Indiens, die sowohl von Indien als auch Pakistan in Gänze beansprucht wird, war in der Vergangenheit immer wieder Bühne für terroristische Anschläge militanter Gruppierungen und sorgt seit der Teilung Indiens für Streitigkeiten zwischen den beiden Nuklearmächten. Am 14. Februar 2019 wurde der jüngste Anschlag verübt, bei der die aus Pakistan operierende Terrorgruppe Jaish-e Mohammed (JeM) über 40 indische Sicherheitskräfte im Pulwama-Distrikt tötete. Nach Indiens Angriff auf ein mutmaßliches Camp der JeM auf pakistanischem Staatsgebiet, kam es in den Tagen nach dem Anschlag zu einem Luftgefecht zwischen den Nachbarländern an der Line of Control.
Obwohl nach wie vor keineswegs von einer Phase der Entspannung zwischen Indien und Pakistan die Rede sein kann, legte sich zumindest die Sorge um eine militärische Eskalation relativ schnell.
Seit dem Anschlag sind jedoch nationale Sicherheit und Patriotismus zu den Top-Themen im Wahlkampf geworden.
Die BJP nutzt die aufgewühlten Gemüter gegenüber Pakistan aktiv für den eigenen Wahlkampf. Sie betont die Stärke Indiens, die Entschlossenheit des Premierministers die sich in der militärischen Antwort gezeigt haben, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Der Kongress auf der anderen Seite bezichtigt die Regierung, die Ereignisse medial auszuschlachten und bezweifelt Indiens militärische Streitkraft, die von der BJP so sehr betont wird.
Fazit
Es könnte aber doch noch eng für Amtsinhaber Modi werden. Dafür spricht, dass Modis Selbstinszenierung als großer Wirtschaftsreformer nicht mehr realitätsgetreu ist. Als er sich 2014 zum ersten Mal als Premierminister bewarb, stärkten ihm die wirtschaftlichen Erfolge des Bundesstaates Gujarats, die man hauptsächlich Modis Führung zusprach, den Rücken. Jetzt, am Beginn der Wahlen sind die Arbeitsmarktdaten schlecht, der Unmut über die umstrittene Bargeldreform, bei der die Regierung im November 2016 über 90% des im Umlauf befindlichen Bargelds für ungültig erklärte, noch groß. Darüber hinaus schwächelt die Umsetzung der von Modi international proklamierten „Make in India“-Initiative, da ausländische Direktinvestitionen rückläufig sind (von 2016 noch 44 Milliarden Dollar auf 38 Millarden Dollar in 2018)
Es sind entscheidende Wahlen für die Zukunft der indischen Gesellschaft. Kritiker der Regierung führen an, dass, sollte die BJP ihre Regierungsmacht verteidigen , das in der Verfassung verankerte Prinzip der Säkularisierung in Indien durch eine erneute hindu-nationalistische Regierung gefährdet sei. Die weltweit größte demokratische Veranstaltung der Welt ist zudem eine besonders teure: Die indischen Parteien geben laut Schätzungen des Centre for Media Studies in Neu-Delhi sieben Milliarden Dollar für ihren Wahlkampf aus. Das sind 40 Prozent mehr als in 2014. Im Vergleich dazu gaben die Parteien in den USA 2016 gemeinsam 6,5 Milliarden Dollar aus.
Am Ende stellt sich die Frage, welche Partei und welcher Spitzenkandidat den Ring als Gewinner dieser logistischen Veranstaltung der Superlative verlassen wird. So sehr die Zahlen in den Prognosen auch differieren, in einigen Punkten sind sich Politologen und Wahlforscher einig. Die von der BJP geführte Koalition NDA wird voraussichtlich auch in der nächsten Legislaturperiode die Mehrheit im indischen Unterhaus stellen. Laut Prognosen unterschiedlicher Wahlforschungsinstitute wird sie bei diesen Wahlen zwischen 267 und 279 von 543 Sitzen im Parlament erhalten. Trotz des Verlustes sollte jedoch der Gewinn von 272 Sitzen der NDA eine Regierungsmehrheit sichern. Auch wenn die vom Kongress angeführte United Progressive Alliance höchstwahrscheinlich ihren Stimmanteil um ein Vielfaches gegenüber 2014 erhöhen kann (von damals 44 auf derzeit geschätzte 115 bis 160 Sitze), wird es letztlich ein sehr schmaler Zugewinn sein. Die Zustimmungsraten für Premierminister Modi sanken in den vergangenen Monaten erheblich, gleichzeitig schien der Kongress durch den Einsatz für Landwirte und für die Bekämpfung steigender Arbeitslosenzahlen im vergangenen Jahr endlich eine Agenda gefunden zu haben. Doch nach dem Pulwama-Anschlag im Februar nahm das Bedürfnis der Bevölkerung nach nationaler Sicherheit in Form von Darstellung militärischer Stärke als Mittel der Terrorismusbekämpfung wieder zu. Dieser konnte sich die BJP in den letzten Wochen sehr erfolgreich widmen.
Als Teil der demokratischen Staatengemeinschaft und als bald drittgrößte Wirtschaftsmacht sind die Wahlen in Indien aber auch im internationalen Kontext von großer Bedeutung. Der Ausgang der Wahlen wird zudem den weiteren Kurs Indiens im Bezug zu Pakistan, China und den Westen maßgeblich bestimmen. Man darf gespannt bleiben und den Blick im nächsten Monat nach Indien richten.