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Country reports

Palästina ohne Arafat – Was nun?

Das Ende der Ära Arafat ist besiegelt. Unabhängig davon, ob er wieder genesen wird oder nicht, politisch ist der Präsident bereits tot. Die palästinensische Führung hat begonnen, die Karten in den Autonomiegebieten neu zu mischen. Noch herrscht erklärte Solidarität innerhalb der verschiedenen palästinensischen Gruppen. Die Entwicklung des Friedensprozesses im Nahen Osten bleibt jedoch nach wie vor fraglich.

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Ämterübernahme und Interimsphase

Arafat weigerte sich stets, potentielle Nachfolger für seine Ämter zu nominieren. Wohlgleich wird nun die Entscheidung zwischen einer neuen politischen Ära und und der Fortsetzung Arafats Politik anderen obliegen. Noch erhebt keine politische Gruppierung offiziell Anspruch auf sein Erbe. Das Führungsgremium um Mahmud Abbas (Abu Mazen), Ahmad Qurei (Abu Ala) und Rawhi Fatouh hat die Politikgeschäfte übernommen. Seitens der oppositionellen Gruppen wird ihnen ein Vorschussbonus zur Bildung einer Interimsführung gewährt.

Nach dem endgültigen Ausscheiden Arafats aus der politischen Bühne werden satzungsgemäß Abbas und Qurei in die Amtsnachfolge der hierarchisch organisierten Institutionen der Palästinenser aufrücken.

Die beiden wichtigsten Ämter nach dem Präsidentenamt – der Vorsitz des Zentralkomitees der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und der Vorsitz der Fatah – werden von Mahmud Abbas, Generalsekretär der PLO und stellvertretender Vorsitzender der Fatah, übernommen. Abbas, der im Jahr 2003 erster palästinensischer Premierminister war, wird dadurch vorerst die politische Richtung der palästinensischen Politik bestimmen.

Ahmad Qurei, der seit September 2003 Abu Mazens Nachfolger im Amt des Premierministers ist, wird ebenfalls in seinen Funktionen aufrücken. Als Kabinettschef ist er bereits federführend für die Tagespolitik zuständig, und als Stellvertreter Arafats im palästinensischen Sicherheitsrat leitet er die Sicherheitsdienste. Der Sicherheitsrat wurde während der Notstandsregierung im Oktober 2003 eingesetzt und stand als „verfassungswidrige“ Institution stets im Zentrum interner und internationaler Kritik, da mit seiner Einsetzung Arafat die Macht über die Sicherheitskräfte monopolisierte. Das Finanzmonopol Arafats und somit die Zahlung der Gehälter für über 130.000 Angestellte ist ebenfalls Qurei bzw. seinem Finanzminister übertragen worden.

Letzter und am wenigsten schillernde Figur im Dreiergespann ist Rawhi Fatouh. Gemäß Artikel 60, Nr. 2 Basic Law, wird dieser im Rahmen seiner Position als Sprecher des Palästinensischen Legislativrates (PLC) für eine Interimsperiode von 60 Tagen sowohl die konstitutionellen Amtsgeschäfte des Präsidenten, als auch die Oberkommandantur der Streitkräfte übernehmen. Während dieses Zeitraums müssen „freie und direkte“ Präsidentschaftswahlen stattfinden. Inwiefern diese Frist eingehalten werden kann, muss angesichts der derzeitigen Sicherheitslage allerdings stark bezweifelt werden. Schon die Vorbereitung auf Lokalwahlen stellt die Organisatoren des Zentralen Wahlkomitees vor zahlreiche Probleme.

Derzeit scheinen die Amtsgeschäfte Arafats augenscheinlich koordiniert und in Übereinstimmung den institutionellen Hierarchien organisiert worden zu sein.

Gefahr durch Machtvakuum – Arafat als Stabilitätsfaktor?

Von einer gefestigten politischen Lage in den palästinensischen Gebieten kann aber noch längst keine Rede sein. Geradlinig vereinigte das charismatische Symbol Arafat als „Vater der Nation“ die Stimme der Palästinenser und war der zentrale Ansprechpartner für die Israelis. Auch wenn diese ihn gerne als unkooperativen Terroristen abstempelten, fanden sie in Arafat doch eine Konstante, die das „kontrollierte Chaos“ überwachte. Mit Arafat hatte Israel vor allem einen Ansprechpartner, den es für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich machen konnte, den es warnen, und dem es drohen konnte.

Wie Uri Averny kürzlich treffend formulierte, „war Arafat der einzige palästinensische Führer mit der turmhohen Autorität, um nicht nur einen Friedensvertrag mit Israel zu unterzeichnen, sondern das palästinensische Volk sogar von der Richtigkeit dessen zu überzeugen“.

Das entstandene Machtvakuum wird nicht ohne weiteres zu füllen sein. Noch geht keiner in den besetzten Gebieten von einem offenen Machtkampf aus, aber schon melden einige Gruppen erste Revieransprüche an:

Die Islamisten der Hamas und Islamischer Jihad sowie Arafat-Gegner innerhalb der Fatah, wie Mohammad Dahlan bereiten sich trotz Wahrung vermeintlicher Einheit auf eine partielle Regierungsverantwortung vor. Dahlan, dem Tausende von Sicherheitsbediensteten im Gaza-Streifen treu folgen, hatte Arafat mit Demonstrationen bereits die Botschaft übermittelt, dass er im Gaza-Streifen nicht zu ignorieren ist.

Die einzige Person vom Schlage Arafats steht nicht in der vordersten Startreihe um die Machtverteilung. Marwan Barghouti sitzt mit fünf mal lebenslänglich in israelischer Haft. Obgleich seine Anhängerschaft, die „junge Garde“ der Fatah, ihn gerne im Rahmen eines israelisch-palästinensischen Handels als Nachfolger Arafats sehen würde, besteht nicht die Spur einer Chance, ihn vor politischem Ende und totalem Popularitätsverlust wieder auf freiem Fuß zu sehen. Trotz der theoretischen Möglichkeit, den inhaftierten Barghouti als Präsidentschaftskandidat zu nominieren, wäre eine solche Entscheidung absurd.

Die Hamas hingegen erfährt zu großen Zuspruch innerhalb der Bevölkerung in beiden Teilen – West Bank und Gaza – als dass sie einfach übergangen werden könnte. Freilich ist sie allerdings noch längst nicht in der Lage, führende Regierungsverantwortung zu übernehmen. Die Hamas-Führung spricht sich für die Interimszeit, in der noch kein gewählter Präsident die Amtsgeschäfte führen wird, für die Fortsetzung des vereinigten, nationalen Führungskomitees, das aus den 14 wichtigsten politischen Fraktionen besteht, aus. Sowohl Abbas als auch Qurei haben sich mit den Fraktionen getroffen. Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Es ist nicht auszuschließen, dass hier ein Handel – Gewaltende gegen politische Verantwortung – zustande kommt. Allerdings erscheint dies solange schwierig bis Hamas die Zweistaaten-Lösung offiziell akzeptiert, da Abbas kein Interesse daran haben wird, die Chance auf Friedensverhandlungen mit Israel auf Spiel zu setzen

Der neue Palästinenserpräsident

Klarheit in die Machtstrukturen wird die Wahl eines neuen Präsidenten der Autonomiebehörde bringen. Die Besetzung dieses Amtes wird also zur Zerreißprobe der innerpalästinensischen Einigkeit – sofern diese jemals vorhanden war.

Offizielle Kandidaten gibt es nicht, aber Spekulationen zu potentiellen Kandidaten. Genannt werden Namen wie Abbas, Qurei, Marwan Barghouti, Mahmoud Zahhar. Meinungsumfragen geben einige Anhaltspunkte. Laut einer Ende September 2004 veröffentlichten Umfrage des KAS-Partners Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) sympathisiert das Volk stärker mit der „jungen Garde“ der Fatah und den Hardlinern der Islamisten als mit der alteingesessenen Führung. Diese steht vielmehr im Ruf, sich durch Korruption auf Kosten der Palästinenser persönlich bereichert zu haben. Bei einer Präsidentschaftswahl würde gemäß PSR folgende Ergebnis erzielt: Arafat 35%, Mahmoud Zahhar (Hamas) 15%, Marwan Barghouti 13%, Ahmad Qurei 3%, Mahmoud Abbas 2%. Ein Drittel der Wähler war zum Zeitpunkt der Umfrage unschlüssig.

Beachtung sollte hierbei jedoch die Tatsache finden, dass sämtliche Umfragen vor der Verschlechterung Arafats Gesundheitszustandes durchgeführt wurden. In diesem Zusammenhang muss bei Prognosen die Unterstützung, die den politischen Gruppen zukommt, Berücksichtigung finden. Hier liegt im Landesdurchschnitt die Fatah mit 29% an der Spitze, gefolgt von Hamas mit 22%. In der West Bank kann die Fatah 31% auf sich vereinigen, während die Hamas auf 17% kommt. Im Gaza-Streifen kehren sich die Mehrheiten um. Hier kommt die Hamas auf 30% und die Fatah auf 24%.

Mahmoud Abbas, der bereits während Oslo mit Israel und den USA zu kooperieren vermochte, und als ranghöchstes Fatah- bzw. PLO-Mitglied offiziell nominiert werden könnte, markiert nach Aussagen politischer Beobachter den Favoriten der kommenden Wahl. Dies bestätigt auch Al Jazeera in einer Internetumfrage. Demnach käme Abbas derzeit auf 39% aller Stimmen, gefolgt von Qurei mit 22%.

Abbas ist aber kein populistischer Politiker, der es versteht, die Massen zu mobilisieren und für seine Sache zu gewinnen. Allerdings zeigte er in der Vergangenheit diplomatisches Geschick und Feingefühl – sowohl im Umgang mit den extremistischen Palästinenserorganisationen, als auch mit Israel, den USA und Europa – sowie starken Willen zur Beilegung des Konfliktes.

Szenarien für Palästina

Worst-Case-Szenario:

Abbas und sein Führungsgremium wird nicht in der Lage sein, freie und direkte Wahlen zu organisieren. Seine Konsolidierungspolitik scheitert. Die Hamas und Islamischer Jihad verkünden die Nichtanerkennung der wie auch immer aussehenden Palästinenserführung und etablieren im Gaza-Streifen ihre Hochburg.

Gleichzeitig hält Israel an der altbewährten Politik fest und deklariert, in der PA keinen akkreditierten Verhandlungspartner zu sehen, der es vermag mit einer Stimme im Sinne der „israelischen“ Politik zu sprechen und hält weiterhin an unilateralen Maßnahmen fest.

Best-Case-Szenario:

Freie und direkte Präsidentschaftswahlen werden abgehalten. Eine Politik der breiten Basis kann durch die Doppelspitzen - Abbas als Präsident und Qurei als Premierminister - errichtet werden. Die Hamas nimmt an den Parlamentswahlen teil, etabliert sich als Partei und übernimmt als Opposition politische Verantwortung. Reformpakte können verabschiedet werden. Die PA-Institutionen bewähren sich und ermöglichen somit einer neuen PA als Vertretung des gesamten palästinensischen Volkes, in Verhandlungen mit Israel zu treten.

Wahrscheinliches Szenario:

Mit oder ohne Wahl: Abbas und Qurei wird es kurz- bis mittelfristig nicht gelingen, eine stabile Regierung mit tragenden Institutionen zu etablieren und die politische Einheit im Land zu gewährleisten. Rivalisierende Gruppen dominieren die politische Landschaft. Israel bietet den Palästinensern kein Verhandlungsangebot. Radikale Gruppen lassen sich nicht auf Gewaltverzicht ein. In Palästina wird der status quo bewahrt.

Auswirkungen auf das Verhältnis zu Israel und den Disengagement-Plan

Sharon und Mofaz befürchten offensichtlich den Eintritt des Worst-Case Szenarios. Ein Notfallplan unter dem bezeichnenden Namen “Operation New Leaf” wurde bereits ausgearbeitet, um den Zusammenschluss und die Machtübernahme der Hamas und anderer radikal-islamischer Gruppen im Gaza-Streifen militärisch entgegenwirken zu können. Befürchtet wird auf israelischer Seite vor allem, dass ein Chaos-Zustand in den palästinensischen Gebieten die Frage nach der Einsetzung von internationalen Truppen auf die Tagesordnung bringen könnte.

Auch andere Szenarien stellen die israelische Politik vor Probleme. Die Prämissen für den Rückzugsplan könnten sich im Grundsatz ändern. In Addendum A des Disengagement-Plans wird festgehalten, dass man sich zum Abzug israelischer Truppen und Siedlungen auf unilateraler Ebene entschlossen habe, da es keinen verlässlichen Partner auf palästinensischer Seite gäbe, mit dem man einen erfolgreichen bilateralen Friedensprozess beginnen könne. Wohlmöglich lässt sich aber in der Abbas-Qureia-Führung ein „rationaler Partner“ für bilaterale Verhandlungen finden. Israel stünde damit vor der Herausforderung, den unilateralen Rückzugsplan in einen mit der neuen palästinensischen Führung abgesprochen Abzugsplan zu verwandeln.

Vor allem aber kann Israel nicht von Verantwortung freigesprochen werden, wenn es um die Lebensfähigkeit einer neuen palästinensischen Regierung geht. Sollte Israel weiterhin für unilaterale Maßnahmen und militärische Interventionen setzen, wird die Grundlage einer jungen palästinensischen Führung zusammenbrechen und die Hoffnung auf Stabilisierung in Palästina und Friedensverhandlungen auf Jahre verschoben. Die Post-Arafat Ära bietet Israel die Chance, den Palästinensern und der Weltöffentlichkeit zu beweisen, dass ein wirkliches Interesse an einem Friedensabkommen mit den Palästinensern besteht.

Israel täte so gesehen gut daran, in dieser für Palästinenser schwierigen Phase Sensibilität zu zeigen, auch mit Blick auf den Umgang mit der Beerdigung von Arafat. Stattdessen übt sich jedoch der israelische Justizminister Yosef Lapid in Provokation: „Jerusalem ist die Stadt, in der jüdische Könige beerdigt sind, nicht jedoch arabische Terroristen“. Diese Aussage ist ebenso bedenklich wie gefährlich, lässt sie doch den Schluss auf den Status Jerusalems in einer künftigen Zwei-Staaten-Lösung zu und schürt somit zusätzlich den Hass der gesamten Arabischen Welt gegenüber Israel.

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