Brasilien kommt nicht zur Ruhe. Nahezu täglich erschüttern neue Schlagzeilen die brasilianische Öffentlichkeit. Die Coronavirus-Pandemie beschert dem Land aktuell mehr als 400.000 Infizierte und fast 26.000 Tote und es ist davon auszugehen, dass die jeweiligen Dunkelziffern noch deutlich höher liegen. Das Gesundheitswesen ist dieser Belastung nicht gewachsen, die Wirtschaft bereits auf Talfahrt und in dieser heiklen Situation verließen der Justizminister und innerhalb von vier Wochen gleich zwei Gesundheitsminister das Kabinett von Staatspräsident Jair Bolsonaro.
Um die von Ex-Justizminister Moro erhobenen Vorwürfe der Einflussnahme des Präsidenten auf die Bundespolizei zu überprüfen, hat der Oberste Gerichtshof Brasiliens jüngst der Veröffentlichung des Videomitschnitts einer Kabinettssitzung vom 22. April 2020 zugestimmt und die politische Krise im Land damit einen neuen Höhepunkt erreicht: Vor versammelter Regierungsmannschaft bekräftigt der Präsident seine alte Forderung nach einer Bewaffnung der Bevölkerung und seine Minister beschimpfen die Institutionen des Landes und ihre Repräsentanten mit drastischen Worten. So gab Bildungsminister Abraham Weintraub zu Protokoll, dass er die Richter des Obersten Gerichtshofes und andere „Penner“ hinter Gittern sehen wolle. Umweltminister Ricardo Salles forderte eine Deregulierung im Bereich des Umweltschutzes, solange die Corona-Krise die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehe. Die Ministerin für Menschenrechte Damares Alves kündigte an, dass
man die Verhaftung von Gouverneuren und Bürgermeistern fordern werde und der liberale Wirtschaftsminister Guedes wünschte sich einen von China finanzierten „Marshall-Plan“ für alle von der Pandemie betroffenen Länder. In der Sitzung verlangte Bolsonaro zudem von seinen Ministern, ihm gegenüber in der Öffentlichkeit absolute Loyalität zu zeigen. Die Presse, als deren Opfer sich Bolsonaro sieht, müsse boykottiert werden. Er machte den Anwesenden deutlich, dass mit einem erfolgreichen Amtsenthebungsverfahren gegen seine Person, in der Konsequenz alle mit ihm fallen würden.
Jene eingeforderte Loyalität zu Bolsonaro wurde daraufhin von einem Minister sogleich auf besondere Art und Weise unter Beweis gestellt. Als das Oberste Gericht Brasiliens am vergangenen Wochenende fast zeitgleich mit der Freigabe des Videos der Kabinettssitzung einen Antrag auf Konfiszierung des Mobiltelefons des Präsidenten und Übermittlung an die Generalstaatsanwaltschaft stellte, wandte sich der Minister für Institutionelle Sicherheit an die Öffentlichkeit. General Augusto Heleno warnte eindringlich vor einem solchen Schritt als Gefahr für den Frieden zwischen den verschiedenen Staatsgewalten mit „unvorhersehbaren Folgen“ für die nationale Stabilität. Die Streitkräfte, so bekräftigte das Verteidigungsministerium, stünden hinter dieser Aussage. Jegliche Spekulationen über einen möglichen Putsch wurden jedoch zugleich zurückgewiesen, man sei schlicht „über das angespannte Klima zwischen den Gewalten extrem besorgt“. Während einige Abgeordnete der Arbeiterpartei PT nun bereits ein Amtsenthebungsverfahren gegen Minister Heleno fordern, sprechen ihm zahlreiche Militärs in einem offenen Brief ihre uneingeschränkte Solidarität aus. Die entscheidende Frage wird somit deutlich: Wo exakt ist die Loyalität der Militärs in Bezug auf die Verfassung, die Demokratie und den Schutz aller Gewalten in der Föderativen Republik Brasilien zu verorten und wie stehen sie zu Präsident Bolsonaro?
Den gesamten Bericht können Sie als pdf herunterladen.