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„Kopftuchurteil“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Das richtungsweisende „Kopftuchurteil“ des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sorgte bei der türkischen Regierungspartei AKP für erhebliche Irritationen. Kemalistische Kreise dagegen fühlten sich weitgehend bestätigt. Die Diskussion in der türkischen Öffentlichkeit über dieses Thema wurde weiter angeheizt.
Vor zwei Jahren hatten zwei türkische Studentinnen, Leyla Şahin und Zeynep Tekin, unabhängig voneinander den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen, weil ihnen das Tragen des Kopftuchs an der Universität verboten wurde. Das laizistische System in der Türkei verbietet, ähnlich wie in Frankreich Studentinnen mit Kopftuch den Besuch von Hochschulen. Nach dem Zeynep Taşkin im Jahre 2003 ohne Angaben von Gründen ihre Klage zurückzog, bezieht sich das Urteil nur noch auf Leyla Şahin.
Der jungen Frau, die an der Medizinischen Fakultät der Universität Istanbul im fünften Studienjahr eingeschrieben war, wurde durch eine Weisung der Universitätsleitung das weitere Studium mit Kopftuch untersagt. Sie durfte auch an Examensprüfungen nicht mehr teilnehmen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte begründete das Urteil damit, dass das Kopftuchverbot für Studentinnen an Schulen und Hochschulen nicht gegen Artikel 9 der Europäischen Konvention (Meinungsfreiheit, Glauben- und Religionsfreiheit) verstoße. Şahin, die zuvor in Österreich lebte und dort mit dem Studium begann, hätte zudem von Beginn an wissen müssen, dass sie mit dem Kopftuch in der Türkei nicht studieren könne, so das Urteil. Zudem griff der Gerichtshof auf Urteile des Türkischen Verfassungsgerichts zurück. Zur Erhaltung der laizistischen Staatsordnung der Türkei und dem Neutralitätsgrundsatz gegenüber allen Staatsbürgern könnten Einschränkungen beim Tragen von religiösen Symbolen ausgesprochen werden, so die Quintessenz dieser Rechtsurteile. Damit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die offizielle türkische Argumentationsweise übernommen und bestätigt. Ein schriftliches Urteil der Straßburger Richter liegt noch nicht vor.
Das Urteil wurde sehr kontrovers in den Medien diskutiert. Während kemalistische Kreise dieses Urteil als Genugtuung empfanden und die kemalistische Tageszeitung Cumhuriyet sogar mit „Ohrfeige aus Strassburg“ titelte, zeigten sich die konservativen Blätter enttäuscht. Auch einige Abgeordnete der AKP äußerten ihren Unmut gegen die Straßburger Entscheidung. Es sei ein politisches Urteil, so die Klägerin Leyla Şahin. Prof. Dr. Burhan Kuzu, Vorsitzender der Verfassungskommission des Türkischen Parlaments und AKP-Abgeordneter, erklärte, dass dem Urteil ein grundsätzlicher falscher Denkansatz zugrunde läge: In Europa hätten die Schüler die Wahl zwischen einer laizistischen oder einer religiösen Schule. Diese Entscheidungsfreiheit gebe es aber in der Türkei nicht. Der AKP-Abgeordnete Avni Doğan bezeichnete dieses Urteil als falsch, da es zu einer Schwächung des Demokratiegedankens führe und unter dem Einfluss des Internationalen Terrorismus getroffen worden sei. Tatsache ist, dass unterschiedliche Interpretationen in Europa hinsichtlich des Tragens religiöser Symbole bei einigen hiesigen Türken das Gefühl der Ungleichbehandlung aufkommen lies. Neben dem Kopftuch stellt der islamische Religionsunterricht ein weiteres Problemfeld dar.
Das Urteil stellt die AKP-Regierung unter Tayyip Erdoğan vor ein Dilemma. Die Lockerung des strikten Kopftuchverbots an türkischen Schulen und Hochschulen war ein Wahlversprechen der AKP. Von Kritikern wird der türkischen Regierung unterstellt, dass sie die EU-Beitrittsbemühungen deswegen so stark forciert, damit bestehende Einschränkungen des europäischen Verständnisses von Glaubens- und Religionsfreiheit in der Türkei aufgehoben würden. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte würde einer solchen Zielsetzung natürlich entgegen wirken.
Das vor zwei Monaten vom türkischen Parlament verabschiedete 8. EU-Reformpaket beinhaltet auch einen Artikel, der künftig dem internationalen Recht Vorrang vor dem nationalen einräumt. „Auch wenn uns die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht gefallen sollten, so sind wir doch gezwungen sie anzuwenden“, so der türkische Justizminister Cemil Çiçek. Die Verteidigungsschrift der Republik Türkei in diesem Verfahren wurde zwar noch unter der Vorgängerregierung Ecevit vorbereitet, jedoch wurde sie von der Regierung Abdullah Gül eingebracht. Tayyip Erdoğan soll den damaligen Premier Gül davor gewarnt haben. Für den heutigen Auβenminister Abdullah Gül ist diese Angelegenheit besonders heikel, da seine Gattin Hayrünnissa Gül auch eine Klage gegen das Kopftuchverbot in der Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht hatte. Mittlerweile hat sie ihre Gerichtsanzeige nach dem „überraschenden Urteil“ aus Straβburg zurückgezogen, um „die Türkische Republik nicht vor große Schwierigkeiten“ zu stellen.
12. Auβerordentlicher Parteitag der Republikanischen Volkspartei
Die innerparteiliche Opposition in der Republikanischen Volkspartei (CHP) bereitet dem Parteivorsitzenden Deniz Baykal immer gröβeres Kopfzerbrechen. Das durchschnittliche Ergebnis der CHP bei den Parlamentswahlen 2002 und insbesondere das ernüchternde Abschneiden bei den Kommunalwahlen im März 2004 sorgten schon seit Monaten für Unruhe in den Reihen der Partei. Darüber hinaus wurde die Art und Weise wie Baykal seine Partei führe und die stellenweise nicht erkennbare Opposition der CHP im türkischen Parlament massiv kritisiert. In der Öffentlichkeit kursieren ständig neue Namen von Personen, die künftig die Partei führen sollen.
Auf dem auβerordentlichen Parteitag am 4. Juli 2004 wurde Deniz Baykal als Parteivorsitzender zwar bestätigt, doch verliert er anscheinend langsam seine Anhängerschaft. Auf dem Parteitag vor neun Monaten konnte er noch 973 Stimmen der insgesamt 1058 Delegierten in geheimer Wahl auf sich vereinigen. Jetzt bekam er in offener Abstimmung jedoch nur 781 von 796 gültigen Stimmen. 262 Delegierte hatten vor der Wahl den Saal verlassen. Der Parteitag fand auch nicht wie üblicherweise in einer groβen Sporthalle in Ankara statt, sondern 30 km auβerhalb der Hauptstadt. Das erhebliche Polizeiaufgebot und die strengen Sicherheitsvorkehrungen stießen auf große Kritik. Insbesondere bei den Journalisten, die allesamt ausgeschlossen waren.
Die innerparteiliche Opposition fühlt sich durch das Ergebnis des Parteikongresses bestätigt. Sie begann bereits mit den Vorbereitungen für einen Sonderparteitag, bei dem dann über die Parteisatzung beraten werden soll. 261 Delegiertenunterschriften werden für die Einberufung eines solchen Satzungsparteitages benötigt. 355 Delegierte hatten ihre Unterschrift schon Mitte Juni dafür hinterlegt. Die Partei muss nun innerhalb von 45 Tagen ein solches Treffen einberufen. In der Zwischenzeit, konnten jedoch Vertraute von Baykal schon ca. 40 Delegierte davon „überzeugen“, ihre Unterstützung für den Sonderparteitag zurückzuziehen. Baykal plane, so einige Medienberichte, in einem ersten Schritt den Ausschluss seiner heftigsten Widersacher aus der Partei. Ein solches Vorgehen würde aber sicherlich eine Ausweitung der innerparteilichen Opposition zur Folge haben
Der CHP mangelt es nicht an Führungspersönlichkeiten. Von vielen Seiten wird immer wieder der Name Kemal Derviş ins Spiel gebracht, der Anfang April durch sein „sozialdemokratisches Positionspapier“ Beachtung finden konnte. Der ehemalige Wirtschaftsminister, der sich bisher aber aus allen Spekulationen heraushält, trat vor einigen Monaten mit einigen anderen von seinen Parteifunktionen in Vorstand und Präsidium zurück.
Es bleibt abzuwarten, ob es zu einem Sonderparteitag kommen wird. Es scheint aber vorgezeichnet, dass die CHP sich weiter in inneren Machtkämpfen aufreiben könnte. Die Partei tritt keineswegs geschlossen auf. Dies wird auch künftig die Arbeit als einzige parlamentarische Oppositionspartei erschweren. Die Machtfrage in der CHP ist zwar zumindest für den Moment geklärt, eine schwache Opposition ist aber nicht unbedingt der türkischen Demokratie förderlich.
Auswirkungen des NATO-Gipfels für die Türkei
Nach dem NATO-Gipfel waren die türkischen Medien voll des Lobes über die hervorragende Organisation des Treffens der Staats- und Regierungschefs. Ministerpräsident Erdoğan entschuldigte sich bei den Bewohnern von Istanbul dafür, dass große Teile der Innenstadt für die Veranstaltung für mehrere Tage geschlossen waren und auch die öffentlichen Verkehrsverbindungen darunter sehr gelitten hätten. Er lobte ebenfalls die Organisatoren. Der NATO-Gipfel sei überdies eine unbezahlbare Werbung für die Türkei gewesen. Es war die fünfte internationale Groβveranstaltung in den letzten Monaten, die in Istanbul durchgeführt wurde.
Neben all diesem positiven Beifall vergaβ die türkische Medienlandschaft beinahe, über die wesentlichen Entscheidungen des Gipfeltreffens zu berichten. Bezüglich der Türkei wurde in Istanbul folgendes beschlossen:
- Die Türkei wird ab kommendem Jahr die Führung der Friedenstruppe in Afghanistan übernehmen.
- Die Türkei sich an der Ausbildung von Polizei und Militär des Iraks beteiligen. Dem Ansinnen der Amerikaner und Europäer, dass sich die Türkei mit Soldaten an einer Irak-Friedenstruppe beteiligen solle, wurde bereits vor dem Gipfel von der türkischen Regierung eine Absage erteilt. Die türkische Öffentlichkeit ist mehrheitlich gegen eine Beteiligung türkischer Truppen im Irak, gleichgültig welches Ziel der Einsatz auch haben sollte. Unklar ist deswegen auch, wo die Ausbildung von irakischen Polizei- und Militäreinheiten durchgeführt werden soll.
- Die Türkei soll im Rahmen des „Broader Middle East Projects“ wegen den traditionell guten Beziehungen zu Israel - die sich zwar in letzter Zeit etwas abgekühlt haben - und den neuerlich verbesserten Beziehungen zu Syrien und Jordanien einen verstärkten gesellschaftspolitischen Dialog in der Region des Nahen Ostens führen. Einzelheiten wie dies umgesetzt werden könne, sind jedoch noch nicht publiziert worden.
Info-Mail
+++ Die Vorbereitungen für die Streichung von sechs Nullen und der Einführung der neuen Türkischen Lira zu Beginn des Jahres 2005 laufen auf Hochtouren. Der Druck der neuen ein Lira Geldscheine wurde abgeschlossen und die Banknoten sind schon an alle Zentralbankfilialen ausgeliefert worden. Den Zuschlag für die Prägung der sechs neuen Münzsorten bekam die deutsche Firma Gräbener Pressensysteme GmbH. Die neuen türkischen Banknoten sollen im September 2004 vorgestellt werden. +++ Scheidungen in der Türkei dauern im Durchschnitt drei Monate. Nach einem Bericht der Tageszeitung Radikal ist die Ehescheidung in der Türkei seit den neuen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches weit schwieriger und langwieriger als bisher. Die neu gegründeten Familiengerichte seien völlig überlastet, zudem fehle es an Psychologen. Eine Scheidung kann von einem Richter nach dem neuen Gesetz nur nach vorheriger Beratung durch einen Ehe-Psychologen ausgesprochen werden. Da die Planstellen für Psychologen an den Gerichten jedoch noch nicht besetzt werden konnten, müssen Scheidungswillige anstelle der kostenlosen Beratung Privatärzte aufsuchen und teure Honorare bezahlen. Vielen Leuten fehle einfach das Geld dazu. Die Richter würden in diesen Fällen den Eheleuten empfehlen, es einfach doch noch einmal zusammen zu versuchen. +++ Am 5. Juli 2004 traten folgende Wirtschaftsreformen in Kraft: Inflationsbereinigung von Bilanzen, Begrenzung der Garantiehaftung von Bankeinlagen auf 50 Mrd. TL und Aufnahme der Aktivitäten der neuen Vereinigung der Importeure +++ In den ersten vier Monaten des Jahres 2004 erfasste das staatliche Statistikamt Direktinvestitionen in Höhe von 461 Mio. USD. Das Wirtschaftswachstum der Türkei übertrifft z.Zt. mit 12,4% im ersten Quartal 2004 die Erwartungen bei weitem. Für den Jahresdurchschnitt rechnet die Regierung mit einem Wachstum von 5%. Vor allem private Investitionen tragen den Aufschwung+++ Bis zum Jahr 2007 soll in Tuzla/Istanbul in einer belgisch-türkischen Zusammenarbeit eine neue Universität entstehen, die sich auf die Ausbildung von türkischen Fachkräften für die EU konzentrieren soll +++ Die „Unabhängige Türkei-Kommission“, ein Zusammenschluss ehemaliger hochrangiger europäischen Politikern, der auch Ministerpräsident a.D. Kurt Biedenkopf angehört, traf sich in Istanbul. Ihr Vorsitzender, der ehemalige finnische Staatspräsident Martti Ahtisaari, forderte die EU auf, die Türkei wie auch die anderen Beitrittskandidatenländer gerecht zu behandeln. +++ Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Friedbert Pflüger MdB, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Volker Rühe MdB, Erster Bürgermeister von Hamburg, Ole van Beust, Thomas Kossendey MdB und der eine Delegation des Innenausschusses u.a. mit den Bundestagsabgeordneten Reinhard Grindel und Hartmut Koschyk besuchten in den letzten Wochen die Türkei. +++ 25 Parlamentsabgeordnete der AKP führten am 30. Juni und 1. Juli umfangreiche Gespräche mit führenden CDU-Politikern (u.a. Matthias Wissmann MdB, Dr. Friedbert Pflüger MdB, Volker Rühe MdB, Dr. Wolfgang Schäuble MdB, Thomas Kossendey MdB ) und den beiden Generalsekretären Laurenz Meyer (CDU) und Wilhelm Staudacher (KAS).+++