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Country reports

Politischer Erdrutsch in der Türkei

by Dr. Wulf Eberhard Schönbohm

Analyse und Bewertung der Parlamentswahl vom 3. November

Am 3. November fanden in der Türkei Parlamentswhlen statt, die einen politischen Erdrutsch verursacht hat. Siese nun könnte eine neue politische Ära in der Türkei einleiten.

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Die Ergebnisse der Parlamentswahl vom 3. November haben in der Türkei einen politischen Erdrutsch verursacht und den Beginn einer neuen politischen Ära eingeleitet. Nach einem insgesamt eher müden Wahlkampf und mit einer trotz Wahlpflicht besonders geringen Wahlbeteiligung von 78,6% zeichnete sich schon im Laufe des Wahlabends das sensationelle Wahlergebnis ab, weil bei dieser Wahl erstmalig die vorab veröffentlichten Umfragen und Prognosen halbwegs zutreffend waren.

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Wahlsieger ist die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) unter dem Vorsitz des früheren Istanbuler Oberbürgermeisters Tayyip Erdogan, die 34,3 % der Stimmen erhielt und damit 363 Sitze im Parlament erobert hat, sodass ihr nur noch 4 Mandate bis zur verfassungsändernden 2/3-Mehrheit fehlen. Zweitstärkste Partei ist die sozialdemokratisch-kemalistische CHP unter Deniz Baykal, die 19,4% der Stimmen erhielt und damit 178 Sitze im Parlament erhält. Alle anderen Parteien scheiterten an der 10%-Klausel. Die AKP kann also alleine die Regierung stellen, und die CHP ist die einzige Oppositionspartei.

Die drei bisherigen Regierungsparteien DSP, MHP und ANAP sind auf Grund ihrer dramatischen Wählerverluste nicht mehr im Parlament vertreten. Die DSP hatte sich vor der Wahl gespalten, denn unter Führung des früheren Aussenministers Ismail Cem bildete sich eine neue Partei mit dem Namen Neue Türkei Partei (YTP), zu der ursprünglich Wirtschaftsminister Kemal Dervis, der als Folge der Wirtschaftskrise von der Weltbank ins Kabinett berufen wurde, stossen wollte, dann aber der CHP beitrat. Damit hatten sich die Chancen der YTP erheblich verringert, zumal diese neue Partei Schwierigkeiten hatte, in der kurzen Zeit bis zur Wahl eine schlagkräftige Parteiorganisation in den Provinzen aufzubauen. Obwohl viele Abgeordnete von der DSP zu YTP überwechselten, scheiterte diese Partei kläglich.

Noch bei der Wahl 1999 erhielt die DSP unter Führung von Ecevit 22,2 % der Stimmen und stellte die stärkste Fraktion im Parlament. Bei dieser Wahl haben beide Parteien (DTP und DYP) zusammen nur noch 2,4% der Stimmen auf sich vereinigen können. Auch die nationalistische MHP, die bei der letzten Wahl noch überraschend mit 18% zweitstärkste Partei im Parlament wurde, erreichte nur noch 8,3%. Es ist zu vermuten, dass die MHP ganz wesentlich Stimmen an die neue Jugend Partei (GP) und die übrigen konservativen Parteien sowie die AK-Partei verloren hat.

Die Mutterlandspartei (ANAP), die 1987 noch mit 36,3% die Mehrheit der Mandate erobern konnte und bei der Wahl 1999 schon auf 13,2% abgesunken war, scheiterte mit 5,2% an der Sperrklausel. Dies mag auf den ersten Blick überraschend sein, weil der ANAP-Vorsitzende und stellvertretende Ministerpräsident Mesut Yilmaz in der Regierung der Motor gewesen war für die Durchsetzung der erforderlichen Reformen zur Erfüllung der politischen Aufnahmekriterien der EU. Darin war er auch bemerkenswert erfolgreich gewesen. Aber obwohl ca. 65-70% der türkischen Bevölkerung die türkische EU-Mitgliedschaft befürworten, war sie kein entscheidendes Wahlkampfthema.

Das wirklich ausschlaggebende Wahlkampfthema war die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Verbesserung der sozialen Lage, denn weite Teile der Bevölkerung haben schwer unter den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise gelitten. Die Behauptung von Vural Öger, dass die Parlamentswahlen in der Türkei erheblich anders und zu Lasten der AK-Partei ausgegangen wären, wenn die EU der Türkei vor der Wahl einen Termin für die Beitrittsverhandlungen gegeben hätte, ist nicht plausibel, weil das EU-Thema für die Wähler nicht entscheidend war und man sich von dem Beginn der Beitrittsverhandlungen realistischerweise auch nicht die Lösung der konkreten wirtschaftlichen und sozialen Problemen im Lande erhoffen konnte.

Den drei Regierungsparteien DSP, MHP und ANAP wurde aber die Wirtschaftskrise angelastet, und deshalb haben die Wähler jedes Vertrauen in diese Parteien und ihre Repräsentanten verloren. Zahlreiche Wähler der ANAP sind deshalb auch zur AK-Partei übergewechselt. Im Augenblick ist schwer vorstellbar, dass die ANAP noch einmal ins Parlament gewählt wird, wenn die 10%-Klausel nicht gesenkt wird.

Auch die zweite konservative Partei, die Partei des rechten Weges (DYP), die noch 1991 27% der Stimmen auf sich vereinigen konnte, fiel zurück auf 9,6%, zumal sie natürlich auch wesentliche Stimmenanteile an die AKP verlor. Mit diesen Wahlergebnis ist die Dominanz des türkischen Parteiensystems durch die konservativen Parteien ANAP und DYP, die seit den 80-er Jahren bestand, endgültig beendet und die AKP könnte die künftige Führungsrolle im konservativen Lager übernehmen.

Die Republikanische Volkspartei (CHP) war bei der vorangegangenen Wahl 99 mit 8,7% an der 10%-Klausel gescheitert und nicht im Parlament vertreten. Nach der verlorenen Wahl trat damals Deniz Baykal als Vorsitzender zurück, wurde aber kurze Zeit später wieder zum Vorsitzenden gewählt. Natürlich kam der CHP bei der Wahl ihre Oppositionsrolle zugute, aber vor allen Dingen sind sehr viele Wähler von der DSP und auch von einigen anderen Parteien zur CHP gewechselt wegen Kemal Dervis, der als Wirtschaftsreformer gilt und den staatsinterventionistischen Wirtschaftskurs der CHP zu modernisieren versprach.

Das Wahlergebnis insgesamt, aber insbesondere das der CHP und AKP, ist ganz wesentlich auf die 10%-Klausel und den damit verbundenen Bedeutungszuwachs der Wahlumfragen zurückzuführen. Denn es war durch die veröffentlichten Wahlumfragen den Wählern klar, dass die DSP in keinem Fall im Parlament vertreten sein würde; ähnliches galt auch für die ANAP. Weniger klar war das allerdings für die DYP und die MHP. Ebenfalls klar waren die AKP und CHP als die Favoriten herausgestellt worden. Konservative ANAP-Wähler aber z.B., die ihre Stimme nicht der ANAP geben wollten, weil diese wegen der 10%-Klausel verloren sein würde, wählten dann stattdessen die AK-Partei, und genauso reagierten die früheren DSP-Wähler und stimmten deshalb für die CHP.

Hervorhebenswert ist das Abschneiden der DEHAP mit 6,2%, einem Zusammenschluss der kurdischen HADEP, der ein Verbot droht, der SHP Murat Karayalçins und der TDP Sema Piskinsüts. Die HADEP konnte bei den Kommunalwahlen von 1999 in den kurdischen Provinzen praktisch alle Bürgermeisterposten gewinnen. Die DEHAP hat im Südosten des Landes überall die meisten Stimmen bekommen, teilweise bis zu 50% in einer Provinz. Aber wegen der Sperrklausel ist sie nicht im Parlament vertreten. Die 10%-Klausel ist nicht zuletzt wegen der kurdischen Parteien, die in ihrer Region sehr stark sind, im Wahlgesetz verankert worden, um sie aus dem Parlament herauszuhalten. Daran sind alle Versuche, die 10%-Klausel zu senken, gescheitert. Dabei dürfte es eigentlich im Interesse des demokratischen Systems der Türkei sein, wenn eine gemäßigte kurdische Partei im Parlament vertreten wäre und dadurch die politische Integration dieser Region erleichtert werden würde. Es ist daher keineswegs auszuschließen, dass AKP und CHP sich auf eine Senkung der Sperrklausel im Hinblick auf die nächsten Wahlen einigen könnten.

Ebenfalls hervorhebenswert ist das Abschneiden der Jugend Partei (Genç Partei) unter dem Vorsitz des Unternehmers Cem Uzan, der von amerikanischen Konzernen in Milliardenhöhe verklagt wurde. Es wird spekuliert, dass er ins Parlament kommen wollte, um dadurch die Immunität zu bekommen. Die Jugend Partei war wenige Monate vor der Wahl gegründet und bekannt geworden durch einen ungeheuren Werbe- und Medienaufwand, der vor allem durch die Fernsehkanäle und Zeitungen, die im Besitz von Uzan sind, betrieben wurde. Uzan hat zahlreiche Wahlkampfveranstaltungen im Land durchgeführt, bei denen alle Kundgebungsteilnehmer ein kostenloses Essen bekamen. Er hat eine absolut fremdenfeindliche, nationalistische und populistische Wahlpropaganda gemacht. Man vermutet, dass er vor allen Dingen weniger Qualifizierte, wirtschaftlich und sozial Benachteiligte und arbeitslose Jugendliche mit dieser Propaganda angesprochen hat. Erfreulicherweise ist er mit 7,3% gescheitert. Aber trotzdem ist dies natürlich für eine neugegründete Partei ein erstaunlich gutes Ergebnis, wenn man im Vergleich dazu die 5,1% der ANAP heranzieht.

Erwähnenswert sind noch die ungewöhnlich zahlreichen neun unabhängigen Abgeordneten. Diese müssen nach türkischem Wahlgesetz in ihrer Provinz mindestens 10% der Stimmen erhalten. Dies ist den neun Abgeordneten in aller Regel in den südostanatolischen Provinzen gelungen, wo sie sozusagen „Lokalmatadore“ sind und über eine starke regionale Bindung und Unterstützung verfügen. Bei Bedarf dürfte es der AK-Partei wahrscheinlich gelingen, aus diesem Kreis die fehlende Zahl der Abgeordneten für eine verfassungsändernde 2/3-Mehrheit zu gewinnen.

AKP - islam-demokratische Partei?

Die AKP ist eine neugegründete Partei, die erst seit einem Jahr existiert. Nach dem Verbot der islamistischen Tugend-Partei (Fazilet), die dem seit Jahrzehnten die islamistische Bewegung bestimmenden Führer Erbakan verbunden war, spaltete sich diese Bewegung in die Saadet Partei, die den eher fundamentalistischen, islamistischen Kurs von Erbakan beibehielt und in die AK-Partei unter Tayyip Erdogan und Abdullah Gül, die schon früher diesen Kurs kritisiert hatten und für eine konservativ-islamische, eine islamisch-demokratische Partei plädiert hatten nach dem Vorbild der Christdemokraten in Deutschland. Die AKP lehnt die Anlehnung an den Islam ab und betont, dass sie eine konservative Partei der Mitte und keine religiöse Partei sei.

Brisante Themen wie z.B. das Kopftuchverbot an den Hochschulen wurden von ihr nicht aufgegriffen. Im Vergleich zu den übrigen türkischen Parteien legte sie besonderen Wert auf Transparenz (sie veröffentlicht z.B. ihre Einnahmen und Ausgaben) sowie Teamarbeit in der Parteiführung und hat ein professionelles Parteimanagement aufgebaut. Dadurch gewann sie nicht nur den größten Teil der Wähler der verbotenen Tugend Partei (die Saadet Partei erhielt nur 2,5% der Stimmen), sondern von den übrigen konservativen Parteien ANAP und DYP aber auch MHP sowie von den Erstwählern weitere Stimmen hinzu. Von den 34,4%, die die AKP gewonnen hat, stammen also höchstens 14% aus dem alten Wählerpotential der Tugend Partei.

Bei dieser Wahl haben sich 4 Millionen Erstwähler an der Wahl beteiligt. Auf Grund der Sperrklausel sind 45% der Wähler, deren Parteien gescheitert sind, nicht im Parlament vertreten. So viele Wähler wurden noch bei keiner türkischen Wahl ausgeschlossen. Deshalb wird die Senkung der 10%-Klausel im Laufe der Legislaturperiode sicherlich noch einmal thematisiert werden. Die starke Parlamentsmehrheit der AKP ist also insofern auch künstlich durch das Wahlrecht hervorgerufen worden. Die AKP-Regierung muss daher sehr vorsichtig agieren, denn wenn sie gegen die Interessen dieser ausgeschlossenen Wählergruppen verstößt, wird eine außerparlamentarische Mobilisierung gegen die Regierung leicht zu organisieren sein.

Auch das Militär und die Medien werden sehr genau darauf achten, ob die Regierung und Parlamentsmehrheit irgendwelche Schritte unternehmen, die z.B. das laizistische Prinzip in Frage stellen. Bisher haben die türkische Öffentlichkeit, das Militär, die Medien, die Unternehmerverbände erstaunlich gelassen auf dieses Wahlergebnis reagiert. Die Börse ist gestiegen, die Zinsen sind gesunken und der Dollar-Kurs auch. Dies zeigt: alle Versuche, die AKP als eine islamistische Gefahr für die türkische Republik darzustellen, sind bisher gescheitert.

Dies wird auch daran liegen, dass Erdogan von Beginn an bis in die heiße Phase des Wahlkampfs hinein keines der politisch brisanten Themen, die mit der islamischen Tradition zusammenhängen, wie z.B. Kopftuch an den Universitäten, thematisiert hat. Auch islamische Symbole (grüne Fahnen) spielten bei seinen Wahlveranstaltungen überhaupt keine Rolle.

In den nächsten Tagen wird in Absprache zwischen Staatspräsidenten Sezer und Erdogan ein AKP-Politiker mit der Bildung der Regierung als Ministerpräsident bestimmt. Die anschließende Regierungsbildung dürfte relativ schnell vonstatten gehen. Der Vorstand der AKP hat einstimmig Erdogan alle Kompetenzen zur Bildung der Regierung und zur Benennung des Ministerpräsidentenkandidaten erteilt.

Die AKP hat durchaus erfahrene und qualifizierte Politiker in ihren Reihen für die Übernahme von Ministerämtern. Dabei handelt es sich u.a. um ehemalige Minister der früheren Refah, wie z.B. Abdullah Gül und Abdullatif Sener, der ANAP, wie z.B. Erkan Mumcu, Murat Baseskioglu oder Abdülkadir Aksu, der MHP (Kürsat Tüzmen) und der DYP (Köksal Toptan) sowie angesehene hohe Beamte, ehemalige Botschafter und Manager aus der Wirtschaft. Ob das Personalreservoir der AKP ausreicht, um auch die zahlreichen hohen Beamtenposten, wie z.B. Abteilungsleiter in den Ministerien, mit qualifizierten Personen zu besetzen, bleibt abzuwarten. Die AKP hat im übrigen angekündigt, dass sie die Zahl der Minister und Staatsminister von 34 auf 25 verringern will.

Auch wenn Erdogan wegen eines früheren Gerichturteils nicht Abgeordneter ist und daher auch nicht Ministerpräsident werden kann, wird er unbestritten die zentrale politische Persönlichkeit dieser Regierung sein. Es gibt Spekulationen darüber, dass er relativ kurzfristig die Verfassung und die entsprechenden Gesetze ändern will, um sich die Übernahme des Ministerpräsidentenamtes zu ermöglichen. Aber da Staatspräsident Sezer sich dazu schon kritisch geäußert hat, wird Erdogan dies wahrscheinlich nicht wagen, weil er nicht gleich zu Beginn seiner Amtszeit einen schweren Konflikt mit dem Staatspräsidenten riskieren will. Die andere Möglichkeit ist, dass nach 18 Monaten eine vorgezogene Neuwahl des Parlaments stattfindet und Erdogan Abgeordneter und damit Ministerpräsident werden kann, weil die entsprechenden Gesetzesänderungen bis dahin vorgenommen werden können.

In der Geschichte der türkischen Republik hat seit 1950 Adnan Menderes dreimal, Süleyman Demirel zweimal und Turgut Özal zweimal die Mehrheit der Mandate errungen. Nunmehr hat Erdogan als Vorsitzender einer islamisch-demokratischen Partei erstmalig dieses Ergebnis erreicht, und damit hat eine neue politische Ära in der Türkei begonnen. Dies wird auch daran deutlich, dass alle führenden Politiker der letzten 20 Jahre wie Ecevit, Yilmaz, Çiller, Bahçeli und Erbakan ihren Parteivorsitz abgeben oder sogar gan z aus der Politik ausscheiden werden.

90% aller Abgeordneten des neuen Parlaments sind zum ersten Mal Abgeordnete, 24 davon sind Frauen, 13 sind von der AKP, die alle kein Kopftuch tragen. Es erscheint also eine völlig neue Politikergeneration auf der politischen Bühne.

Politische Ziele der neuen Regierungspartei

Natürlich gibt es in der Türkei noch viel Skepsis gegenüber einer AKP-Regierung. Aber Erdogan hat schon durch seine Äußerungen vor und nach der Wahl hervorgehoben, dass er alle Streitfragen möglichst im Konsens entscheiden und dass er eng mit der Oppositionspartei CHP und mit Nichtregierungsorganisationen kooperieren will. Als erste Maßnahme hat er eine Rundreise in die europäischen Hauptstädte angekündigt, um die Chancen der Türkei für den Erhalt eines Termins für den Beginn der Beitrittsverhandlungen zu verbessern. In diese Delegation will er auch oppositionelle CHP-Politiker einbeziehen.

Neben dem EU-Thema ist die Bewältigung der Wirtschafts- und Sozialkrise ein ganz entscheidender Schwerpunkt, denn deshalb ist er nicht zuletzt auch gewählt worden, weil man ihm am meisten Vertrauen entgegenbringt. Da er als Oberbürgermeister der 12 Millionen-Metropole Istanbul außerordentlich erfolgreich war, trauen ihm viele auch eine erfolgreiche Regierung des Landes zu. In ihren ersten Erklärungen hat die AKP bereits angekündigt, dass sie die IWF-Vereinbarungen akzeptiert und die Zusammenarbeit mit dem IWF fortsetzen wird, allerdings kleinere Veränderungen im IWF-Programm vornehmen will.

Entscheidend wird sein, ob es der neuen Regierung gelingt, vor allen Dingen auch die mittelständische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, wozu bereits Steuersenkungen und die Senkung der außerordentlich hohen Sozialabgaben, die immer mehr Firmen in die Pleite oder in die Schattenwirtschaft getrieben haben, angekündigt wurden. Die neue Regierung wird die letzten Beschränkungen der Meinungsfreiheit und politischen Betätigungsfreiheit (Politikverbot) beseitigen.

In der Außen- und Sicherheitspolitik ist keine grundlegende Änderung zu erwarten. Das gilt auch für die bisherige Irak-Politik. Die erste schwierige Bewährungsprobe für die neue Regierung wird die Lösung des Zypern-Problems sein, die bis zum EU-Gipfel am 12./13. Dezember in Kopenhagen erreicht werden müsste. Eine Verschiebung, die wegen dieses Themas des großen Zeitdrucks von der AKP bevorzugt wird, ist nicht möglich, weil ohne die EU-Aufnahme Zyperns Griechenland der Aufnahme der neuen osteuropäischen Mitglieder nicht zustimmen würde. Der zur erwartende Lösungsvorschlag von UNO-Generalsekretär Kofi Annan scheint auf dem „belgischen Modell“ zu basieren. Die griechische Seite hat diesen Ansatz im Prinzip begrüßt.

Erdogan hat zunächst in einer Äußerung diesen Vorschlag auch aus türkischer Sicht begrüßt, aber dann diese Äußerung wieder zurück genommen und betont, dass er missverstanden worden sei. Jetzt wird stattdessen vom „Schweizer Modell“ gesprochen. Dieses Thema ist für die neue Regierung deshalb besonders schwierig, weil es hoch emotional ist und sie eine Lösung nicht gegen das Militär durchsetzen kann. Erdogan muss im jedem Fall verhindern, dass ihm von kemalistischer oder nationalistischer Seite der Verrat an den türkischen Interessen vorgeworfen wird.

In jedem Fall hat Erdogan mit seiner Regierung nunmehr eine große politische Chance für die weitere Entwicklung der Türkei. Manche türkischen Kommentatoren ziehen schon den Vergleich zu Özal, der der erste große wirtschaftspolitische Reformer war. Erdogan könnte auf innen- und gesellschaftspolitischem Gebiet etwas vergleichbares gelingen. Wenn seine Partei erfolgreich ist, dann wird sie ganz sicherlich die neue Führungspartei des konservativen Lagers sein. Die Linke ist in der Türkei ohnehin mit der CHP auf 20 % geschrumpft.

Erdogan wird die politisch sensiblen Fragen wie z. B. Kopftuch, Korankurse, Religionsunterricht an den Schulen nicht so bald aufgreifen, sondern erst dann, wenn seine Regierung fest im Sattel sitzt. Und er wird versuchen, die notwendigen Veränderungen im Konsens z. B. mit der CHP zu lösen. Wenn er diesen Kurs beibehält, dann besteht die Chance, dass erstmalig in der Geschichte der türkischen Republik eine integrative Verbindung von Islam und liberaler Demokratie, von Islam und westlicher Lebensweise, Weltoffenheit und modernem Wirtschaftshandels gelingt.

Dies wäre eine höhere Stufe der türkischen Demokratie, weil erstmalig eine islamisch- demokratische Partei politisch integriert wäre. In der Vergangenheit hat man durch Verbote versucht, die islamistischen Parteien von der Macht fern zu halten. Nun hat die islamische AK-Partei aber die Macht errungen, weil sie eben nicht islamistisch ist. Unter islamistisch verstehe ich eine Partei, die mit Hilfe der Politik und staatlichen Gesetzgebung religiöse Gebote des Koran der Gesellschaft und seinen Bürgern aufzwingt. Wenn die AKP dies versuchen sollte, wird sie scheitern, weil sie den Widerstand aller wichtigen Führungsgruppen der türkischen Gesellschaft gegen sich mobilisieren würde.

Als Erbakan Ministerpräsident wurde, besuchte er als erstes Libyen, Erdogan wird als erstes Griechenland und dann die übrigen wichtigen EU-Staaten besuchen. Er setzt also eindeutig andere politische Zeichen.

Skepsis bleibt gegenüber Erdogan, denn er ist ein streng gläubiger Muslim. Als Istanbuler Oberbürgermeister hat er die Vergabe von Lizenzen für den Ausschank von Alkohol an Restaurants praktisch beendet. Und er hat sogar versucht, in den Schulbussen eine für Jungen und Mädchen getrennte Sitzordnung durchzusetzen; aber mit diesen Projekt ist er am Widerstand der Bevölkerung gescheitert. In der AKP-Fraktion soll es auch eine Gruppe von Abgeordneten geben, die als Milli-Görüs-Gruppe bezeichnet wird, was darauf hindeutet, dass sie eher islamistisch sind. Im übrigen waren 56 der 363 AKP-Abgeordneten früher Abgeordnete der Tugend Partei.

Erdogan ist Repräsentant der ärmeren, weniger gebildeten anatolischen ländlichen Bevölkerung, die auch in den „Randzonen“ der Großstädte lebt. An deren Erwartungen kann er auch nicht völlig vorbei gehen kann. Risiken und Fragezeichen gibt es in Bezug auf die AKP also auch.

Sollte es der gläubige Muslim Erdogan schaffen, durch seine praktische Politik Islam und liberale Demokratie miteinander zu versöhnen, wäre dies ein Vorbild für die gesamte islamische Welt. Schon jetzt wird in den arabischen Medien auf die bemerkenswerte Entwicklung in der Türkei hingewiesen.

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Sven-Joachim Irmer

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