Country reports
1. Abberufungsreferendum gegen Chávez
Das Abberufungsreferendum gegen Präsident Chávez kann eingeleitet werden. Präsident Chávez selbst hat den Erfolg der Opposition praktisch anerkannt und es als unwahrscheinlich bezeichnet, dass die von der Wahlbehörde prognostizierte Tendenz sich ändert.
„Dies ist ein Triumph von allen“, rief Enrique Mendoza, Gouverneur des Bundesstaates Miranda und Sprecherchef der „Coordinadora Democrática“, aus und zielte damit nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrer Unterschrift trotz höchstem Druck seitens des „Oficialismo“ den Erfolg möglich gemacht hatten. Er richtete seine Botschaft auch an das Oppositionsbündnis. Nur mit unzweideutiger Einheit kann die Opposition das Referendum zum Erfolg bringen.
Diesen Erfolg feierte die Opposition mit Autokarawanen, Spontankundgebungen, Feuerwerk und „Cacerolazas“ (Protest-Topfschlagen) in Caracas und den Regionen. Zu den 550.000 notwendigen „Reparos“ (Bestätigung der Unterschriften vom Jahresende 2003), hatte allein der Bundesstaat Zulia (Ölprovinz an der Nordwestgrenze zu Kolumbien) ~ 20% beigesteuert.
Während die Wahlbehörde ein knappes Ergebnis mit einem Plus von ~ 15.000 Stimmen prognostiziert, veröffentlicht die Opposition ihre exakten Daten. Demnach haben ~ 130.000 mehr als notwendig für das Referendum gegen Chávez votiert. Für die Opposition ein deutlicher Erfolg, für Präsident Chávez eine ziemliche Niederlage.
Glaubt man der Obersten Wahlbehörde, wird das Referendum am 8. August stattfinden. Diesen Termin hatte zumindest der Präsident der Behörde vor Monatsfrist verkündet. Einem Referendum aber müssen sich auch 9 Oppositionsabgeordnete unterziehen. So wie Präsident Chávez es bereits vor Wochenfrist publiziert hatte, bestätigte die Oberste Wahlbehörde das Ergebnis.
Vorausgegangen war ein heftiger Kampf innerhalb der Obersten Wahlbehörde. Die beiden Direktoriumsmitglieder, Sobella Mejías und Ezequiel Zamora, hatten jeden möglichen „Trick“ der CNE-Mehrheit öffentlich gemacht und immer wieder erklärt, dass sie sich jeder „Änderung der Spielregeln“ im laufenden Verfahren widersetzen werden. Während Vizepräsident Rangel bereits am 2. Juni vom Referendum sprach, durchsuchten noch in der Nacht Kriminalpolizei und Sicherheitsbehörden den Teil der Wahlbehörde, wo die Originalunterlagen des „Reparo“ lagen. Sobella Mejías stoppte das Verfahren, welches nach CNE-Direktor Jorge Rodríguez zuvor genehmigt worden sei. Davon wussten allerdings weder die übrigen zuständigen CNE-Direktoriumsmitglieder, noch der CNE-Justitiar, der bestimmt nicht verdächtigt wird Sympathisant der Opposition zu sein. Ganz „cool“ erklärte Rodríguez schließlich, dass die Untersuchungen nichts mit „Reparo“ zu tun hätten, sondern der Kontrolle der Wahlregister dienten.
Überhaupt kann man den Eindruck gewinnen, dass der Begriff „Stimmabgabe“ mit allen Interpretationsmöglichkeiten zu verstehen ist. Das Volk hatte tatsächlich seine „Stimme abgegeben“. Fraglich war, ob dies auch die „Entscheidung“ war, oder ob nicht an anderer Stelle entschieden wurde.
Ohne Zweifel haben die Transparenz des Verfahrens und vor allem der erhebliche internationale Druck, zur Verkündigung der „Tendenz“ geführt. Die Versuche OAS und Carterzentrum auseinanderzudividieren scheiterten. Expräsident Jimmy Carter erschien vor Presse und im CNE mehrmals demonstrativ zusammen mit OAS-Generalsekretär Céser Gaviria. Beide drohten unverhohlen, dass sie die ihnen vorliegenden Ergebnisse selbst veröffentlichen würden, wenn diese Ergebnisse von den Feststellungen der Wahlbehörde erheblich abweichen würden. Auch die Opposition hatte angekündigt, unmittelbar nach Fristverstreichung ihre Zahlen darzulegen, egal wie weit die Wahlbehörde mit der Ergebnisfeststellung sei.
Der internationale Druck war auch durch die anstehende OAS-Generalversammlung am 6. Juni in Quito gegeben. Das Interesse von Präsident Chávez musste es sein, bei dieser Konferenz nicht wieder im Abseits und unter heftiger Kritik zu stehen, so wie es ihm beim Gipfel EU-Lateinamerika in México am Wochenende gegangen war.
2. Venezuela vor der „wirklichen Schlacht“
Mit der Anerkennung des Erfolgs der Opposition hat sich Präsident Chávez erst einmal „Luft“ verschafft. In seiner Anhängerschaft gab es offene Konflikte zur Anerkennung oder nicht des Referendums. Während Vizepräsident Rangel das Abberufungsreferendum in konkrete Erwägung zog, stellten Abgeordnete kategorisch fest, dass es kein Referendum gegen den Präsidenten geben werde und der „Reparo“ die Wiederholung des Betrugs sei. Jetzt hat Präsident Chávez zwei Monate Zeit, um alle Möglichkeiten durchzuspielen und mit seinen „Missionen“, Versprechen und erheblichen Öleinnahmen, dass Blatt zu seinen Gunsten zu wenden und die Opposition unter Druck zu setzen.
Als „Sieg der Demokratie“ wertete Präsident Chávez die Entscheidung der Wahlbehörde. Er kündigte an, dass jetzt die „wirkliche Entscheidungsschlacht“ geschlagen wird. Zugleich rief er sich selbst zum Leiter der Kampagne „Santa Inés“ für das Referendum aus. Eine interessante Verknüpfung von Präsidialamt und parteipolitischer Aktion. Präsident Chávez wies darauf hin, dass die Idee des Abberufungsreferendums von ihm selbst 1999 in die Verfassungsgebende Versammlung eingebracht wurde. Die Opposition ernte jetzt die Früchte seiner „partizipativen Demokratie“. Chávez als Anführer des Abberufungsreferendums? „überraschender Diskurs“, wertete die Auslandspresse. Der Präsident musste das „Kunststück“ fertig bringen, das Ergebnis anzuerkennen und zugleich seiner enttäuschten Anhängerschaft eine neue Aktionslinie aufzuzeigen. „Keine Duldung des neuen Betrugs“, „Es wird kein Referendum gegen Chávez geben“, so äußerten sich bis Stunden vor der Entscheidung noch wichtige Sprecher der Revolutionsseite. Diese ist weiter überzeugt, dass sie die Mehrheit stellt. Die Probe wird es beim Referendum geben.
Das Oberste Gericht hatte die Verfassung so interpretiert, für etliche Experten eine „kleine Verfassungsänderung“, dass es für die Opposition nicht ausreicht, die in Art. 72 geforderte „gleiche Stimmenzahl, wie bei der Wahl des Mandatsträgers“ als Kondition zur Abwahl zu erreichen. Das Gericht hatte zusätzlich festgelegt, dass die „Prostimmen“ (Abwahl) die „Contrastimmen“ (für den Amtsinhaber) übertreffen müssten. Das allerdings könnte sich als „Falle“ herausstellen. Bei geheimer Abstimmung ist schwer zu kontrollieren, ob mit „pro“ oder „contra“ gestimmt wurde. Bei nur einer Möglichkeit (pro), wäre eine eindeutige Kontrolle möglich.
Ist das Abberufungsreferendum tatsächlich erfolgreich, muss Chávez gehen und der Vizepräsident binnen 4 Wochen Neuwahlen ansetzen (~ 8. September), bleibt die Frage „wer kandidiert dann?“. Eine Frage an beide Seiten. Die Opposition müsste dann endlich ihre Führungsfrage entscheiden. Ob dazu die geplanten „primarias“ (Vorwahlen) ein geeignetes Mittel sind ist angesichts des Zeitdrucks mehr als fraglich. Wieder würde die Opposition viele Kräfte im internen Kampf binden. Energie, die zur eigentlichen Auseinandersetzung mit dem Kandidaten der „Revolution“ fehlen würde. Würde dies Präsident Chávez sein können? Der Präsident des Obersten Gerichtes wies darauf hin, dass die Verfassung nur bei Parlamentsabgeordneten eindeutig festlegt, dass Abgewählte nicht wieder kandidieren können. Bei Präsident, Gouverneuren und Bürgermeistern fehlt diese Präzisierung. Diese Frage müsse daher in ihrem Kontext gründlich geprüft und durch das Oberste Gericht entschieden werden.
Das Oberste Gericht könnte auch dann noch entscheidende Bedeutung bekommen, wenn Präsident Chávez seine Rechtsmittel im weiteren Verfahren ausschöpfen würde. Er hatte bereits mehrfach zum Jahresende 2003 angekündigt, dass er seine Rechte notfalls auch vor Gerichten durchsetzen wolle. Einlegen von Rechtsmitteln könnte dann möglich sein, wenn dadurch die Frist „8. August“ verstreichen könnte und man mindestens mit einem Referendum bis zum 19. August gelangt. Ab diesem Datum übernimmt der Vizepräsident die Nachfolge des Präsidenten, egal aus welchem Grund dieser aus dem Amt scheidet. Die Benennung des Vizepräsidenten ist alleiniges Recht des Präsidenten. Bis unmittelbar vor dem Termin, könnte ein Wechsel in der Vizepräsidentschaft möglich sein.
3. Politischer Mob in den Straßen der Hauptstadt
„War der 3. Juni der Beginn des „Plan Santa Inés“?“, fragen Medien. Offensichtliche Anhänger von Präsident Chávez belagerten private Radio- und TV-Sender. Griffen diese an und richteten Sachschaden an. Die Tageszeitung „Asi Es“ (So ist es) wurde angegriffen, „El Nacional“ ebenso. In beiden Zeitungen wurden Einrichtungen zerstört.
Auslieferungslastwagen der Zeitung „Meditarano“ gingen in Flammen auf. Brennende LKW blockierten die Ost-West-Achse des Zentrums. Ein Toter und Verletze sind zu beklagen. Der Sitz des Oberbürgermeisters von Caracas, Alfredo Peña (heute energischer Oppositioneller, in der ersten Regierung Chávez Minister unter ihm) wurde von Vermummten mit Schusswaffen angegriffen.
Parlamentsabgeordneter Rafael Marín (ehemaliger Generalsekretär der sozialdemokratischen Partei „AD“), erlitt erhebliche Verletzungen, als sein PKW mit Stahlstangen vom Mob demoliert und auf ihn eingeprügelt wurde. Nach Operationen musste er in der Intensivstation verbleiben. Seine Frau machte direkt Präsident Chávez für die Verfolgung ihres Mannes verantwortlich.
MVR-Abgeordneter, Nicolás Maduro, wies die Beteiligung von Chávezanhängern zurück. Eingeschleuste und von der Opposition bezahlte Provokateure seien die Täter. Sein Parteifreund und Beigeordneter des Hauptstadtbezirks „Libertador“, Richard Peñalver, versicherte jedoch, dass man für jedwedes Ereignis vorbereitet sei. Peñalver hatte bereits keine Zweifel daran gelassen, dass die von Präsident Chávez am 17. Mai angekündigten Volksmilizen bewaffnet sein müssten. Eine Vorstellung, die Heereschef Baduell später energisch zurückgewiesen hatte. Auch Präsident Chávez hatte präzisiert, dass die Milizen keine Waffen erhalten sollten.
Allerdings bleibt es eine Tatsache, dass Waffen in Venezuela „zum Alltag“ gehören. Ob arm oder reich, bewaffnet sind viele.
4. Prüfsteine für die Demokratie
Ob der 3. Juni wirklich ein „Sieg für die Demokratie“ sein wird, dazu gibt es mehrere „Prüfsteine“. So z.B. die Entwicklung der Menschenrechte, Gewaltfreiheit als Mittel der politischen Auseinandersetzung, die Unabhängigkeit der Gerichte. Bürgermeister Henrique Capriles Radonski (Primero Justicia) bleibt in Haft. Die Festnahme von seinem Amtskollegen Leopoldo López (Primero Justicia) soll nach Medienberichten entschieden sein. Mehrere Politiker und Militärs werden wegen angeblicher Verquickung zu den „kolumbianischen Paramilitärs“ strafrechtlich verfolgt. Den Fall der „Paramilitärs“ beurteilen nicht nur die USA als „sehr seltsam“. Journalistinnen werden weiter vom Militärstaatsanwalt einbenommen.
Die traditionelle Sommerpause ab Anfang Juli wird es dieses Jahr nicht geben. Venezuela steht ab heute im Dauerwahlkampf.