Country reports
Die seit Monaten um sich greifende Unzufriedenheit der peruanischen Bevölkerung mit ihrem Staatspräsidenten Alejandro Toledo und seiner Regierung hat im Juni mit den gewalttätigen Ausschreitungen im Süden des Landes einen bedenklichen Höhepunkt erreicht. Noch nie in der jüngeren Geschichte Perus hatte ein Präsident einen derartig radikalen Vertrauensschwund zu verwinden: Das Zustimmungstief zur Person des Präsidenten und zu seiner Politik könnte mit etwas über 15% abgründiger nicht ausfallen. Kurz vor dem Ablauf ihres ersten Jahres sehen sich Toledo und sein Kabinett mit einer tiefgehenden Regierungskrise konfrontiert, die nicht allein durch den Austausch einiger Minister zu bewältigen sein wird.
Die großzügigen Wahlversprechen, die Präsidentschaftskandidat Alejandro Toledo während seines Wahlkampfes im vergangenen Jahr gegeben hat, beginnen, ihren Preis zu fordern. Seit Monaten wird einer wachsenden Mehrheit in der Bevölkerung bewusst, dass viele Punkte aus dem ambitionierten Regierungsprogramm Toledos und seiner Partei Perú Posible schlichtweg unrealistisch und nicht umsetzbar sind. Hinzu kommt die durchaus verdrussfördernde Art und Weise, mit der sich die Regierung und ihr Chef nonchalant über einst gegebene Zusagen hinwegsetzen. Letztes, trauriges Beispiel: die angestrebte Privatisierung des regionalen Energieunternehmens "Egesa" in Arequipa, der zweitgrößten Stadt des Landes.
Vor einem Jahr versprach der Kandidat Toledo, unter seiner Regierung werde im Rahmen der umfassenden Privatisierungsvorhaben das Stromunternehmen auf jeden Fall ausgespart. Schon im Haushalt des laufenden Jahres wurde allerdings die Verkaufssumme des Unternehmens unter der Rubrik Privatisierungserlöse auf der Einnahmenseite eingeplant.
Die Privatisierung sollte zügig und ohne weitere Verzögerungen durchgeführt werden. Doch die politische Linke des Landes, die eine zwar unauffällige, aber permanente, offensichtlich erfolgreiche Kampagne gegen die gesamte Privatisierungspolitik betreibt und hierbei besonders bei den armen Bevölkerungsschichten auf offene Ohren stößt, konnte auch in Arequipa mit rein auf Emotionen abzielenden Sprüchen bis zu vierzigtausend Demonstranten mobilisieren. Unter Hinweis auf die Machenschaften des Fujimori-Regimes wird dabei als "Hauptargument" angeführt, dass das peruanische Volk sich gegen den "Ausverkauf des nationalen Eigentums" zugunsten einer kleinen Machtclique wehren müsse.
Ziviler Ungehorsam gegen Privatisierungspolitik
Die Arequipeños, traditionell berühmt-berüchtigt für ihre zivilgesellschaftliche Militanz, ließen sich nicht zweimal bitten: Innerhalb weniger Tage verwandelte sich das historische Zentrum in ein Schlachtfeld, der Flughafen wurde besetzt und die Hauptniederlassung der bereits von Fujimori privatisierten und von der spanischen "Telefónica" gekauften Telefongesellschaft in Trümmer gelegt.
Die Regierung reagierte darauf zuerst mit der Aktivierung von Armeeeinheiten, der Ausrufung des Ausnahmezustandes und wenige Stunden später mit der Entsendung einer hochrangigen Ministerdelegation mit dem Auftrag, ein Agreement auszuhandeln. Nach insgesamt 7 Tagen der Gewalt, zwei Toten (ein Polizist und ein Demonstrant) und einem Sachschaden von etwa 30 Millionen Euro unterschrieben die Ministerdelegation einerseits und Vertreter sowohl der Stadt wie auch der in den Streik involvierten regionalen Organisationen andererseits die sog. "Deklaration von Arequipa", in der vereinbart wurde, die Rechtmäßigkeit der Privatisierungen gerichtlich prüfen zu lassen. Das Urteil soll dann definitiv von beiden Seiten anerkannt werden.
Zwar ist somit wieder der zivile Friede in Arequipa und in einigen anderen Städten im Süden Perus eingekehrt, doch die Kosten für diese Ruhe müssen erst noch beglichen werden. Dabei handelt es sich jedoch weniger um die Sachschäden, deren Höhe von 30 Millionen Euro in keinem Verhältnis steht zu den geschätzten 175 Millionen Euro an Privatisierungserlösen und angekündigten Entwicklungsinvestitionen, die der Region Arequipa nun möglicherweise nicht mehr zur Verfügung stehen werden (allein der Verkauf der "Egesa" hätte dem Departement Arequipa 85 Millionen US-Dollar eingebracht, was etwa dem 20-fachen seines jährlichen Haushaltes entspricht). Vielmehr geht es um den Preis, den unter Umständen alle Peruaner bei einer eventuellen Suspendierung des gesamten Privatisierungsprozesses bezahlen müssen.
Das aus Regierungssicht worst case scenario, also der Stopp des Privatisierungsprozesses, würde allein in diesem Jahr ein Haushaltsloch von 466 Millionen US-Dollar hinterlassen, das nur durch radikale Einsparungen - beispielsweise in Form der ersatzlosen Streichung dringend anstehender Infrastrukturvorhaben - gestopft werden könnte. Die Verluste für den Haushalt 2003 werden darüber hinaus noch krasser ausfallen. Das Peruanische Wirtschaftsinstitut "Instituto Peruano de Economía" (IPE) geht von einem Einnahmenverlust von 841 Millionen US-Dollar aus, die der Regierung damit auch nicht zur Verfügung stehen würden, um zumindest einen Teil ihrer umfassenden Wahlversprechen einzulösen.
Als eine weitere Konsequenz müsste mit einem erheblichen Rückgang ausländischer Investitionen gerechnet werden, die aber von elementarer Bedeutung für das peruanische Wirtschaftswachstum im allgemeinen und insbesondere für die Schaffung neuer Arbeitsplätze sind. Die Unsicherheit über die weiteren Entwicklungen haben schon jetzt verschiedene potenzielle Investoren dazu veranlasst, ihre Finanzierungsvorhaben vorerst auf Eis zu legen.
Neue Machtverteilung im Kabinett
Ebenso bedenklich wie die wirtschaftlichen sind die politischen Entwicklungen, die sich aus den Juni-Ereignissen ergeben: Nicht nur, dass Innenminister Fernando Rospigliosi von seinem Amt zurücktrat und Justizminister Fernando Olivera, politischer Führer des kleinen Koalitionspartners Frente Independiente Moralizador FIM, nur durch einen privaten Besuch des Staatspräsidenten und der halben Ministerriege vom gleichen Schritt abgehalten werden konnte, auch die Machtkonstellationen im Kabinett selbst sind erschüttert.
Der bis dato unangefochten regierende neoliberale - von einigen Medien treffend als "die Falken" bezeichnete - Flügel um Premierminister Roberto Dañino und Wirtschaftsminister Pedro Pablo Kuczynski musste mit der Übereinkunft von Arequipa eine derart deutliche Rückweisung seiner Wirtschaftspolitik hinnehmen, dass heute vielfach mit einem baldigen Rückzug dieser beiden international anerkannten Wirtschaftsexperten aus der peruanischen Regierung gerechnet wird. Triumphieren würde dann der als "die Tauben" titulierte Flügel der der politischen Linken entstammenden Minister, aus dessen Reihen sich nicht zuletzt auch die nach Arequipa entsandte Ministerdelegation zusammensetzte (!). Auch die Regierungspartei Perú Posible, die bei der ersten Regierungsumbildung im Februar ihre drei Minister verlor, wittert erneut Morgenluft und fordert bereits öffentlich die Neubesetzung freiwerdender Ministerien durch Parteimitglieder.
Auf den Punkt gebracht wurde die momentane Situation von einem nicht näher genannten Berater aus dem Präsidentenumfeld: "Premierminister Dañino regiert nicht mehr. Er hat jeden Rückhalt verloren." Übrigens eine sehr bezeichnende Äußerung, denn regieren sollte laut Verfassung eigentlich nicht der Premierminister, sondern der Staatspräsident selbst.
Neues Dezentralisierungsgesetz vom Kongress verabschiedet
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Süden führten dazu, dass die Verabschiedung eines der wichtigsten Rahmengesetze in der laufenden Legislaturperiode von der Öffentlichkeit praktisch nicht wahrgenommen worden ist. Ab dem 1. Januar 2003 werden - erstmals in der 181-jährigen Geschichte der peruanischen Republik - die 25 Departements, in die sich der Andenstaat aufgliedert, über eigene Regionalregierungen, -verwaltungen und -haushalte verfügen. Die entsprechende Rahmengesetzgebung, die auch die Abgabe von Kompetenzen von der nationalen hin zur regionalen Ebene regelt - verabschiedete der Kongress am 20. Juni nahezu einstimmig (die ausführlichsten Diskussionen drehten sich um die künftige Gestaltung des Steuersystems; es wurde aber Einigung darüber erzielt, dass das Recht, Steuern zu erheben, in der Kompetenz des Zentralstaats verbleibt). Die neuen Departementsregierungen sollen im Rahmen der ohnehin am 17. November stattfindenden Kommunalwahlen von den ca. 14 Millionen wahlpflichtigen Peruanern bestimmt werden.
Die Regie des gesamten Regionalisierungsprozesses in dem stark zentralistisch geprägten Land soll von einem Nationalen Dezentralisierungsrat (Consejo Nacional de Dezentralización CND) übernommen werden, der sich aus fünf Angehörigen der nationalen Regierung sowie je zwei Vertretern der regionalen und der kommunalen Gebietskörperschaften zusammensetzen wird. Eine große Herausforderung nicht nur für den CND stellt in diesem Zusammenhang die völlige Unkenntnis in der Bevölkerung über die künftige Ausgestaltung der regionalen Kompetenzen dar. Zwar stellen die Parteien derzeit ihre Kandidaten für die Departementswahlen auf, doch die wenigsten von ihnen wissen wirklich, was von ihnen im Falle der Wahl erwartet wird. Schon jetzt bleibt der Eindruck nicht erspart, dass sich die Peruaner nur schwer an die mit so vielen Hoffnungen verbundene Dezentralisierung ihres Landes gewöhnen werden.