Der Sahelstaat Tschad ist für Frankreich und den Westen im Anti-Terror-Kampf ein wichtiger Verbündeter, weil er sich relativer Stabilität in einer Region erfreut, in der sich Dschihadisten und kriminelle Akteure seit Jahren immer größere Aktionsräume erschließen und dadurch ganze Staaten wie z.B. Mali destabilisieren. Die französische Armee unterhält mehrere Stützpunkte im Tschad, das zudem rund 1.400 Soldaten für eine Blauhelm-Mission der Vereinten Nation in Nord-Mali entsandt hat. Tschad leidet zwar wie Niger, Kamerun und Nigeria unter Terrorakten der dschihadistischen Gruppe Boko Haram, allerdings deutlich weniger als jene drei Nachbarstaaten in der Region des Tschadsees. Idris Déby hat das Land mit eiserner Faust zusammengehalten, bis er im Kampf gegen Rebellen im April 2021 unter ungeklärten Umständen getötet wurde. Doch wie geht es nun weiter?
Einer von Débys Söhnen, der 38‑jährige Mahamat, ist neuer Präsident der aktuellen Militärregierung und hat nach seiner Machtübernahme zugesagt, innerhalb von 18 Monaten durch Wahlen zu einer zivilen Regierung zurückzukehren. Dieser mit der Afrikanischen Union vereinbarte Zeitplan wird bereits jetzt kaum einzuhalten sein, aber westliche Diplomaten loben Mahamat Débys Bereitschaft, mit den zahlreichen Rebellen- und Oppositionsgruppen ins Gespräch zu kommen – sein Vater zog es meist vor, Konflikte gewaltsam auszutragen. Mahamat Déby hat allerdings bislang nicht signalisiert, die alten Netzwerke seines Vaters in Armee, Regierungspartei und Präsidentenpalast zu entmachten. Einige Oppositionelle sehen in seinem geplanten nationalen Dialog nur ein Scheinmanöver, um Mahamat Déby mit Hilfe Frankreichs langfristig als neuen Präsidenten zu installieren – Präsident Emmanuel Macron saß bei der Beerdigung des Vaters demonstrativ neben dem Sohn, um seine Unterstützung zu zeigen. Andere Oppositionsgruppen haben den Dialog dagegen ausdrücklich begrüßt.
Tschad – ein Stabilitätsanker im Fokus verschiedener Akteure
Viel steht für die Region auf dem Spiel, da Tschad gleich an mehrere Krisenländer grenzt: im Südwesten an Kamerun, Niger und Nigeria, wo Boko Haram und Banditen aktiv sind, und im Norden an Libyen, wo seit dem Sturz von Muammar Gaddafi im Jahr 2011 Chaos herrscht. Im Osten grenzt Tschad an den instabilen Sudan mit der Krisenregion Darfur und im Südosten an die Zentralafrikanische Republik, wo sich Präsident Faustin-Archange Touadéra nur dank der russischen Wagner-Söldnertruppe an der Macht hält.
Unheil droht dementsprechend gleich aus mehreren Richtungen: In Libyen sind viele tschadische Rebellen quasi „arbeitslos“ geworden, nachdem der ostlibysche Kommandeur Chalifa Haftar sie ursprünglich für seine 2019 gestartete Invasion der Hauptstadt Tripolis als Söldner beschäftigt hatte. Seit dem Scheitern der Operation ein Jahr später haben sie sich im gesetzlosen Süden Libyens festgesetzt, um illegal nach Gold auf der nigrischen Seite der Grenze zu schürfen und nach der Macht im Tschad zu greifen. Es waren Kämpfer der Rebellengruppe Front pour l’alternance et la concorde au Tchad (FACT), die im April 2021 über die Grenze eindrangen und in Richtung der tschadischen Hauptstadt N’Djamena vorstießen. Idriss Déby wurde bei Kämpfen mit der FACT getötet.
Dann ist da noch Russland, das seinen Einfluss in den Nachbarstaaten ausweitet. Wagner-Söldner, die Ende 2021 in Mali angekommen sind, sind neben der Zentralafrikanischen Republik auch in Libyen und Sudan tätig. In Süd- und Zentrallibyen unterstützen die Söldner Haftars Truppen, in der sudanesischen Hauptstadt Khartum unterhalten sie zudem einen Militärstützpunkt. Aktuell scheint die Wagner-Gruppe zumindest teilweise zur Unterstützung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine aus afrikanischen Staaten abgezogen worden zu sein, die russische Einflussnahme in der Region ist damit aber keineswegs vom Tisch.
Tschad ist seit seiner Unabhängigkeit 1960 ein enger Partner Frankreichs, aber auch hier gibt es – wie auch in anderen Sahelstaaten – eine starke antifranzösische Stimmung in der Bevölkerung, welche Russland nach Einschätzung von Analysten mit Troll-Kampagnen in den sozialen Medien auszunutzen versucht. Für Unruhe sorgte ein im Februar 2022 im Internet aufgetauchter angeblicher Tonmitschnitt eines Telefonats, in dem ein tschadischer Rebellenführer einen Regierungsvertreter in der Zentralafrikanischen Republik darum bittet, die in dem Land stationierten Wagner-Söldner nach Tschad zu schicken, um die Regierung von Mahamat Déby zu stürzen.
Tschad hatte auf Drängen seiner westlichen Partner bei der UNO-Vollversammlung für eine Verurteilung der russischen Ukraine-Invasion gestimmt – das Land fürchtet nach Ansicht von Diplomaten nun Repressalien der von Wagner unterstützen Regierungstruppen in der Zentralafrikanischen Republik. An der fast 1.600 Kilometer langen gemeinsamen Grenze kam es schon mehrfach zu bewaffneten Zwischenfällen. „Die Tschader sagen uns, dass sie für ihr UNO-Votum bezahlen müssen,“ sagt ein westlicher Diplomat.
Wieso ist Tschad so fragil?
Seit der Unabhängigkeit von Frankreich wurde das Land fast ununterbrochen von Rebellionen erschüttert und hat sein wirtschaftliches Potenzial – es existieren große Öl- und Goldvorkommen – nie ausschöpfen können. Im Gegenteil: Es gehört seit Jahrzehnten zu den ärmsten Ländern der Welt und rangiert unter den letzten zehn Staaten im Human Development Index der Vereinten Nationen, der den Lebensstandard und staatliche Leistungen misst.
Hauptproblem ist, dass sich die dutzenden ethnischen Gruppen im Tschad nie auf eine einvernehmliche Machtverteilung einigen konnten – immer wieder versuchten Rebellengruppen aus den abgeschiedenen Wüsten- und Gebirgsregionen im Norden die Hauptstadt N’Djamena einzunehmen. Sie wurden häufig von Gaddafi in Libyen oder dem 2019 gestürzten sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir unterstützt. Nur die letzten 31 Jahre unter Idriss Déby waren relativ stabil. Analysten warnen allerdings davor, den Tschad als stabil zu sehen, da Idriss Déby bei Staatressourcen seinen Zaghawa-Clan bevorzugt habe, während es kaum staatliche Entwicklungsprojekte für weite Teile der Bevölkerung gegeben habe – dadurch habe sich viel Opposition aufgestaut, die sich jetzt entladen könnte.
Der Dauerkonflikt hat dazu geführt, dass der Staat außerhalb der Hauptstadt und den Städten im Süden kaum präsent ist. In den nördlichen Regionen, die fast die Hälfte des Territoriums ausmachen, gibt es nach Angaben von Analysten fast gar keine Präsenz staatlicher Einrichtungen. Die Folge: Die meisten Menschen haben nicht einmal einen Personalausweis, geschweige denn Zugang zu Schulen oder Krankenhäusern, sofern sie nicht nach N’Djamena fahren. Die Goldvorkommen finden sich vor allem im Norden und werden von Rebellen und Banditen ausgebeutet. Der Staat hat von Ölexporten profitiert, allerdings floss das Geld nicht wie mit ausländischen Entwicklungspartnern vereinbart in einen Entwicklungsfonds, sondern wurde von Idriss Débys Regime zum Waffenkauf genutzt.
Wie steht der Westen zur Militärregierung?
Mahamat Déby hat nach dem Tod seines Vaters die Macht als Vorsitzender eines Militärrates übernommen, obwohl nach der Verfassung der Parlamentspräsident die Staatsführung hätte übernehmen sollen. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich und andere westliche Staaten signalisierten früh Unterstützung für Mahamat Déby, weil sie um die Stabilität des Landes im Falle eines Machtvakuums besorgt waren und sind. Diese Befürchtung erklärt auch, warum es sehr wenig Kritik von westlichen Staaten und der Afrikanischen Union an der anhaltenden Verfolgung von Oppositionellen und der Militärregierung im Allgemeinen gibt. Nach einer Studie zweier Menschenrechtsgruppen wurden zwischen Februar 2021 – als Proteste gegen Idriss Débys Pläne für eine sechste Wiederwahl ausbrachen – und Oktober 2021 mindestens 20 Menschen von Sicherheitskräften getötet, 152 verletzt und 849 verhaftet[1].
Idriss Déby war einer der engsten Verbündeten Frankreichs, das sogar 2019 Jets schickte, um mit Luftangriffen den Vormarsch einer aus Libyen kommenden Rebellengruppe auf die Hauptstadt zu stoppen. Tschad ist wichtiger denn je für Frankreichs Armee im Sahel, nachdem es einen überstürzten Abzug aus Mali im Streit mit der dortigen Junta angekündigt hat. Am Flughafen N’Djamena stehen mehrere Jets, die im Anti-Terror-Einsatz genutzt werden. Tschad wird häufig als „Flugzeugträger“ in der französischen Sahel-Militärstrategie bezeichnet.
Dies erklärt, warum Paris von Anfang an auf Mahamat Déby gesetzt hat. Aus französischer Sicht hat es überhaupt keinen Staatsstreich im Tschad gegeben, sondern nur eine von Mahamat Déby geleitete Transition. Dies sorgt für große Verstimmung in Mali, wo die Militärregierung häufig und öffentlich von Frankreich wegen der Verschleppung von Wahlen und Stationierung russischer Söldner kritisiert wird. Ein Diplomat versucht, die Doppelstandards so zu erklären: „Wenn Tschad zusammenbricht, gibt es Chaos in ganz Zentralafrika und im Sahelraum. Wir müssen mit dem Tschad Geduld haben und der Transition eine Chance geben.“
Wie angespannt die Lage ist, lässt sich derzeit in der Hauptstadt beobachten. Es ist ruhig, das Leben geht scheinbar seinen normalen Gang, aber an Hauptstraßen stehen bewaffnete Militärs – nachts kontrollieren Sicherheitskräfte zudem an Checkpoints Autofahrer nach Waffen. Mahnung ist ein leerstehendes Haus gegenüber dem Präsidentenpalast – dort sind Einschusslöcher früherer Kämpfe zu sehen.
Oppositionelle werfen Frankreich vor, zusammen mit den alten Netzwerken des Vaters den Transitionsprozess so zu „managen“, dass am Ende Mahamat oder ein anderer Sohn Débys bei den geplanten Wahlen antreten kann. In der Transitionscharta, die von Frankreich, der Europäischen Union und der Afrikanischen Union unterstützt wird, wird eine Kandidatur Mahamat Débys nicht ausgeschlossen.
Westliche Diplomaten werten den für Mai 2022 geplanten nationalen Dialog mit Opposition, Rebellengruppen und Zivilgesellschaft trotzdem positiv – dort soll über eine neue Verfassung entschieden werden, gefolgt von Wahlen. Dies ist ein deutlich kürzerer Zeitrahmen im Vergleich zu Mali und Burkina Faso, wo Militärregierungen eine Übergangszeit von fünf beziehungsweise drei Jahren gefordert haben. Aber tschadische Kritiker bemängeln, dass ohne politische Reformen ein solcher Dialog nur Maskerade sei.
So sind Armee und Präsidentenpalast etwa mit Gefolgsleuten aus Idriss Débys Zaghawa-Clan besetzt. Die Zaghawa sind nur eine Minderheit unter vielen Ethnien im Tschad, aber seit Débys Machtübernahme 1990 die politisch dominante Gruppe. „Man müsste die Armee und staatliche Institutionen reformieren. Die Armee wird von den Zaghawa kontrolliert – solange dies der Fall ist, wird es immer Konflikte von benachteiligten Gruppen geben,“ sagt ein tschadischer Analyst.
Die Regierung hat Gefangene von einigen Rebellen- und Oppositionsgruppen freigelassen, aber bisher keine umfassende Restrukturierung der Streitkräfte in Aussicht gestellt. Rebellengruppen, die zum großen Teil in Libyen und Sudan ihre Hauptstützpunkte haben, wurden nach Angaben von Analysten und Diplomaten Amnestie, ein Rückkehrrecht, die Rückgabe von Land und Immobilien sowie Geld angeboten, wenn sie die Waffen niederlegen. Dies ist aus Sicht von lokalen Experten aber keine dauerhafte Lösung – alle Regime haben seit der Unabhängigkeit immer wieder versucht, Oppositionelle und Rebellen „einzukaufen“, ohne eine wirkliche Machtteilung anzubieten.
Die Folge: Immer neue Aufstände gegen die Zentralregierung. Mahamat Déby hat bislang keine politischen Reformen vorgenommen, aber mit dem Schritt eines Dialogs der Opposition auch deutlich mehr angeboten als sein Vater. Mehrere Oppositions- und Rebellengruppen haben daher das Angebot angenommen, über die Zukunft des Landes zu verhandeln.
Wie geht es weiter?
Das Golfemirat Katar hat im März eine erste Runde von Verhandlungen mit Rebellengruppen ausgerichtet, als Vorgespräch für den offiziellen Dialog mit zivilen Oppositionsgruppen und der Zivilgesellschaft, der im Mai beginnen soll. Mehr als 40 Gruppen sind nach Doha gereist, darunter auch die Hauptrebellengruppe FACT. Es kam bei der Eröffnung allerdings schnell zum Streit. Die großen Rebellengruppen warfen der Regierung vor, neue Gruppen auf dem Papier geschaffen zu haben, die gar nicht kämpften und nur aus Strohleuten bestünden, um ihre Dominanz zu brechen und das Rebellencamp zu teilen – eine alte Taktik früherer Staatspräsidenten.
FACT bestand zudem darauf, dass Katar eine aktive Rolle als Vermittler übernimmt, um Druck auf die Regierung auszuüben, ergebnisoffene Verhandlungen zu führen und keinen Scheindialog, bei dem automatisch am Ende Mahamat Déby als neuer Staatspräsident feststeht. Die Doha-Gespräche wurden daraufhin unterbrochen. Ein neuer Termin steht noch nicht fest. Dies könnte den Mai-Termin als Auftakt für den nationalen Dialog gefährden. Diplomaten rechnen nicht mehr damit, dass die Wahlen wie geplant bis Jahresende stattfinden werden. Es droht eine längere Transition mit ungewissem Ausgang.
[1] Vgl. Agir Ensemble und Tournons La Page: Tchad, Une répression héréditaire. N’Djamena, März 2022