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Country reports

Valech Bericht 2004

by Dr. Helmut Wittelsbürger

Folter und Menschenrechtsverletzungen in Chile während der Militärdiktatur bestätigt – 28.000 Personen betroffen

Vierzehn Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur in Chile liegt der endgültige Bericht über die Menschenrechtsverletzungen des Militärs vor. Der 700-seitige Bericht enthält 35.000 Zeugenaussagen über politische Haft und Folter während der Militärdiktatur.

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Erarbeitet wurde der Bericht von der „Nationalen Kommission für politische Haft und Folter“, die im August 2003 von Präsident Ricardo Lagos eingesetzt worden war. Die Kommission hatte den Auftrag, eine Liste aller Opfer anzulegen, auf deren Basis die Regierung eine Entschädigung veranlassen kann. Der Vorsitzende der Kommission ist der katholische Bischof Sergio Valech. Von den 35.000 Personen, welche die Kommission in nur einem Jahr anhörte, wurden 28.000 als Opfer anerkannt. Diese erhalten nach Vorschlag der Regierung fortan eine Rente von 195 US Dollar monatlich sowie die Zusicherung der kostenlosen Krankhausbehandlung und des kostenlosen Studiums.

Bei dem Valech-Bericht handelt es sich um den zweiten wichtigen Schritt Chiles zur Aufarbeitung der Vergangenheit des Landes. Bereits im Jahre 1991 hatte der damalige Präsident Patricio Aylwin eine Untersuchungskommission über die während der von Augusto Pinochet angeführten Diktatur begangenen Verbrechen eingesetzt. Der so genannte Rettig-Bericht dokumentierte die Fälle von 2.920 ermordeten oder verschwundenen Chilenen. Der Rettig-Bericht enthält jedoch im Unterschied zum jetzt veröffentlichten Valech-Bericht keine Fälle von Menschenrechtsverletzungen, bei denen die Opfer überlebt haben.

Die meisten Tatsachen im Valech-Bericht sind nicht neu. Allerdings sind das Ausmaß und die Systematik der Folter, die in diesem Bericht deutlich gemacht werden, erschütternd. Demnach wurden 94 Prozent aller politischen Häftlinge gefoltert, und alle Waffengattungen und Sicherheitsorgane waren beteiligt.

Die sehr persönlichen Augenzeugenberichte sind nicht namentlich gekennzeichnet und werden für die nächsten fünfzig Jahre anonym bleiben. Im Anhang des Berichtes befindet sich jedoch eine Liste aller 28.000 anerkannten Pinochet-Opfer mit Namen und Personalausweisnummer. Die 102 gefolterten Kinder werden separat aufgeführt. Aufgrund der Anonymität von Opfern und Tätern hat der Valech-Bericht keinerlei juristische Relevanz für die Verfolgung der Folterer.

Am 10. November hatte der Leiter der Kommission, Bischof Sergio Valech, den dreibändigen Bericht an den chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos übergeben. Nachdem dieser den Bericht eingehend studiert hatte, nahm er am 28. November in einer eindrucksvollen Fernseh- und Radioansprache dazu Stellung. In seiner Rede mit dem Titel „Para nunca más vivirlo, para nunca más negarlo” (Damit es nie wieder geschieht, damit es nie wieder verleugnet wird) machte Lagos vor allem deutlich, dass Chile durch den Bericht mit einer erschütternden Wahrheit konfrontiert wird: Politische Haft und Folter waren unter Pinochet institutionalisiert und wurden von den höchsten Autoritäten des Staates gelenkt. Dies sei inakzeptabel und entgegen der historischen Tradition Chiles. Die von Chile geplanten Entschädigungen sollen der Heilung und nicht dem Wiederaufreißen der Wunden dienen: „Las medidas están orientadas a sanar heridas, no a reabrirlas“.

Die Rentenzahlungen von 195 US Dollar monatlich an die 28.000 Folteropfer machen eine Summe von ungefähr 70 Millionen US Dollar aus, die der chilenische

Staat jährlich aufbringen müsste. Die Summe entspricht einem Anteil von circa 0,1 Prozent pro Jahr am chilenischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) und circa 0,3 Prozent am Staatshaushalt. In den nächsten 30 Jahren würden dadurch Reparationszahlungen von insgesamt 2,1 Milliarden US Dollar auf den chilenischen Staat zukommen. Präsident Ricardo Lagos machte deutlich, dass dies für Chile eine große finanzielle Anstrengung bedeute, die den Kosten für einen erneuten Bau der Autobahn von Santiago nach Puerto Montt gleichkäme.

Mit dem Valech-Bericht rückt nun ein Thema ins Zentrum der nationalen Debatte, das lange Zeit nur Menschenrechtsgruppen beschäftigt hat. Die Veröffentlichung des Berichtes und die Rede des Präsidenten Lagos haben bei den politischen Parteien und den Militärs für unterschiedliche Stellungnahmen gesorgt.

Während die konservativen rechten Parteien Unión Demócrata Independiente (UDI) und Renovación Nacional (RN) die von Präsident Lagos vorgeschlagenen Entschädigungszahlungen unterstützten, wurde seitens der sozialistischen und der kommunistischen Parteien Partido Socialista (PS) und Partido Comunista (PC) Kritik laut. Die Reparationszahlungen seien zu niedrig und zu undifferenziert. „Die Höhe der Zahlungen müsse dem jeweils unterschiedlichen Ausmaß der erlittenen Folter entsprechen“, betonte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Gonzalo Martner. Die christdemokratische Partei Partido Demócrata Cristiano (PDC) hat den Valech-Bericht und die Rede des Präsidenten bisher nicht kommentiert. Der Parteivorsitzende Aldolfo Zaldívar Larraín hat jedoch eine Kommission zur Erarbeitung einer Stellungnahme einberufen. Der christdemokratische Senator Hosain Sabag betonte allerdings, dass die von Lagos offerierten Reparationszahlungen nicht der gewünschten Höhe entsprächen.

Aufgrund der Tatsache, dass Präsident Lagos in seiner Rede die Institutionalisierung politischer Haft und Folter im Pinochet-Regime anerkannt hat, entflammte zwischen und in den Parteien eine heftige Diskussion. Weder die UDI noch die RN wollen die Sichtweise einer kollektiven Schuld akzeptieren. Die beiden konservativen Parteien, plädieren für eine individuelle Schuld der jeweiligen Folterer. Während in der UDI Einigkeit bezüglich dieses Themas herrscht, sorgt es in der RN für starke interne Debatten. Eine öffentliche Entschuldigung für die Beteiligung von Spitzenpolitikern aus ihren Reihen durch die seinerzeitige Übernahme von Regierungsfunktionen während der Militärzeit lehnen beide Parteien bisher ab. Die sozialistische Partei PS und die kommunistische Partei PC fordern hingegen, dass die Parteien sowie der Präsident Ricardo Lagos eine öffentliche Entschuldigung für die am chilenischen Volk begangenen Menschenrechtsverletzungen aussprechen. Lagos hatte in seiner Rede politische Haft und Folter verurteilt und die institutionelle Schuld angeklagt, jedoch keine öffentliche Entschuldigung vorgebracht.

Die chilenischen Militärstreitkräfte haben die Aussagen des Valech-Berichtes ebenfalls akzeptiert. Der Oberbefehlshaber des chilenischen Heeres, Juan Emilio Cheyre, hatte bereits vor der Rede des Präsidenten Lagos eine öffentliche Entschuldigung ausgesprochen und betont, dass solche Ereignisse nie wieder in Namen des Heeres geschehen dürfen. Die chilenische Marine hat erstmals zugegeben, dass auf ihrem Segelschulschiff Esmeralda während der Diktatur gefoltert worden ist. Der Kommandant der Marine, Admiral Miguel Angel Vergara, räumte ein, dass der weltberühmte Viermaster nach dem Putsch für zwölf Tage als geheimes Gefangenenlager sowie als Verhör- und Folterzentrum missbraucht worden war. Dennoch lehnen die Marine und die Carabineros (uniformierte Polizei)

ebenso wie die UDI und die RN die Anerkennung einer institutionellen Schuld ab und sprechen von einer individuellen Schuld der Täter. Bei einigen alten Pinochet-Gefährten löste der Valech-Bericht Empörung aus. So bezeichnete der ehemalige Heereschef Rene Norambuena den Bericht als einseitig und betonte, dass die vielen anständigen Militärs unerwähnt blieben und die gesellschaftlichen Umstände nach dem kommunistischen Chaos nicht berücksichtigt seien.

Der Valech-Bericht kann als ein historisches Dokument bezeichnet werden, das sich in bisherige Versuche zur Versöhnung einreiht und ist ein weiterer Schritt zur Modernisierung und demokratischen Konsolidierung in Chile. Die Gesetzesinitiative des Präsidenten Lagos wird nun dem Parlament vorgelegt und letztlich wird an der Höhe der Reparationszahlungen abzulesen sein, welchen Wert die Volksvertreter der Aussöhnung und der notwendigen Aufarbeitung der jüngsten chilenischen Geschichte beimessen.

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Andreas Michael Klein

Andreas Michael Klein

Director Regional Programme Political Dialogue Asia

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