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Country reports

Venezuela bleibt in einer Phase der brisanten politischen Hochspannung

by Michael Lingenthal
Ranghohe Generale und Admirale ohne militärisches Kommando haben öffentlich in Uniform in Caracas zur Gehorsamsverweigerung gegen Präsident Chávez aufgerufen und seinen Rücktritt gefordert.

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In einigen Großstädten haben Demonstranten ihre Solidarität mit dem Aufruf zum Ungehorsam bekundet. Die Regierung gibt dem Protest keine Erfolgschance, sie hat gleichwohl die Streitkräfte landesweit in Alarmbereitschaft versetzt. Die kampfstärkste Garnison kann nach Aussagen ihres Kommandeurs „jederzeit und überall“ eingesetzt werden. Ob sich aus dem Aufruf zum Ungehorsam ein Putsch und die Ablösung der Regierung Chávez ergibt, wird die Entwicklung der nächsten Stunden und Tage zeigen.

Öffentlicher Aufruf zum Ungehorsam in Uniform

Am Nachmittag haben 14 Generale und Admirale in Uniform zunächst per Pressekonferenz und kurz danach öffentlich zum „Ungehorsam“ gegenüber der Regierung Chávez aufgerufen.

Die Militärs hatten bereits am 11. April dem Oberbefehlshaber und Präsidenten, Hugo Chávez Frias, den Gehorsam verweigert, als er das Militär gegen eine friedliche Massendemonstration einsetzen wollte. Seitdem sind die Militärs ihrer Kommandos enthoben, wenn gleich sie weiter als aktive Offiziere Uniform tragen.

Der Aufruf vom 22. Oktober richtete sich gleichzeitig an die Streitkräfte und an die Zivilgesellschaft. Die Opponenten haben die „Plaza Francia“ im Stadtbezirk Chacao (Zentrum der Opposition gegen Chávez) zur „befreiten Zone des institutionellen Militärs“ erklärt. Sie haben die aktiven Offiziere aufgerufen, sich dem Protest anzuschließen. Erste Offiziere sind dem Aufruf gefolgt und haben sich bei der Generalsgruppe gemeldet. Mehrere tausend Menschen haben sich versammelt, um auszuharren, bis Präsident Chávez zurücktritt. Autokorsos bilden sich spontan seit den Nachmittagsstunden. Als Ausdruck der Solidarität mit dem Aufruf zum Ungehorsam werden die Warnblinkanlagen eingeschaltet und Hupkonzerte und Topfgeklapper schallen durch den Ostteil der Stadt. Proteste und Solidarität beginnen auch in anderen Stadtteilen von Caracas.

Erste Sympathisanten der Regierung finden sich zum Protest gegen die „Putschisten“ und zur Solidarität mit ihrem Präsidenten sowie zur Verteidigung ihrer Verfassung in der Nähe des Präsidentenpalastes ein.

Die Proteste haben die Regionen des Landes erreicht. Aus einigen Großstädten des Landes werden spontane, friedliche Solidaritätsdemonstrationen und Autocorsos zur Unterstützung der 14 Generäle berichtet.

„Clownerie“ – Reaktion der Regierung

Die Regierung hat durch Vizepräsident Rangel den Aufruf als Wiederholung und Fortführung des Putsches vom 11. April d.J. werten lassen und erklärt, dass diese „Clownerie“ keinen Rückhalt, „aber auch gar keinen Rückhalt“ in den Streitkräften hat und zudem das Land sich in „absoluter Ruhe und Normalität“ befindet.

Die Regierung ließ zudem verlauten, dass die Aktionen der von Regierung und Opposition unterschriebenen Grundsatzerklärung widerspricht, der beide Seiten auf Vermittlung der OAS schließlich zugestimmt hätten.

Gleichwohl will die Regierung mit allen wirklich demokratischen Kräften sprechen, um alle Putschkräfte politisch auszuschalten. Vizepräsident Rangel hat das Recht zur Demonstration anerkannt und zugleich die Haltung der protestierenden Offiziere verurteilt. Die Regierung versucht einen Prozess der „Entsolidarisierung“ zu beginnen.

Tatsächlich aber nimmt sie die Lage offensichtlich sehr ernst. Auch wenn „völlige Ruhe und Normalität aus allen Garnisonen des Landes“ festgestellt wird, hat die Regierung doch die Truppen in Alarmbereitschaft gesetzt. Die 4. Division des Heeres ist nach ihrem Kommandeur Raúl Baduel - er war die entscheidende militärische Kraft bei der Rückkehr ins Amt von Präsident Chávez am 13. April - „jederzeit in der Lage, mit ihrer hohen Kampfkraft und Beweglichkeit an jedem Ort des Landes einzugreifen“. Baduel überlässt die Auswertung der Ereignisse der Politik und erwartet weitere Instruktionen.

Die Regierung hat angekündigt, dass im Laufe der Nacht die Beteiligten des Aufrufs zum Ungehorsam festgenommen und der Gerichtsbarkeit überstellt werden. Die ersten Hausdurchsuchungen bei Freunden der beteiligten Offiziere durch die Geheimpolizei haben begonnen. Sofort jedoch beginnen die privaten TV-Kanäle mit Liveübertragungen und Nachbarn mit Aufmerksamkeit und Solidarität.

Ob diese Festnahmen realisiert werden können (und wenn ja zu welchem Preis), bleibt abzuwarten. Anfang Oktober hatten massive und spontane Nachbarschafts- und Bürgerproteste die Festnahme bzw. Hausdurchsuchungen von etlichen Offizieren verhindert, die angeblich bei den Putschvorbereitungen von Exaußenminister París beteiligt gewesen sein sollten.

Verteidigungsminister Prieto hat in einer nur kurzen Ansprache zur Respektierung des Soldateneides, zur Beachtung möglicher Konsequenzen aus dem Aufruf sowie zur nationalen Versöhnung aufgerufen. Er hat um Unterstützung der Regierung geworben, ohne die Schärfe derjenigen Regierungsparlamentarier zu übernehmen, die den Aufruf als „Wiederholung des Putsches vom 11. April“ werteten.

Distanz der Coordinadora Democrática und der OAS

Die Mitglieder der „Coordinadora Democrática“ (Bündnis von Parteien und Zivilgesellschaft), die sich bisher geäußert haben, gehen in ihrer großen Mehrheit auf Distanz zu dem Aufruf.

Die Coordinadora hatte sich gerade auf einen gewaltlosen Weg der Lösung der Staatskrise über Neuwahlen oder Rücktritt des Präsidenten geeinigt. Es besteht die Gefahr, dass die großen zivilen Erfolge der Massenproteste zunichte gemacht werden - immerhin am 10. Oktober eine Demonstration von über 1 Million Menschen gegen den Präsidenten und am 21. Oktober ein landesweiter „Ziviler Ausstand“ mit ca. 80% Beteiligung von Betrieben, Geschäften und Bevölkerung.

Die OAS hat über ihren Generalsekretär, César Gaviria, jeden Bruch der Verfassung zurückgewiesen und die Opposition aufgefordert, nur demokratische, friedliche und konstitutionelle Mittel in ihrer Auseinandersetzung mit der Regierung anzuwenden.

Wem nutzt die neue Entwicklung?

Allem Anschein nicht der Coordinadora. Ihr Konzept war die Ablösung des ungeliebten Präsidenten über Neuwahlen oder ein Volksreferendum. Auf diesen Weg hatte sie sich gerade mühsam geeinigt. Jetzt droht ihre Aufsplitterung. Zudem muss sie sich ab sofort verstärkten Angriffen der Regierung erwehren, die die Coordinadora weiter und verstärkt als Putschisten, Antidemokraten und, wie gestern Vizepräsident Rangel, als „Parasiten“ bezeichnen wird. Das mühsam gewonnene verbesserte Image der Opposition droht wiederum erheblichen Schaden im internationalen Ansehen zu nehmen.

Die Regierung kann und wird „legal“ gegen die aufsässigen Offiziere vorgehen. Ihr hilft dabei die Erklärung der OAS. Diese wiederum kann aus demokratischen Prinzipien, aber auch wegen der Interessenlage ihrer Mitglieder, keinerlei Toleranz gegenüber gewaltsamen und verfassungswidrigen Aktionen zeigen.

Für die innenpolitische Auseinandersetzung und für die internationale Beobachtung wird von einiger Bedeutung sein, ob das Oberste Gericht an seinen Urteilen festhält, dass die Ereignisse des 11. April kein Hochverrat waren, sondern die handelnden Offiziere das Verfassungsrecht zur Gehorsamsverweigerung in Anspruch genommen hätten. Die Regierung hat diesem Urteil immer heftig widersprochen, seine Revision, auch mit gewaltsamer Unterstützung ihrer militanten Anhänger, gefordert und alle Offiziere trotz des Spruchs des Obersten Gerichtshofes als „Putschisten“ qualifiziert.

Venezuela kommt nicht zur Ruhe. Die Lage bleibt explosiv. Ob der Aufruf zum Ungehorsam sich zu einem Putsch, einem Regierungswechsel oder sogar zu einer Stärkung der Regierung Chávez und seiner „Bolivarianischen Revolution“ entwickelt, werden die kommenden Stunden und Tage zeigen.

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Henning Suhr

Henning Suhr bild

Head of the Department International Dialogue Programs

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