Country reports
Die staatliche Autorität gewinnt langsam an Konturen und die Entwaffnung von regionalen Milizen hat begonnen. In der Ausweitung des ISAF-Mandats über Kabul hinaus sehen die Afghanen eine Erfüllung der lange von ihnen vorgebrachten Forderung nach einem stärkeren internationalen Engagement zur Unterstützung des Transformationsprozesses. Dass es wohl die Deutschen sein werden, die als erste ihr Engagement im Rahmen des erweiterten ISAF-Mandats ausdehnen, stärkt das ohnehin hohe Ansehen, das Deutschland in Afghanistan genießt.
Verfassungsgebungsprozess
"Constitution process: a drafting commission under control" – so titelte die Kabul Weekly vom 15. Oktober 2003 und lenkte die Diskussion um den Verfassungsgebungsprozess von den noch nicht bekannt gemachten Inhalten auf das Verfahren. Tatsächlich scheint es so, dass eine ausführliche Diskussion über die Inhalte des von der Kommission erarbeiteten Entwurfs in der Öffentlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt vermieden wird und es der im Dezember tagenden Großen Ratsversammlung (Loya Jirga) vorbehalten bleibt, sich damit zu befassen.
Seit Monaten wartet die afghanische Öffentlichkeit auf die Veröffentlichung des Entwurfs der neuen Verfassung, welche die Grundlage für einen demokratischen Rechtsstaat schaffen soll. Die Arbeit der Kommission, die mit der Ausarbeitung des Entwurfs beauftragt war, nahm allerdings mehr Zeit in Anspruch, als man vorher angenommen hatte, was bei der Komplexität der Materie wohl auch nicht verwundert. Mitglieder der Kommission erklären nun aber bereits seit Wochen, dass die Arbeit abgeschlossen und die Veröffentlichung unmittelbar bevorstehe.
Vor wenigen Tagen bestätigte nun auch Präsident Hamid Karzai, dass der Verfassungsentwurf der Kommission vorliege, jedoch noch nicht für eine Veröffentlichung geeignet sei und zunächst von der Regierung analysiert und überarbeitet werde. Das wirft zunächst einmal die praktische Frage auf, ob denn noch Zeit bleibt, die Zivilgesellschaft an der Diskussion des Entwurfs zu beteiligen, bevor eine Verfassunggebende Versammlung darüber abstimmt. In Frage gestellt wird aber auch, inwieweit denn die amtierende Übergangsregierung den vorliegenden Entwurf durch ihre eigenen Vorstellung ergänzen oder verändern darf.
Tatsächlich verläuft der Prozess bisher im Rahmen des auf dem Petersberg verabschiedeten Zeitplans. Danach soll innerhalb von 18 Monaten nach Bildung der Übergangsregierung – das wäre im Dezember 2003 – eine Loya Jirga einberufen werden, die eine neue Verfassung für Afghanistan beschließt. Es heißt hierzu weiter, dass die Übergangsregierung mit Hilfe der Vereinten Nationen eine Kommission ("Drafting Commission") bilden wird, welche zur Unterstützung der Loya Jirga die Kodifizierung des Verfassungsentwurfs vornimmt.
Und in dieser Bestimmung (Artikel 6 des Petersberger Abkommens) verbergen sich die Antworten auf die beiden oben gestellten Fragen:
- Es ist nicht explizit vorgeschrieben, dass der Entwurf öffentlich diskutiert wird oder gar die Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung finden muss. Die weit verbreitete Erwartung, dass eine Diskussion unter Beteiligung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen stattfindet, bevor über die neue Verfassung abgestimmt wird, war wohl eher eine Wunschvorstellung, wenn auch eine, die durch unverbindliche Äußerungen einzelnen Personen in wichtigen Positionen genährt wurde.
- Es ist die Übergangsregierung, welche die "Drafting Commission" einsetzt – und somit kontrolliert – und gegenüber der Loya Jirga für die Vorlage des Entwurfs verantwortlich ist. Die Kommission ist somit bei der Erfüllung ihrer Aufgabe nicht unabhängig von der Regierung und schon gar nicht dem Willen des Volkes verpflichtet. Der Volkeswille wird erst von der Loya Jirga vertreten, deren Mitglieder ihre Legitimation durch Wahlen erhalten.
Es kann aber, ohne den Inhalt des Verfassungsentwurfs zu kennen, nicht behauptet werden, dass die "Drafting Commission" die öffentliche Meinung ignoriert hätte. Nach Angaben der Kommission wurden 85.000 Fragebogen eingesammelt und 17.000 Interviews geführt; die Kommission erhielt 6.000 Briefe, in denen einzelne Bürger oder Gruppen ihre Vorstellungen darlegten. Verschiedene Initiativen, z. B. zur Gewährleistung der Rechte der Frauen, sammelten Zehntausende von Unterschriften für ihre Eingaben an die Kommission.
Auch dürfte sich die Kommission hinreichend bemüht haben, die Meinung externer Sachverständiger in ihre Beratungen einzuholen. Ein Sammelband (Afghanistan: Towards a New Constitution, Center for International Cooperation, New York University, New York, 2003) mit Beiträgen namhafter Experten zu spezifischen verfassungsrechtlichen Themen enthält Aufsätze zu einem umfassendes Spektrum von Fragen, die von der Kommission an die Expertengruppe herangetragen wurden. Unter den Autoren findet man auch Mitarbeiter von UNAMA, deren Beratungsaufgaben sich nicht nur auf einen kurzen Einsatz beschränkten, sondern die die Kommission während der gesamten Dauer ihrer Arbeit unterstützten.
Solange der Entwurf nicht bekannt gegeben wird, kann aber auch nicht beurteilt werden, inwieweit externer Sachverstand tatsächlich in die Verfassung eingegangen ist. Inoffiziellen Kommentaren zufolge soll die Verfassung im vorliegenden Entwurf in vielen Punkten sehr vage formuliert sein. Das soll soweit gehen, dass grundlegende Menschenrechte in der Verfassung zwar erwähnt, aber sofort wieder relativiert werden, indem die Regelung von Einzelheiten dem Gesetzgeber überlassen wird.
Als Beispiel wurde das Recht auf Leben angeführt, dessen Verankerung in der Verfassung dadurch eingeschränkt wird, dass bei Einführung des islamischen Rechts durchaus die Tötung erlaubt sein kann. Wenn solche Angaben zutreffen, mag es durchaus berechtigt ein, dass die Regierung den Entwurf zunächst noch unter Verschluss hält und überarbeitet, bevor er der Verfassunggebenden Versammlung zugeleitet wird.
Die Vorbereitungen für die Einberufung der Loya Jirga im Dezember sind mittlerweile in vollem Gange (Nach Angaben des "SPIEGEL" (Nr. 41 vom 6.10.2003) ist der vorläufiger Termin für die Loya Jirga der 10. Dezember 2003). Noch vor Ende Oktober soll das Wählerverzeichnis erstellt sein, in den Wochen danach werden bereits die (indirekten) Wahlen für fünf besondere Gruppen erfolgen, deren Vertretung in der Loya Jirga durch Quoten geregelt wird: Frauen, Jugendliche, Nomaden, interne Flüchtlinge und ethnische Minderheiten. Die übrigen Delegierten werden dann direkt gewählt.
Offen ist nach Informationen aus Kreisen von UNAMA noch das Verfahren, nach dem die Loya Jirga über die Verfassung entscheiden soll. Zwei Möglichkeiten werden diskutiert:
- Eine Abstimmung über jeden einzelnen Artikel der Verfassung. Wenn keine allgemeine Zustimmung zustande kommt, wird der betreffende Artikel zur Findung einer einvernehmlichen Formulierung in einen Ausschuss verwiesen. Dies bedeutet einen relativ großen Zeitaufwand, die Loya Jirga würde drei Wochen oder länger dauern. Es bedeutet ebenfalls, dass die einzelnen Artikel anschließend wieder zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt werden müssen, weil sie sich durch Änderungen unter Umständen gegenseitig widersprechen. Hierfür ist eine hochqualifizierte Gruppe von kompetenten Verfassungsrechtlern erforderlich, die eine solche Aufgabe bewältigen können. Die Mitglieder der Loya Jirga werden dazu gewiss nicht in der Lage sein.
- Die 2. Möglichkeit wäre, den Verfassungsentwurf als Ganzes zur Abstimmung zu bringen. Das würde zwar Zeit sparen, wäre aber letztlich nichts als ein 'Abnicken' durch die Delegierten. Es mag zwar Kreise geben, die dieses Verfahren favorisieren, andererseits ist es aber höchst fraglich, ob die durch Wahlen legitimierten Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung ihre Rolle in dieser Weise zu der von Erfüllungsgehilfen der Übergangsregierung reduzieren lassen.
Beginn der Entwaffnung von 100.000 Milizen bringt Stärkung der Autorität der zentralen Regierung
Mit dem Näherrücken des Termins für die Verabschiedung der neuen Verfassung scheint es auch in anderen Bereichen Fortschritte zu geben, die auf die Erreichung der Ziele des Petersberger Abkommens hoffen lassen. Die Entwaffnung der von regionalen "Warlords" und Ex-Kombattanten kontrollierten Milizen hat begonnen und der Widerstand einiger Provinzgouverneure, sich der Zentralregierung unterzuordnen, scheint wenn auch nicht ganz gebrochen zu sein, so doch abgenommen zu haben. Wirtschaftlich gibt es inzwischen nicht nur in Kabul, sondern auch in einigen Provinzen positive Entwicklungen. Wenn sich diese Tendenz fortsetzt, könnte tatsächlich in absehbarer Zeit in Afghanistan ein funktionierender, demokratischer Rechtsstaat entstehen.
In rund der Hälfte aller Provinzen des Landes gibt es bewaffnete Milizen, die sich bisher der Kontrolle durch die zentrale Übergangsregierung entzogen und die Machtbasis für lokale "Warlords" aber auch für einige von der Regierung ernannte Provinzgouverneure bilden, die sich der Regierung in Kabul nicht unterordnen wollen. Diese Milizen sind zum großen Teil weiter bestehende Einheiten der Mujahedin und anderer Gruppen, die bereits gegen die Invasion der damaligen Sowjetunion und später untereinander um die Macht im Lande kämpften und sich dann mit den Truppen der USA und ihren Koalitionspartnern zusammenschlossen, um das Regime der Taliban zu beenden.
Anders als versprengte Reste der Taliban und al-Qaida kämpfen sie heute nicht gegen die Regierung in Kabul, stehen unter Umständen nicht einmal direkt in Opposition zu dieser sondern entziehen sich lediglich deren Autorität und üben die Macht in den von ihnen kontrollierten Gebieten aus. Selbst Kabinettsmitglieder haben ihren Rückhalt in solchen bewaffneten Gruppen, die sich der Kontrolle durch die zentrale Autorität entziehen. Von der Regierung ernannte Gouverneure setzen in ihren Provinzen mit Hilfe der Milizen ihre eigenen Vorstellungen von Recht und Ordnung um.
Bereits im Frühjahr 2003 wurde von Präsident Karzai und den Vereinten Nationen Afghanistans "New Beginnings Programme" bekannt gegeben, das die Entwaffnung dieser Milizen zum Ziel hat und die Autorität der zentralen Regierung stärken soll. Die Umsetzung des Programms sollte im Juli 2003 beginnen, aber auch bei diesem Vorhaben stellten sich die anfänglichen Widerstände als größer heraus, als zunächst angenommen. Inzwischen ist es nun soweit: Seit Anfang Oktober laufen die ersten Pilotprojekte. Formal wurden die etwa 100.000 bewaffneten Milizen den nationalen Streitkräften zugeordnet und unterstehen damit der Zentralregierung. Sukzessive wird diese sie nun über einen Zeitraum von mehreren Jahren im Rahmen eines "DDR" (Disarmament, Demobilization, Rehabilitation) genannten Projektes in ein ziviles Leben zurückführen.
Wichtigster Bestandteil des Programms ist wohl das "R", das die Hilfestellung für die Reintegration in die Gesellschaft und materielle Unterstützung bei der Schaffung einer wirtschaftlichen Basis im Zivilleben beinhaltet. Viele, die heute noch Waffen tragen, tun dies aus dem Grund, dass sie nichts anderes kennen und können und es für sie die einzige Möglichkeit ist, ein Einkommen zu erzielen.
Mit den ersten Pilotprojekten ist das Problem gewiss noch nicht gelöst, aber es gibt Grund für einen verhaltenen Optimismus. Es wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der die anarchischen Zustände in weiten Teilen des Landes beendet, die Autorität der zentralen Regierung stärkt und somit den Aufbau eines funktionierenden Staates unterstützt. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass die Gefahr einer Behinderung – wenn nicht gar Verhinderung – der im kommenden Jahr anstehenden Wahlen durch die bewaffneten Gruppen reduziert wurde. Ganz auszuschließen ist allerdings noch nicht, dass politisch ambitionierte Führer dieser Gruppen bei den Wahlen versuchen werden, ihre Milizen als 'Wahlhelfer' einzusetzen.
Parallel zu dem Einlenken der Gouverneure und Kommandanten, das den Beginn des "DDR"-Projektes möglich machte, setzte die zentrale Regierung auch weitgehend ihre Forderungen durch, dass die Provinzen ihre Einnahmen aus Zöllen und Abgaben nicht länger für sich behalten sondern an die Zentrale abführen. Allmählich baut sich die zentrale Autorität auf, die die Grundlage für einen funktionsfähigen Staat bildet.
Die einsetzende wirtschaftliche Belebung zeigt sich immer noch am deutlichsten in Kabul, das trotz der weitgehenden Zerstörung in den Kriegsjahren sehr schnell wieder zu einem lebhaften Handelsplatz wurde. Aber auch einzelne Provinzen, die von den in anderen Gegenden andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen nicht betroffen sind, entwickeln langsam eine gewisse Prosperität. Wie zum Beispiel Herat im Westen des Landes (nach Angaben der Economist Intelligence Unit, London, "one of the most prosperous areas of Afghanistan" (Country Profile Afghanistan 2002/2003)), das von der Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen zum Iran profitiert. Der Gouverneur der Provinz Herat, Ismail Khan, lehnte bei der Bildung der Übergangsregierung ein Ministeramt in Kabul ab. Statt dessen setzte er sich für die Entwicklung seiner Provinz ein und zählte dabei zu denjenigen, die sich Kabul am wenigsten unterordnen wollten und auf die eigene Autorität und die ihrer Milizen setzten. Aber auch Ismail Khan scheint allmählich wenigstens in einigen Bereichen nachzugeben.
Verstärkung des deutschen Engagements in Afghanistan
Ismail Khan wird, wenn in Deutschland eine endgültige Entscheidung zu den bestehenden Plänen gefallen ist, schon bald der Eröffnung einer ersten Außenstelle der Deutschen Botschaft in seiner Provinzhauptstadt Herat beiwohnen können. Zwar werden in Herat keine deutschen ISAF-Truppen stationiert, wie dies für die Provinz Kunduz geplant ist, aber die Bundesrepublik Deutschland ist innerhalb der internationalen Gemeinschaft diejenige Nation, die für den Aufbau der Polizei in Afghanistan zuständig ist. Und Polizeiausbildung gehört zu dem Beitrag, den Deutschland auch in Herat als Beitrag zur Umsetzung des Petersberger Abkommens und zur Erreichung der vom Weltsicherheitsrat verabschiedeten Ziele leisten will.
Der Aufbau der Polizei in der Provinz Herat ist ein deutliches Zeichen, dass Deutschland die Ausweitung der Autorität der Zentralregierung unterstützt. Zwar geschieht dies nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Gouverneurs, aber es ist doch zu erwarten, dass ein zeitweise recht kritischer Dialog diesen Prozess begleiten wird. Daneben wird die Eröffnung der Außenstelle auch zu einer verstärkten entwicklungspolitischen Präsenz in Herat führen, die nicht nur die Entwicklung der Provinz unterstützt sondern auch eine Stärkung der Einrichtungen der Zentralregierung vor Ort bedeutet.
Durch den geplanten Einsatz eines 250 bis 450 Mann starken ISAF-Kontingents in Kunduz und das zusätzliche Engagement in Herat wird sich die deutsche Präsenz in Afghanistan noch vor Jahresende merklich erhöhen. Die Entsendung eines "Sonderbeauftragten für die Koordinierung von Maßnahmen im Bereich des Aufbaus der Polizei und angrenzender Sicherheitsfragen" durch das Auswärtige Amt (zunächst bis Juni 2004) zeigt auch den afghanischen Partnern, dass die Bundesrepublik Deutschland die ihr zufallenden Aufgaben als "Lead Nation" in diesem Bereich verantwortungsvoll wahrnimmt.