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Country reports

Viele Überraschungen und Überraschung für viele

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bolivien

Entgegen der wichtigsten Meinungsumfragen kam es bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bolivien am 30. Juni 2002 zu einem "Kopf-an-Kopf-Rennen" zwischen dem Rechtspopulisten Manfred Reyes Villa von der Partei Nueva Fuerza Republicana (NFR) mit rund 20,96 Prozent der Stimmen und dem Kandidaten der Mitte-Partei Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), Gonzalo Sánchez de Lozada (ca. 22,46%).

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[Die im gesamten Text genannten Zahlen bezüglich des Wahlergebnisses basieren auf der Auszählung der Abstimmungsergebnisse von 99,2 Prozent der Wahllokale, Stand vom 5. Juli 2002, 19.00 Uhr, aktualisierter Stand der Auszählung s. Website der Corte Nacional Electoral, www.cne.org.bo.

Ergebnis mit Überraschungen

Die komplette Auszählung der Stimmen wird mit Spannung erwartet, da erst dann der Sieger der Wahl endgültig feststehen wird. Da keiner der Präsidentschaftskandidaten die notwendige absolute Mehrheit im ersten Wahlgang erreichte, steht für den 6. August voraussichtlich eine Stichwahl im neuen Kongress zwischen Gonzalo Sánchez de Lozada, Präsident des Landes in den Jahren 1993 - 1997, und Manfred Reyes Villa, ehemaliger Militär und viermal Bürgermeister von Cochabamba, an. Der zukünftige Präsident muss dann in einer gemeinsamen Sitzung von Abgeordnetenhaus und Senat die absolute Mehrheit erringen.

Entscheidend für die Abstimmung wird die Bildung von Koalitionen sein. Unterschiedlichste Rechenbeispiele unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Zusammensetzung des Kongresses werden nun in den Medien vorgeführt. Auf Grund des kombinierten Verhältnis- und Mehrheitswahlrechts für Abgeordnete und Senatoren wird der MNR über deutlich mehr Parlamentarier verfügen als die NFR, hat daher die besseren Chancen für die Koalitionsbildung.

Am wahrscheinlichsten erscheint derzeit ein Bündnis zwischen MNR, MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und ADN (Acción Democrática Nacionalista) oder UCS (Unión Cívica Solidaridad). Auch ein Bündnis unter Beteiligung von MNR und NFR mit einem weiteren Partner kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Gonzalo Sánchez de Lozada der Gewinner der Wahl ist.

Für Überraschung sorgte besonders die Partei von Evo Morales, dem Anführer der Kokapflanzer im Chapare, Movimiento al Socialismo (MAS), die mit rund 20,89% das drittbeste Ergebnis erzielte und damit dicht hinter den beiden Erstplazierten liegt. Neben der ländlichen, indigenen Bevölkerung konnte MAS vor allem Wähler des linken Spektrums erreichen, die auf der Suche nach einer neuen "Wahlheimat" waren.

Direkt nach den Wahlen verkündete Evo Morales, dass seine Partei MAS auf jeden Fall in die Opposition gehen werde und für kein Regierungsbündnis zur Verfügung stehe. Die Linkspartei Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) mit ihrem Kandidaten Jaime Paz Zamora, ehemaliger Staatspräsident (1989 - 1993), erlangte voraussichtlich 16,31% der Stimmen.

Deutliche Verlierer waren die Acción Democrática Nacionalista (ADN), die vom im Mai des Jahres verstorbenen Ex-Diktator Banzer gegründete Partei, die in der derzeitigen Regierungskoalition den Staatspräsidenten stellt, mit 3,4 Prozent und die Unión Cívica Solidaridad (UCS), die vom inzwischen verstorbenen Brauereibesitzer Max Fernández ins Leben gerufen worden war, mit ungefähr 5,51%. Den dramatischsten Verlust erlitt CONDEPA (Conciencia de Patria) mit einem Ergebnis von unter 1%.

Ein beachtenswertes Ergebnis erzielte Movimiento Indígena Pachakuti (MIP), die im November 2000 vom radikalen Anführer der Kleinbauern, Felipe "Mallku" Quispe, gegründete Partei, die besonders unter den Aymara im Hochland ihre Anhänger findet. Der "Mallku" erhielt 6,11% der Stimmen. Libertad y Justicia (LyJ), die noch neue Protestpartei des ehemaligen Richters Alberto Costa Obregón, deren Hauptforderung die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung war und die anfangs einen großen Wählerzuspruch erwarten ließ, konnte nur 2,72% der Wählerstimmen erzielen. Auch René Blattmann, ehemaliger Justizminister in der Regierung Sánchez de Lozada, der ebenfalls mit seiner Partei Movimiento Ciudadano para el Cambio (MCC) einen radikalen Wandel versprach, fand nur wenig Wähler (0,63%).

In den Wahlen vom 30. Juni wurde über den Präsidenten, Vizepräsidenten, Senatoren (27) und Abgeordnete (130) abgestimmt. In der Verfassungsreform von 1994/95 waren nach deutschem Vorbild Listen- und Wahlkreisabgeordnete eingeführt worden: im oberen Streifen des Wahlzettels (hier deutlich sichtbar abgebildet) wird für den Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten, die Senatoren und die Listenabgeordneten gestimmt, im unteren Streifen (hier schwach dargestellt) für den Wahlkreisabgeordneten:

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Elf Parteien bzw. -allianzen hatten sich zur Wahl gestellt. Die prozentuale Verteilung der im oberen Teil des Wahlzettels abgegebenen Stimmen sieht im Überblick folgendermaßen aus (vorläufiges Ergebnis, Angaben in Prozent):

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Kürzel der Parteien:

  • NFR Nueva Fuerza Republicana
  • MNR Movimiento Nacionalista Revolucionario
  • MAS Movimiento al Socialismo
  • MIR Movimiento de la Izquierda Revolucionaria
  • UCS Unión Cívica Solidaridad
  • MIP Movimiento Indígena Pachakuti
  • ADN Acción Democrática Nacionalista
  • LyJ Libertad y Justicia
  • PS Partido Socialista
  • COND. Conciencia de Patria

Wahlverlauf glücklicherweise ohne Überraschungen

Die Zahl der eingeschriebenen Wähler war so hoch wie nie zuvor, eine allgemeine Überraschung, da keine besondere Kampagne zur Wählereinschreibung oder Einwohnerregistrierung stattgefunden hatte. Dies gab vor den Wahlen Anlass zu Besorgnis über mögliche Doppeleinschreibungen in den Wählerlisten, die zu Fälschungen führen könnten. Die Wahlen verliefen ruhig und ohne nennenswerte Zwischenfälle. Die Beobachter der Organisation Amerikanischer Staaten und der Andengemeinschaft bestätigten einen Wahlverlauf ohne besondere Vorkommnisse.

Noch kurz vor den Wahlen waren Boykottaktionen befürchtet worden, da eine Reihe von indigenen Bevölkerungsgruppen sich auf einem Protestmarsch nach La Paz befand und eine Verfassungsgebende Versammlung forderte und Minenarbeiter aus der Nähe von Oruro u.a. die Wieder-Verstaatlichung eines vor kurzem privatisierten Unternehmens verlangten und bei Nichterfüllung ihrer Forderungen mit dem Boykott der Wahlen im Department Oruro drohten. Da die Regierung den Forderungen teilweise nachgab, kam es nicht zu den befürchteten Aktionen, und die Wahlen konnten wie vorgesehen durchgeführt werden.

Wahlkampf mit vielen Überraschungen

Der Wahlkampf beinhaltete verschiedene Überraschungen. Noch rund ein halbes Jahr vor den Wahlen wurde allgemein davon ausgegangen, dass sich die Präsidentschaft zwischen den Kandidaten der beiden Parteien MNR, Gonzalo Sánchez de Lozada, und MIR, Jaime Paz Zamora, entscheiden würde. Dieses Panorama veränderte sich aber im Laufe des Wahlkampfes dramatisch.

Die Parteien hatten bis zum 21. April Zeit, ihre Listen mit Kandidaten für die Ämter von Präsident, Vizepräsident, Senatoren und Abgeordneten beim Nationalen Wahlgerichtshof einzureichen. Entscheidende Ereignisse, die das Wahlergebnis später beeinflussen sollten, geschahen bereits Monate vor der heißen Wahlkampfphase.

Im Januar 2002 wurde der Abgeordnete Evo Morales als erster einer kleinen Gruppe von Mandatsträgern aus dem Kongress ausgeschlossen; seine parlamentarische Immunität wurde ihm wegen der von ihm angezettelten Blockadeaktionen in den Jahren 2000 und 2001 und wegen "unethischen Verhaltens" entzogen. Der Widerspruch seiner Anhänger gegen diese Maßnahme äußerte sich in massiven Protesten und Blockaden, die sich vom Chapare bis auf das Altiplano und in die Yungas ausdehnten.

Die Blockaden wurden Ende Februar mit der Unterzeichung einer Vereinbarung beendet, mit der ein Dekret zum Verbot des Handels mit Kokablättern aus dem Chapare wieder aufgehoben wurde. Ergebnis des Mandatsentzugs von Evo Morales war letztlich ein stärkerer Zulauf von Anhängern, die in ihm die Symbolfigur für die Interessen der Kokapflanzer und gegen die Politik der Ausrottung der Koka und gegen den nach ihrer Auffassung zu starken US-amerikanischen Einfluss in Bolivien sehen.

Der MNR verkündete im Februar als erste Partei offiziell die Kandidaten für das Präsidenten- und Vizepräsidentenamt: Gonzalo Sánchez de Lozada und Carlos D. Mesa, Journalist und Unternehmer, Eigentümer der mehrheitlichen Anteile des Fernsehkanals P.A.T., der als Parteiunabhängiger die Kandidatur akzeptierte. Carlos Mesa, der allgemein einen guten Ruf besitzt und als glaubwürdig gilt, bekam als besondere Aufgabe im Falle des Wahlsiegs den Kampf gegen die Korruption, eines der größten Probleme des Landes, übertragen. Die Aufstellung von Carlos Mesa bescherte dem MNR zunächst einen Aufschwung in der öffentlichen Meinung.

Als Überraschung präsentierte sich im Februar der ehemalige Richter Costa Obregón mit einem Umfrageergebnis von rund 21% der Stimmen. Ihm war es gelungen, die weit verbreitete Unzufriedenheit der Bürger mit den politischen Parteien zu nutzen und mit dem Ruf nach einer Verfassungsgebenden Versammlung Zustimmung zu finden. Er äußerte noch im Februar, dass es sein Ziel sei, bei den Wahlen die absolute Mehrheit zu gewinnen.

Anfang März wendete sich jedoch das Blatt: Costa Obregón fiel in Umfragen auf unter 10%; als neuer Aufsteiger erschien Manfred Reyes Villa, der sich als Alternative zu den traditionellen Politikern präsentierte, den Wandel versprach und sich unter die ersten in der Wählergunst schob. Interessant ist an dieser Stelle, dass die Partei NFR zunächst an der derzeitigen Regierungskoalition (ADN, MIR, UCS, anfangs mit CONDEPA und NFR) beteiligt war, sich aber im Zusammenhang mit dem "Wasserkrieg" in Cochabamba vom Februar 2000 wegen ihrer undurchsichtigen Haltung aus der Koalition zurückziehen musste. Als Folge zerbrach das Abkommen zwischen Präsident Banzer und Reyes Villa, das die Unterstützung des NFR-Vorsitzenden bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zum Inhalt hatte.

ADN wählte nach langer Ungewissheit den ehemaligen Bürgermeister von La Paz, Ronald McLean, zum Präsidentschaftskandidaten, und die Kandidatur von Evo Morales zeichnete sich ab. Jaime Paz schloss sich für viele unerwartet der Forderung nach einer Verfassungsgebenden Versammlung an und versuchte dadurch Stimmen politikverdrossener Wähler zu gewinnen, die zu den sogenannten antisystemischen Parteien abzuwandern drohten. Seine Partei MIR zeigte sich innerlich völlig zerstritten und konnte sich über die Listenaufstellung für Senatoren und Abgeordnete nicht einigen. Die Probleme gingen so weit, dass die Listen nur deshalb beim Wahlgerichtshof eingereicht werden konnten, da wegen eines Stromausfalls beim Gerichtshof in letzter Minute die Frist um eine Stunde verlängert wurde.

Im April setzte sich der Anstieg der NFR fort. Der MNR begann einen Wahlkampf, in dem das positive Image des ""Für den Wechsel"-Kandidaten Manfred Reyes Villa, wegen seines Aussehens "el Bombón"genannt, demontiert werden sollte. Ihm wurden Bereicherung während seiner Tätigkeit als Bürgermeister und Verbindungen zur Diktatur von García Meza vorgeworfen. Zunächst bewirkte die Kampagne allerdings genau das Gegenteil des Erwünschten: bei vielen Bürgern erweckte die "Schmutzkampagne"einen negativen Effekt, die Prozentzahlen von Reyes Villa stiegen weiter.

Im Mai starb der an Krebs erkrankte Ex-Präsident Banzer, der im August 2001 sein Amt an Jorge Quiroga übergeben hatte. Die letzte Sitzung des Kongresses fand statt, ohne dass die intensiv vorbereitete Verfassungsreform durchgeführt wurde. Indigene Gruppen kamen zu Fuß nach La Paz, um eine Verfassungsgebende Versammlung einzufordern. Ihnen wurde versprochen, nach den Wahlen eine außerordentliche Sitzung des Parlaments einzuberufen und über die Verfassungsreform abzustimmen, eventuell mit Einführung der Möglichkeit einer Verfassungsgebenden Versammlung.

Wenige Wochen vor der Wahl zeichnete sich ein Ergebnis für MAS ab, das aufhorchen lassen würde. Ende Juni kündigte der US-amerikanische Botschafter bei einer öffentlichen Veranstaltung im Chapare, dem Haupteinflussgebiet von Evo Morales, die Einstellung der Zusammenarbeit mit Bolivien und die Schließung US-amerikanischer Märkte für bolivianische Textilien und bolivianisches Gas für den Fall an, dass Kandidaten gewählt würden, die aus dem Andenstaat wieder ein wichtiges Exportland für Kokain machen wollten. Die Anspielung auf Evo Morales war deutlich genug. Letztlich hat dies wohl dazu geführt, dass Morales einen deutlichen Stimmenzuwachs durch Protestwähler erhielt und als drittstärkste Kraft aus den Wahlen hervorging.

In den letzten Umfragen vor dem Wahltag zeichnete sich eine neue Tendenz ab: die führende NFR verlor und MNR gewann Stimmen. Anscheinend zeigte die Kampagne des MNR eine verspätete Wirkung, und ein Teil der Wähler war sich nicht mehr sicher, ob Manfred Reyes Villa wirklich einen positiven Wechsel bedeuten würde. Diese Tendenz setzte sich in den Wahlen fort und führte, zusammen mit dem Aufwind für Evo Morales, zum - für viele überraschenden - Ergebnis.

Perspektiven für die neue Regierung

Die neue Regierung wird eine Vielzahl von wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu lösen haben. Eine starke Regierungskoalition und effiziente Maßnahmen sind dringend notwendig, denn die Erwartungen der Bevölkerung sind groß. Zum ersten Mal werden im Parlament Parteien mit einem bedeutenden Prozentsatz vertreten sein, die ländlich, kleinbäuerlich und indigen geprägt sind, MAS und MIP.

Da gerade die Bewegungen der Kleinbauern und der Kokapflanzer in den letzten Jahren durch Protestaktionen auf sich aufmerksam gemacht haben, ist mit einer starken und unerbittlichen Opposition zu rechnen. Die Opposition wird sich dabei voraussichtlich nicht nur auf das parlamentarische Geschehen beschränken, sondern kann sich auch auf Proteste außerhalb des Parlaments ausdehnen. Bleibt zu hoffen, dass Bolivien von bösen Überraschungen verschont bleibt.

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Susanne Käss

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