Kaum ein französisches Überseegebiet hat in vergangener Zeit so viel Aufmerksamkeit durch die französische Regierung bekommen. Bereits Anfang Dezember 2017 besuchte Premierminister Edouard Philippe Neukaledonien. Im Mai 2018 hat auch Staatspräsident Emmanuel Macron die 20-stündige Flugreise auf sich genommen, um der Überseeregion einen offiziellen Besuch abzustatten. Seine Mission:
auf die politische Zukunft des autonomen Neukaledonien einwirken - und seine Unabhängigkeit verhindern.
Rund 175.000 wahlberechtigte Neukaledonier werden am 4. November dazu aufgerufen, über die künftige Form der Souveränität ihrer Heimatinsel abzustimmen. Dabei verfügt die Inselgruppe im Südpazifik, die sich östlich von Australien befindet, schon heute – übergangsweise – als einziges Übersee-Département gemäß den Artikeln 76 und 77 der französischen Verfassung über den Sonderstatus einer „Collectivité sui generis“ und ist daher kein französisches Überseegebiet im eigentlichen Sinne. Mit Französisch-Polynesien und Wallis und Fortuna teilt sich Neukaledonien seit 1945 sogar eine eigene Währung: den CFP-Franc. Das Mutterland Frankreich wacht nur noch über einen Teil der Hoheitsrechte Neukaledoniens (Finanzen, Verteidigung, Innere Sicherheit und Justiz), in den übrigen Bereichen genießt die neukaledonischen Regierung weitgehende Autonomie.
Der Volksentscheid ist keinesfalls die Folge eines plötzlichen Unabhängigkeitsdrangs, sondern vielmehr der friedliche Abschluss einer langjährigen und teilweise blutigen Entkolonialisierungsphase der unter dem Second Empire einverleibten Insel. Napoleon III machte aus der Insel eine Sträflingskolonie für Frankreich, die bis in die 1920er Jahre bestand. Die melanesischen Ureinwohner, die sich selbst Kanaken nennen, wurden zu diesem Zweck ungefragt in Reservate umgesiedelt. Ihre Population sank zwischen 1853 und 1922 infolge von Epidemien und Gewaltkonflikten von 55.000 auf 27.000.
Seit Jahrzehnten ist das Verhältnis zwischen den Ureinwohnern und den „Zugezogenen“ angespannt. Die Kanaken, die sich gegenüber ihren „weißen“ Inselmitbürgern oftmals benachteiligt und ihrer Kultur beraubt fühlen, bilden mit 44 Prozent der Bevölkerung Neukaledoniens eine Minderheit. Die größte Bevölkerungsgruppe stellen die „Zugezogenen“. Das sind Nachfahren der ersten französischen „Siedler“, die Caldoches, zusammen mit den Métropolitains, den Neueinwanderern aus Frankreich.
Einen Volksentscheid gab es nach jahrelangen Konflikten bereits 1987, der jedoch von den meisten Ureinwohnern boykottiert wurde. Während der französischen Präsidentschaftswahlen 1988 eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen Europäern und Einheimischen. Damals kamen bei einer Geiselnahme auf der Insel Ouvéa 25 Menschen ums Leben. Das gescheiterte Referendum, das unter dem damaligen sozialistischen Premierminister Michel Rocard durchgeführt wurde, mündete 1988 notgedrungen in die Matignon-Verträge, die Neukaledonien nicht nur in drei teilautonome Provinzen aufteilten, sondern auch die Durchführung eines weiteren Referendums über die Ablösung von Frankreich nach einer Frist von zehn Jahren festschrieben. Immer wieder kam es nach Abschluss der Matignon-Verträge zu Unruhen, was seither jeden Staatspräsidenten von François Mitterand (1995) bis François Hollande (2014) zu einem Besuch auf der Insel veranlasste.
Doch auch 1998 kam es nicht zu einem Referendum. Stattdessen wurde diese Frist durch den damals regierenden Premierminister Lionel Jospin, ebenfalls Sozialist, mit dem Abkommen von Nouméa, benannt nach der neukaledonischen Hauptstadt, um weitere zwanzig Jahre verlängert. Die Parteien verpflichteten sich darin, die Frage nach der Zugehörigkeit zu Frankreich spätestens bis Ende 2018 demokratisch zu entscheiden.
Die Bruchlinie zwischen Anhängern und Gegnern der Selbstbestimmung verlief damals wie heute entlang ethnischer Grenzen. Die Kanaken befürworten die Unabhängigkeit mehrheitlich, während die Caldoches und die Métropolitains überwiegend für den Verbleib des Archipels in Frankreich sind. Auch behaupten die Kanaken, als Ureinwohner die alleinige Legitimation zur Entscheidung über die Unabhängigkeit zu haben. Die Gegensätze zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und -gegnern äußern sich auch geografisch, was zuletzt 2014 bei den Regionalwahlen in den drei Provinzregierungen deutlich wurde: Während die kanakische Mehrheit der Opposition in der Nordprovinz nur drei Sitze gelassen hat, haben sich die „Loyalisten“ in der Südprovinz und der Hauptstadt Nouméa mit 33 von 40 Sitzen durchgesetzt. Die Provinzen werden von je einem Präsidenten und einer Versammlung geleitet, die zusammen einen Kongress (Congrès de la Nouvelle-Calédonie) bilden.
In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 hat die Kombination aus nationalistischen Tendenzen der Caldoches und einer fast gänzlich fehlenden Wahlbeteiligung der Kanaken der rechtspopulistischen Kandidatin Marine Le Pen knapp 30 Prozent eingebracht. In der zweiten Runde lag Le Pen nur knapp hinter Wahlsieger Macron.
Unabhängigkeitsgegner sind gegenwärtig in drei Parteien organisiert: die Mitte-Rechts-Partei, "Kaledonien Gemeinsam", die lokale Variante der konservativen „Républicains“ namens "Zusammenschluss – Union für eine Volksbewegung" (RUMP) und die „Kaledonische Volksbewegung" (MPC). Die Befürworter der Unabhängigkeit verteilen sich vor allem auf zwei Parteien innerhalb der "Kanakischen sozialistischen Front der nationalen Befreiung" (FLNKS): die schon seit 1953 bestehende "Kaledonische Union" und die 1976 gegründete marxistische "Partei der Kanakischen Befreiung". Die dritte Partei der Unabhängigkeitsbefürworter, die 2007 gegründete Arbeiterpartei, spielt nur eine marginale Rolle.
Anfang November 2017 wurden in Paris bei einem Treffen zwischen Emmanuel Macron und dem Repräsentanten aus Neukaledonien die Modalitäten der Unabhängigkeitsabstimmung festgelegt. Dabei ging es vor allem darum, die bis dahin umstrittene Frage zu klären, wer bei der Befragung stimmberechtigt sei. Die Kanaken konnten die Forderung durchsetzen, dass kürzlich aus dem europäischen Frankreich Zugereiste von der Abstimmung ausgeschlossen werden: Wer nicht in Neukaledonien geboren wurde, muss entweder vor 1994 angekommen sein oder mindestens seit 20 Jahren seinen Hauptwohnsitz auf der Insel haben.
Laut Umfragen wird Neukaledonien auch nach dem Plebiszit französisches Staatsgebiet bleiben: Die Kanaken wählen zwar zu 80 Prozent die Unabhängigkeitsbefürworter, repräsentieren jedoch nur 40 Prozent der Gesamtbevölkerung Neukaledoniens. Laut einer aktuellen Befragung überwiegen die Gegner einer Loslösung von Frankreich mit rund 60 Prozent der Stimmen. Bei einer ähnlichen Befragung im Jahr 2014 war die geografische Verteilung zwischen den zwei Lagern eindeutig: im Süden um die Hauptstadt Nouméa, wo die „europäischen“ Caldoches leben, haben sich 82 Prozent gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen, während im Norden, dem Territorium der Kanaken, 79 Prozent für die Ablösung von Frankreich sind.
In Paris setzt man darauf, dass die Mehrheit der stimmberechtigten Neukaledonier aus ideologischen oder materialistischen Gründen für einen Verbleib beim Mutterland Frankreich stimmen wird. Die französische Regierung hofft, das Entstehen eines neuen Staates, der dem Vorschlag der Ureinwohner der Insel nach „Kanaky“ heißen könnte, zu verhindern. Kein Staat verliert gerne Gebietsteile. Doch Paris hat vor allem strategische Interessen im Südpazifik: Neukaledonien verfügt über 25 Prozent der globalen Nickelvorkommen und macht Frankreich damit zu einem Lieferanten dieses wertvollen Metalls. Zudem exportiert Frankreich im Jahr Waren im Wert von 560 Millionen Euro Richtung Pazifik. Das Archipel fungiert als französischer Stützpunkt nach ganz Ozeanien. In einer Zeit, in der insbesondere China den Pazifik als eigene Interessensphäre entdeckt, ist eine Präsenz Frankreichs in der Region ein stabilisierender Faktor. Eine Unabhängigkeit Neukaledoniens könnte außerdem Abspaltungstendenzen in anderen Überseegebieten, insbesondere im Südpazifik, verstärken. Neukaledonien wäre der erste Gebietsverlust für Frankreich seit der Unabhängigkeit Dschibutis 1977 und Vanuatus 1980.
Die Kanaken haben andererseits durchaus plausible Gründe, für die Unabhängigkeit Neukaledoniens zu kämpfen: Anders als die Mehrheit der französischen Überseedepartements hat Neukaledonien eigenes industrielles und wirtschaftliches Potenzial. Mit einem Wirtschaftswachstum von drei bis vier Prozent in den vergangenen 20 Jahren hebt sich das Land selbst vom Mutterland deutlich ab. Auch herrscht trotz des ökonomischen Gefälles zwischen der Süd- und der Nordprovinz durchschnittlich ein eher gehobener Lebensstandard: Die öffentliche Infrastruktur ist ähnlich gut wie in Europa, das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner liegt etwa auf dem Niveau von Dänemark oder Großbritannien. Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit, die gerade im Mutterland ein schwer lösbares Problem darstellt, kennt man in der Hauptstadt Nouméa kaum: Die blühende Wirtschaft lässt hier Jobs im Baugewerbe, Handel, Sozialdienstleistungen, Medien und Hochschulen entstehen. Der Quadratmeterpreis für Eigentumswohnungen ist fast so hoch wie in Paris.
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