Wahlen mit nicht allen politischen Kräften
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung, dem venezolanischen Parlament, können die Bürger über die Besetzung von 277 Abgeordnetenmandaten abstimmen. 107 Parteien und über 13.000 Kandidaten stehen zur Wahl. Verschiedene Beobachter rechnen mit einer Nicht-Beteiligung in Höhe von rund 70 %. Gründe werden vor allem im fehlenden Vertrauen in den Wahlprozess und in Sorgen vor gesundheitlicher Gefährdung durch den Corona-Virus gesehen. Rund 90 % der Bevölkerung sind mit der Lage im Land unzufrieden. Rund 80 % der Bevölkerung leben in extremer Armut, 5 Millionen Venezolaner haben in den letzten Jahren ihr Land verlassen. Allerdings ist die Unterstützung für Präsident Nicolás Maduro und seine Partei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) nicht zu unterschätzen, denn rund 6 Millionen Haushalte sind auf Lebensmittelhilfe und weitere Unterstützungsleistungen der Regierung angewiesen. 15 – 20 % der Venezolaner unterstützen die Maduro-Regierung, 30 – 35 % sind auf Seiten der Opposition, 50 % bezeichnen sich als unabhängig.
Obwohl Interimspräsident Guaidó im August 2020 angekündigt hatte, dass 27 Oppositionsparteien nicht an den Wahlen teilnehmen würden, erscheinen viele dieser Parteien mit ihren bekannten Logos auf dem elektronischen Stimmzettel. Hier setzt ein Kritikpunkt im Hinblick auf die Wahlen an: Seit 2012 griff der Oberste Gerichtshof in die Führung mehrerer Parteien ein, indem die bestehenden Parteivorstände durch von der Regierung akzeptierte Ad-hoc-Vorstände ersetzt wurden. In Venezuela werden diese neu besetzten Parteien als „intervenierte Parteien“ bezeichnet. Im laufenden Jahr und mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Teilnahme an den Parlamentswahlen wurde in die Oppositionsparteien Acción Democrática (AD, sozialdemokratisch), Primero Justicia (PJ, Mitte-konservativ) und Voluntad Popular (VP, Mitte-progressiv, prominenter Vertreter ist Juan Guaidó) und – für viele Beobachter unerwartet – auch die regierungsnahen Parteien Patria Para Todos (PPT) und Tupamaro interveniert.
Im Fall von PJ wurde der Vorsitz später wieder zurückgegeben und die „echte“ PJ ebenso wie die „echte“ AD und VP treten nicht bei den Wahlen an, aber die Parteien sind in ihren intervenierten Varianten auf den Stimmzetteln zu finden. Nicht allen Wählern wird dies klar sein, so dass die Verdopplung der Parteien möglicherweise verschwimmt. Häufig zählt der Kandidat, jenseits der Partei.
Gerade Kandidaten mit einer starken regionalen Bindung und entsprechendem Einfluss, wie dies vor allem bei der Traditionspartei AD der Fall ist, lassen sich eine Kandidatur nicht nehmen. Andere Kandidaten sind mit der Nicht-Teilnahme an den Wahlen nicht einverstanden, sehen in einer Kandidatur die einzige Möglichkeit, Flagge zu zeigen und eine Alternative zu bieten, oder sehen aufgrund der geänderten Wahlbedingungen plötzlich die einmalige Chance, ein Abgeordnetenmandat zu erringen. Die inzwischen geschrumpfte christdemokratische Traditionspartei COPEI, deren intervenierte Variante an den Wahlen teilnimmt, hat sich den Spruch „Kämpfen heißt wählen“ („La pelea es votando“) an die Wand ihres Parteisitzes gesprüht und trifft damit einen umstrittenen Punkt in der Beurteilung der Frage, ob man an den Wahlen teilnehmen soll oder nicht.
Kritische Beobachter sehen neben der Kooptierung der Oppositionsparteien weitere Punkte, die an freien und fairen Wahlen zweifeln lassen: die verfassungswidrige Änderung der Wahlgesetzgebung durch den Nationalen Wahlrat, der die Zahl der Abgeordneten von 167 auf 277 Sitze erhöhte und die Aufteilung von Direkt- und Listenmandaten änderte, die fehlende Aktualisierung des Wahlregisters, Zweifel am elektronischen Wahlsystem, befeuert u.a. durch einen Brand im Lager der Wahlcomputer, der die Anschaffung neuer Hardware nötig machte, und Vorbehalte in Bezug auf die Wahrung des Wahlgeheimnisses. Ferner wird die Ausübung von Druck auf Inhaber des Carnet de la Patria (Vaterlandskarte) befürchtet, einer Karte, die zum Empfang von Unterstützungsleistungen berechtigt, und Kritik an der Umstellung des Wahlverfahrens der indigenen Abgeordneten geübt.
Volksbefragung gegen Maduro
In der aktuellen Nationalversammlung, dem venezolanischen Parlament, verfügt die demokratische Opposition über die Mehrheit. Im Jahr 2015 hatte dieses Ergebnis der Opposition den ersehnten Aufschwung und ein Instrument zur Politikgestaltung gegeben. Dieses wurde der Opposition aber bald von der Regierung Maduro durch Übertragung der legislativen Aufgaben an die im Jahr 2017 gewählte Verfassungsgebende Versammlung entzogen. Im Rückblick ist dieser Moment sicherlich einer der entscheidenden für die immer größer werdende Kluft zwischen Madurismus und Opposition und die Aussichtslosigkeit der Bemühungen der Opposition.
Die Volksbefragung, die von der oppositionsdominierten Nationalversammlung und der Interimsregierung durchgeführt wird, setzt auf die öffentlichkeitswirksame Mobilisierung der Bürger und stellt die größte Aktion der Opposition im laufenden Jahr dar. Sie kann jenseits der Inhalte auch als Kräftemessen mit der Regierung Maduro im Hinblick auf Beteiligung der Bevölkerung an beiden Prozesse gesehen werden. Interimspräsident Guaidó ruft zusätzlich zur Teilnahme an der Volksbefragung im In- und Ausland über Online-Plattformen und soziale Medien zu einer großen Präsenzbeteiligung an den Abstimmungsstellen am 12. Dezember auf.
Die Bürger sind aufgerufen, folgende drei Fragen zu beantworten:
- Fordern Sie die Beendigung der Usurpierung der Präsidentschaft durch Nicolás Maduro und rufen Sie zur Abhaltung freier, fairer und überprüfbarer Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf?
- Lehnen Sie die Veranstaltung vom 6. Dezember, organisiert durch das Regime von Nicolás Maduro, ab und fordern Sie von der internationalen Gemeinschaft deren Nicht-Anerkennung?
- Ordnen Sie an, die nötigen Schritte vor der internationalen Gemeinschaft einzuleiten, um die Zusammenarbeit, Begleitung und Unterstützung zu aktivieren, die es ermöglichen, unsere Demokratie wiederzuerlangen, die humanitäre Krise anzugehen und das Volk vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen?
Kritiker, auch solche, die auf Seiten der Opposition stehen, stellen die Überprüfbarkeit der Volksabstimmung in Frage und verbinden wenig Hoffnung mit den Ergebnissen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Interimspräsidentschaft von vielen Bürgen und auch von Teilen der Opposition inzwischen mit Enttäuschung gesehen wird. Der erhoffte Erfolg hat sich nicht eingestellt und die anfängliche Zielsetzung, die auch viele ausländische Regierungen wie etwa Deutschland motiviert hat, die Interimspräsidentschaft anzuerkennen – die Einberufung von Wahlen in einem absehbaren Zeitraum - konnte nicht umgesetzt werden. Die realen Machtverhältnisse haben dies nicht zugelassen. Verschiedene Vermittlungsinitiativen von internationaler Seite sind bis jetzt gescheitert. Angesichts des anscheinenden Invasionsversuchs „Operation Gedeon“ in der ersten Jahreshälfte 2020, bei dem ausländische Söldner zur Herbeiführung eines Regimesturzes angeworben wurden und der scheinbar aus dem Umfeld Guaidós unterstützt wurde, kamen zusätzlich Zweifel an Strategie und Erfolgsaussichten auf.
Sowohl die Parlamentswahlen als auch die Volksbefragung laufen in der Wahrnehmung der Initiatoren in getrennten Welten und mit jeweils nur einem möglichen Ausgang ab, Ausdruck der sich weiter vertiefenden Spaltung und der gegenseitigen Ablehnung. Die Regierung Maduro scheint sich eine neue Opposition schaffen zu wollen, die Interimsregierung Guaidó wiederum eine neue Regierung.
Hoffnung auf Wahlen mit internationaler Beobachtung und Dialog
Zu Beginn der zweiten Jahreshälfte hatte es noch Hoffnungen auf von allen Seiten anerkannte Parlamentswahlen mit internationaler Beobachtung gegeben. Überraschend ließ Staatspräsident Nicolás Maduro am 31. August 110 politische Gefangene und Verfolgte frei. Die zunächst vorsichtig positiven Reaktionen von EU und UN zeigten das Bemühen dieser Akteure, im Dialog mit der Regierung Maduro zu stehen und auf die Durchführung freier Wahlen im Dezember hinzuwirken. Es wurde angenommen, dass der Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski, Mitbegründer von Primero Justicia und u.a. ehemaliger Präsidentschaftskandidat, in Verhandlungen mit der Regierung Maduro eine Rolle gespielt hat. Capriles war im August überraschend mit einer offenen Feststellung der Machtlosigkeit der Interimsregierung Guaidó auf die politische Bühne zurückgekehrt und hatte sich zunächst für eine Teilnahme an den Wahlen ausgesprochen.
Die Maduro-Regierung hatte wenige Wochen zuvor überraschenderweise die UN und die EU zur Wahlbeobachtung eingeladen. Die Annäherung erhielt einen harten Dämpfer durch die Veröffentlichung des Berichts der UN-Fact Finding Mission zu Menschenrechtsverletzungen in Venezuela vom 16. September. Die UN-Mission sichtete fast 3.000 Fälle von Menschenrechtsverletzungen, untersuchte 223 und stellte 48 Fälle detailliert im Bericht dar. Die Internationale Kontaktgruppe lehnte daraufhin Wahlen im Dezember ab, da die Bedingungen nicht gegeben seien, forderte u.a. die Abhaltung von Präsidentschafts-und Parlamentswahlen im kommenden Jahr, die Einberufung eines neuen Wahlrats und die Möglichkeit der Teilnahme an den Wahlen für Venezolaner im Ausland. Die EU hatte einige Tage vorher festgestellt, dass die Zeitspanne für die Entsendung einer Beobachtungsmission zu knapp sei.
EU-Außenkommissar Josep Borrell, anscheinend an einem letzten Vermittlungsversuch zu den Wahlen interessiert, schickte Ende September eine Delegation nach Caracas zu Gesprächen mit der Maduro-Regierung, mit der Interimsregierung, Vertretern der Opposition und der Zivilgesellschaft. Dafür erhielt er von verschiedenen Gruppen in der EU, in Venezuela und Lateinamerika, vor allem aus dem konservativen Bereich, scharfe Kritik. Trotzdem scheinen Gesprächskanäle mit verschiedenen Akteuren zu bestehen.
Einige Stimmen in Venezuela verbinden mit einem US-Präsidenten Biden eine größere Gesprächsbereitschaft auf Seiten der USA und eine Aufweichung der harten Linie, andere Analysten sehen keine grundsätzliche Änderung der Haltung der USA. Es bleibt abzuwarten, was die Ernennung des US-Gesandten für Venezuela James Story mit Sitz in Kolumbien zum Botschafter bedeutet. Venezuela wird allerdings nicht an oberster Stelle auf der Agenda der neuen US-Regierung stehen. Möglicherweise erweitert sich dadurch der Einfluss der EU, die in der Wahrnehmung vor Ort nicht so stark eigene Interessen verfolgt wie die USA. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass im ersten Halbjahr 2021 Portugal die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Portugal hat seinerzeit die Interimspräsidentschaft Guaidós nicht anerkannt.
Wie geht es nach den Wahlen weiter?
Wenn am 5. Januar 2021 die neue Nationalversammlung zusammentritt, wird der Interimspräsidentschaft von Juan Guaidó, Vorsitzender der aktuellen Nationalversammlung, der nicht bei den Wahlen antritt, die Grundlage entzogen. Da die demokratische Opposition die Parlamentswahlen nicht anerkennt, leiten Teile daraus ab, dass die derzeitige Nationalversammlung weiterzubestehen habe. Verschiedene Varianten für die Zeit ab dem 5. Januar sind in der Diskussion, wobei sich die Einberufung der „Comisión delegada“, bestehend aus Parlamentspräsident und Vorsitzenden der Kommissionen, abzeichnet. Daraus abgeleitet wäre Guaidó als Interimspräsident weiterhin im Amt. Die Entscheidung dazu, die im Parlament getroffen werden muss, kann sich bis zum letzten Moment hinziehen.
Auch eine Exilregierung ist im Gespräch. Da Sorgen bestehen, dass derzeitige Parlamentarier verhaftet werden könnten und Präsident Maduro bereits in Aussicht gestellt hat, Guaidó zur Verantwortung zu ziehen und sich ein Teil der Abgeordneten und Vertreter der Interimsregierung schon im Ausland befindet, ist auch diese Variante nicht ausgeschlossen. Die Position wäre aber eine deutlich schwächere und würde Risse innerhalb der Opposition vertiefen, die sich entlang der Linie Präsenz im In- oder Ausland auftun. Die Position einer Führungsspitze im Ausland würde eher kurz- als langfristig in Frage stehen. Bereits jetzt ist von einer „Kubanisierung“ die Rede, die in Richtung einer nostalgischen Opposition im Ausland weist.
Eine dritte und zusätzliche Möglichkeit ist die Veränderung der oppositionellen Parteienlandschaft, sei es durch Veränderungen innerhalb der Parteien, sei es durch das Entstehen neuer Bewegungen und Parteien. Nicht auszuschließen ist die Verknüpfung mit einzelnen Abgeordneten der neuen Nationalversammlung. Durch das veränderte Wahlrecht mit Ausweitung der Abgeordnetenmandate ist von einer größeren Parteienvielfalt mit einem Maß an Zersplitterung der Opposition auszugehen, aus der neue Allianzen entstehen könnten.
Analysten im Land gehen davon aus, dass mit Zusammentreten der neuen Nationalversammlung ein neuer politischer Zyklus beginnt. Die Regierung Maduro wird – voraussichtlich mit Mehrheit in der Nationalversammlung – alle drei Staatsgewalten kontrollieren und gestärkt dastehen. Die Katholische Kirche sieht eine Vertiefung des Umbaus der Gesellschaft mit Einrichtung eines „kommunalen Staates“ kommunistischer Prägung, vom ehemaligen Staatspräsidenten Hugo Chávez in seiner zweiten Amtszeit angestrebt. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung werde voraussichtlich weiter zunehmen. Ein schwieriges Szenario, in dem die Bevölkerung vor allem für die wirtschaftliche und humanitäre Situation Lösungen erwartet.
Lösungen für die politische Krise und gesellschaftliche Spaltung sind im Land zu finden. Zwar hat Interimspräsident Guaidó am 23. September in einer Rede vor Vertretern der UN die Anwendung des Protokolls „Responsibility to Protect“ (R2P) eingefordert. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im UN-Sicherheitsrat erscheint dies aber eher unwahrscheinlich und in Venezuela selbst gibt es viele kritische Stimmen. Die Bischofskonferenz von Venezuela stellte in ihrer Botschaft zum Adventsbeginn fest, dass die Wahlen vom 6. Dezember nicht zu einer demokratischen Lösung der aktuellen politischen Situation des Landes beitragen, sondern diese verschärfen würden, und rief die politischen Akteure und zivilgesellschaftlichen Organisationen dazu auf, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen. Ohne gegenseitige Anerkennung und echten Dialog gäbe es keine Lösung.
Die Katholische Kirche fordert als Voraussetzung für einen Dialog die gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen Akteure. Dies scheint derzeit schwieriger als je zuvor, sollte jedoch unterstützt werden. Aus der Katholischen Kirche kommt auch der Ruf, dass sich die Beteiligten in Venezuela neu zu erfinden hätten. Der Beginn des Jahres 2021 wird ein Nach- und Umdenken sowohl bei den nationalen als auch bei internationalen Akteuren erfordern, um eine realistische und tragfähige Perspektive für Venezuela zu entwickeln.