Am 26. Januar waren fast 25 Millionen Peruaner zu den Urnen gerufen, um die insgesamt 130 Parlamentssitze des im September 2019 aufgelösten Kongresses für eine stark verkürzte Amtsperiode neu zu bestimmen. Im Gegensatz zum aufgelösten Kongress gelang es dabei keiner Partei, auch nur ansatzweise in die Nähe der absoluten Mehrheit von 66 der 130 Parlamentssitze zu kommen.
Bei allgemeiner Wahlpflicht gingen trotzdem nur 76,5 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen. Von diesen wiederum gaben über ein Viertel einen leeren oder ungültigen Stimmzettel ab.
Dem neu gewählten Übergangskongress werden insgesamt zehn politische Gruppierungen angehören. Nur eine davon kam knapp über die Zehn-Prozent-Marke. Aufgrund der Besonderheiten des peruanischen Wahlrechtes entspricht die Reihenfolge der Parteien nach Wählerstimmen nicht der Reihenfolge hinsichtlich der Parlamentsmandate. Während drei Fraktionen als politischer Ausdruck von Protestwählen gelten können, gehören vier der erweiterten politischen Mitte an. Zwei sind links zu verorten, eine rechts. Nach einer Wahlprognose aufgrund erster Ergebnisse am Wahlabend stellen sich die Ergebnisse wie folgt dar.
Wie allgemein erwartet, konnte die zentristische Traditionspartei Acción Popular stärkste Kraft werden. Zwar legte die nach einer langen Durststrecke erst 2016 wieder ins Parlament eingezogene AP im Vergleich zur letzten Wahl rund drei Prozent zu, blieb aber überraschend deutlich unter den Umfragewerten, die bis zu 18 Prozent für möglich gehalten hatten. Unter den Erwartungen blieben auch die neue, liberal-progressive „Partido Morado“ sowie die vor allem im Norden starke ideologisch flexible APP, welche im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2016 einen Prozentpunkt einbüßte. Den zentristischen Block beschließt die gemäßigte, stark in der Kommunalpolitik verankerte Mitte-Rechts-Partei „Somos Perú“, welche im letzten Parlament nicht vertreten war. Insgesamt kommt dieser gemäßigte Block auf 58 von 130 Kongressmandaten und ist damit acht Stimmen von der absoluten Mehrheit entfernt.
Als die ersten Hochrechnungen auf den Bildschirmen flackerten, rieben sich viele insbesondere beim sensationellen zweiten Platz von FREPAP die Augen. Diese ist der politische Ableger einer skurrilen peruanischen Sekte, die andinen Korporativismus mit archaischen Bibelauslegungen vermischt und ihren im Jahr 2000 verstorbenen Ezequiel Ataucusi als Messiasgestalt verehrt. Die Partei war durch eine starke Präsenz ihres Parteilogos, eines Fisches, im Straßenbild, einen diffusen Anti-Eliten-Diskurs und das ungewöhnliche Aussehen ihrer Kandidaten aufgefallen. Die Medien hatten ihre Kandidaten praktisch nicht beachtet. Einiges deutet darauf hin, dass viele Wähler FREPAP nicht aufgrund ihrer Programmatik gewählt haben, sondern aus Protest, weil der „Fisch“ den größten Gegensatz zur traditionellen Politik bildet. Die FREPAP, über die die nächsten Tage und Wochen noch viel zu lesen sein wird, bildet einen Sonderfall und kann nicht so ohne weiteres als peruanische Version der lateinamerikanischen Welle von evangelikal motivierten Wahlerfolgen gedeutet werden.
Mit Podemos Perú schnitt eine weitere populistische Kraft, angeführt von dem ehemaligen peruanischen Innenminister Daniel Urresti, erstaunlich stark ab. PP hat seine Hochburgen besonders in den armen Stadtvierteln Limas, in denen ihr Diskurs gegen die Eliten und die Kriminalität Unterstützung findet. Das mit insgesamt 43 Abgeordneten überraschend starke populistische Trio beschließt UPP, eine 1994 vom Ex-UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuellar gegründete Partei, die heute völlig sinn- und ideologieentleert als Sammelbecken aller möglichen merkwürdigen Persönlichkeiten fungiert. Vor allem machte UPP damit auf sich aufmerksam, dass sie den linksradikalen und im Gefängnis sitzenden Bruder von Ex-Präsident Ollanta Humala, Antauro Humala, auf den ersten Platz ihrer Parlamentsliste in Lima setzte. Vorhersehbarerweise wurde dieser jedoch von der Wahl ausgeschlossen. UPP hatte jedoch die beabsichtigte Öffentlichkeitswirksamkeit erreicht, von der sie insbesondere in den für Linkspopulismus traditionell empfänglichen andinen Südprovinzen nachdrücklich profitierte. Zudem schürte UPP Angst vor Zuwanderung, unter anderem mit der Forderung eines Verbotes, Ausländer anzustellen wenn auch peruanische Arbeitskräfte vorhanden sind.
Während die „klassische“ politische Linke mit ihren beiden Fraktionen Frente Amplio und Juntos por el Perú im Vergleich zu 2016 leichte Verluste einfuhr und auf gemeinsam 17 Mandate kam, erhielt die politische Rechte vom Wähler eine schallende Ohrfeige. Überraschend deutlich wurde Fuerza Popular, die national-populistische Partei der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Keiko Fujimori, abgestraft. Statt 36,3 Prozent und einer absoluten Mehrheit von 73 von 130 Sitzen landete FP mit 7,7 Prozent und 12 Mandaten auf einem demütigenden sechsten Rang. Sie bekam vom Wähler die Quittung für ihr konfrontatives und autoritäres Handeln in der letzten Legislaturperiode und für zahlreiche Korruptionsskandale. Die mit FP im letzten Kongress alliierte APRA-Partei scheiterte an der 5-Prozent-Hürde. Die christdemokratische PPC schaffte es ebenfalls nicht ins Parlament, wenn auch durchaus knapp.
Ende einer Ausnahmesituation
Mit der Neuwahl des Kongresses endet die viermonatige verfassungsrechtliche Ausnahmesituation der de-facto-Abwesenheit eines der Verfassungsorgane. Am 30. September hatte Präsident Martín Vizcarra den Kongress aufgelöst und Neuwahlen des Parlamentes angesetzt. Grund für diesen Schritt war laut Vizcarra der „faktische Entzug des Vertrauens“ durch den Kongress gegenüber dem Regierungskabinett im Zusammenhang mit der Neuwahl von Mitgliedern des Obersten Gerichtshofes, eine Interpretation, die vom Verfassungsgericht mit knapper Mehrheit bestätigt wurde. Unabhängig vom Ausgang der Wahl ist deshalb allein die Vereidigung eines neuen Kongresses ein politischer Erfolg für Vizcarra und ein zumindest vorläufiges Ende seines sehr gewagten und verfassungsrechtlich durchaus umstrittenen politischen Manövers.
In vielerlei Hinsicht stellten die außerordentlichen Parlamentswahlen 2020 einen politischen und rechtlichen Ausnahmefall dar. So werden die neuen Abgeordneten nach peruanischer Gesetzeslage lediglich die verbleibende Zeit bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode im Amt sein – also bis Juli 2021, wenn Parlament und Präsident turnusgemäß neu gewählt werden müssen. Völlig neu im Vergleich zu vorherigen Parlamentswahlen war auch die die Tatsache, dass diesmal parallel keine Präsidentschaftswahlen stattfanden. Traditionell schließen sich die peruanischen Parteien im Wahlkampf hinter den Spitzenkandidaten für das höchste Staatsamt zu Wahlbündnissen zusammen und es ist vor allem das Abschneiden der Spitzenkandidaten, welches darüber entscheidet, wie viele Kongressmandate die Bündnisse erhalten. Diesmal traten insgesamt 21 Parteien einzeln und unter eigenem Logo bei der Wahl an, was zur großen Zersplitterung der Wählerstimmen beitrug.
Wenig Interesse am Wahlkampf
Diese ungewohnte Konstellation könnte ein Grund für geringe Interesse der peruanischen Öffentlichkeit am Wahlkampf gewesen sein, welches sich letztlich im hohen Anteil der Enthaltungen und der Wahl von Protestparteien. Insgesamt drei Fernsehdebatten, an denen von den Parteien designierte Parlamentskandidaten teilnahmen, waren vom Format her langatmig und führten nicht zu einer durchschlagenden Diskussion wichtiger Politikvorschläge. Inhaltlich verlief die Debatte eher auf niedrigerem Niveau, ohne dass es ein beherrschendes Thema gab. Einen gewissen Stoff für Diskussionen boten der Kampf gegen die Korruption, die Sicherheitslage im Land, die Diskussion um eine politische Reform sowie die im Land durchaus heftig geführte Auseinandersetzung um den Themenkomplex Sexualerziehung und „Gender-Mainstreaming“ im Schulunterreicht.
Im Vergleich zu „normalen“ Präsidentschafts- und Parlamentswahlen oder auch zu Lokal- und Regionalwahlen war im Straßenbild vergleichsweise wenig Wahlwerbung zu sehen. Offenbar waren die Kandidaten nicht bereit, Unsummen für einen Wahlkampf auszugeben, der im besten Fall in einem Kurzzeit-Parlamentsmandat münden konnte. Auch der Zeitpunkt der Wahl kurz nach Weihnachten und mitten in der Haupturlaubszeit trug dazu bei, dass keine echte Wahlkampfstimmung aufkam.
Während die Organisation der Wahlen gewohnt reibungslos verlief, zeigten sich einmal mehr gravierende Schwierigkeiten der geltenden Regeln zur Kandidatenaufstellung und insbesondere auch deren Anwendung. So wurden zunächst 722 Kandidaten landesweit von den Wahlen ausgeschlossen, also mehr als jeder fünfte. Hauptgrund für den Ausschluss waren oft minimal inexakte Angaben bei Vermögensverhältnissen und Einkünften. Das drakonisch angewendete peruanische Wahlgesetz sieht in solchen Fällen nur den Ausschluss vor. Gegen viele dieser Urteile wurden Berufungen eingelegt, mit dem Resultat, dass Kandidaten bis wenige Tage vor der Wahl nicht wussten, ob sie antreten durften oder nicht.
Nach der Wahl ist vor der Wahl
Da am 11. April 2021 mit den turnusgemäßen Präsidentschaftswahlen bereits die nächste komplette Neuwahl des peruanischen Kongresses ansteht, wird die politische Positionierung mit Hinblick auf dieses Ereignis ein entscheidendes Charakteristikum der Arbeit des neu gewählten Kurzzeit-Kongresses bilden. Es wird erwartet, dass Daniel Urresti (PP), César Acuña (APP) und Julio Guzmán (PM) versuchen werden, ihre präsidialen Ambitionen durch die Arbeit ihrer Fraktionen zu untermauern. Acción Popular hat das Problem, dass sie zwar als Partei recht gut abgeschnitten hat, gleichzeitig jedoch derzeit über keinen wirklich aussichtsreichen Bewerber für die Präsidentschaft verfügt. Für den beliebtesten AP-Politiker kommt die Wahl 2021 zu früh. Jorge Muñoz ist erst seit Anfang 2019 Bürgermeister von Lima und es gilt als sehr unwahrscheinlich, dass er als Kandidat in den Präsidentschaftswahlkampf eingreifen wird.
Hinsichtlich der Erwartungen an den neuen Kongress zeigten verschiedene Umfragen vor der Wahl insbesondere eins – die Bevölkerung wünscht sich von den neuen Kongressabgeordneten weniger gegenseitige Auseinandersetzung und mehr Willen zum Konsens als dies bei ihren enorm unbeliebten Vorgängern der Fall war. Das Ausscheiden besonders konfrontativer Personen aus dem Parlament, dessen ideologische Zersplitterung und die Schwäche von FP lassen dies als durchaus möglich erscheinen. Besonders wichtig wäre die Einigung auf ein transparentes Verfahren für die anstehende Neuwahl von sechs von sieben Mitglieder des Verfassungsgerichtes.
Dennoch sollten die neuen Abgeordneten der Versuchung widerstehen, in 16 Monaten alle Probleme des Landes lösen zu wollen. Insbesondere in den sensiblen Bereichen der Reformen des politischen Systems und des Justizsystems sind gründliche Diskussionen notwendig, für die dem neuen Parlament schlichtweg die Zeit fehlen wird. Die Zersplitterung der Fraktionen und die unklare Agenda mancher Gruppen werden parlamentarische Mehrheiten zusätzlich erschweren. Es ist deshalb besonders bitter, dass die neuen Parlamentarier aufgrund des von Präsident Vizcarra maßgeblich betriebenen Wiederwahlverbotes keinerlei Chance haben, die von ihnen angestoßenen Reformideen in einer „ordentlichen“ Legislaturperiode weiterzuverfolgen.
Gleichzeitig hat das neue Parlament insbesondere aber nicht nur durch die Präsenz von FREPAP und UPP ein ständiges Skurrilitäts- und Skandalpotenzial, welches die öffentliche Aufmerksamkeit von inhaltlichen Fragen auf Nebenkriegsschauplätze lenken wird. Dies wiederum könnte die nach den politischen Krisen der letzten Jahre ohnehin enorme Apathie im Volk gegenüber der Politik noch weiter verstärken und – wenn alles schlecht läuft – einem Populisten bei den Präsidentschaftswahlen 2021 einen fruchtbaren Boden bereiten.
Insbesondere durch die fulminante Schwächung seines wichtigsten Antagonisten, der Kongressfraktion von Fuerza Popular, geht Präsident Martín Vizcarra unter dem Strich gestärkt aus dieser Wahl hervor. Er steht seinerseits vor der Herausforderung, den Modus ständiger Konfrontation gegenüber dem Kongress, der ihm große Zustimmung im Volk verschafft hat, hinter sich zu lassen. Es bleibt abzuwarten, ob sich Vizcarra jetzt als Politikgestalter wird neu erfinden können.
Die Zusammenarbeit mit dem neuen Kongress dürfte für den Präsidenten dabei alles andere als leicht werden. Die meisten Fraktionen können nicht in eine Dualität zwischen „regierungstreu“ oder „oppositionell“ eingepasst werden und werden im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2021 vor allem eigene Interessen verfolgen. Trotzdem liegt insbesondere in einem offenen Dialog zwischen dem Präsidenten und dem gemäßigten Teil des Parlamentes eine Chance, die das Land nach mehr als drei politisch chaotischen Jahren ständiger politischer Blockade und scharfer Auseinandersetzung keinesfalls verpassen sollte.