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Everton137 / Wikipedia / CC BY-SA 3.0

Country reports

Lula in Freiheit

by Anja Czymmeck, Franziska Hübner

Die Polarisierung in Brasilien verschärft sich

Brasilien kannte nur eine Nachricht am vergangen Freitag, dem 8. November 2019: „Lula hat das Gefängnis verlassen!“ Nach einer Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichts in Brasilien (Supremo Tribunal Federal, STF) durfte der ehemalige brasilianische Staatspräsident und Regierungschef Luiz Inácio „Lula“ da Silva (2003 - 2010), der am 24. Januar 2018 in zweiter Instanz wegen passiver Korruption und Geldwäsche verurteilt worden war und am 7. April 2018 eine über 12-jährige Haftstrafe angetreten hatte, das Gefängnis in der südbrasilianischen Stadt Curitiba nach 580 Tagen verlassen. Was war passiert?

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Seit dem Jahr 2016 sah die brasilianische Rechtsordnung vor, dass in zweiter Instanz strafrechtlich Verurteilte die ihnen auferlegte Haftstrafe anzutreten haben, obwohl den Betroffenen weitere Rechtsmittel in dritter und vierter Instanz zur Verfügung stehen. Entsprechend dem seit 2016 rechtlich üblichen Weg war das Einlegen von Rechtsmitteln also nur aus dem Gefängnis heraus möglich.

 

Dieser rechtliche Rahmen wirkte sich auf die Inhaftierung vieler tausender Fälle aus. Auch der ehemalige Staatspräsident und die Führungsfigur der linken Arbeiterpartei (PT), Lula da Silva, war hiervon direkt betroffen. Dem heute 74-jährigen wurde und wird im Rahmen der sogenannten Lava-Jato-Ermittlungen, welche seit fünf Jahren Vorteilsnahme und Korruption bis in höchste Ränge von Brasiliens Politik und Wirtschaft aufdeckt, angelastet, ein luxuriöses Apartment im Gegenzug für die Vergabe lukrativer Aufträge des Staatskonzerns Petrobras an das Bauunternehmen OAS erhalten zu haben. Nach der Verurteilung in zweiter Instanz wegen passiver Korruption und Geldwäsche im Januar 2018 musste der ehemalige Staats- und Regierungschef seine Haftstrafe gemäß dem seit 2016 rechtlich üblichen Weg am 7. April 2018 antreten. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof einen Antrag auf Haftverschonung, den Lulas Verteidigung trotz der zum damaligen Zeitpunkt gängigen Praxis eingebracht hatte, mit sechs zu fünf Stimmen am 4. April 2018 abgelehnt. Die Entscheidung vom 4. April 2018 war ein wichtiges Zeichen für das Ende der Straffreiheit auf höchster Ebene und stellte eine wichtige Zäsur dar: Gesetze galten jetzt offenbar gleichermaßen für einfache Bürger wie für ehemalige Präsidenten. Die Frage, ob Lula da Silva politischer Verfolgter oder Straftäter ist, ist in der viertgrößten Demokratie der Welt längst zur Gretchenfrage geworden.

 

Der Zick-Zack-Kurs des Obersten Gerichts

 

Zu welchem Zeitpunkt strafrechtlich Verurteilte ihre Haftstrafe anzutreten hätten, diskutiert Brasiliens Oberster Gerichtshof immer wieder seit dem Inkrafttreten der brasilianischen Verfassung im Jahr 1988. In unregelmäßigen Abständen ändert die Judikative dabei ihr Verständnis mit Blick auf den Zeitpunkt, ab dem eine Haftstrafe anzutreten ist: Bis zur ersten Kehrtwende im Jahr 2009 war es seit 1988 üblich, die Strafe nach Verurteilung durch ein Richterkolleg in zweiter Instanz anzutreten. Von 2009 bis 2016 war die gängige Praxis eine andere: Der Haftantritt bedingte, dass bereits alle Rechtsmittel in allen Instanzen ausgeschöpft waren. Sind alle Rechtsmittel ausgeschöpft und ist die richterliche Entscheidung unwiderruflich, so spricht man von „trânsito em julgado“ (rechtskräftig). Durch seine erneute Wende im Jahr 2016 kehrte das Oberste Gericht zu seiner ursprünglichen Auslegung zurück. Ob die jüngste Entscheidung des Obersten Gerichts vom 8. November 2019 mit sechs zu fünf Stimmen zum Zeitpunkt des Haftantritts den definitiven Endpunkt des Zick-Zack-Kurses markiert, wird die Zukunft zeigen. Bis auf unbestimmte Zeit gilt nun also wieder, dass die Haftstrafe erst nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Rechtsmittel anzutreten ist („trânsito em julgado“).  Im Kongress, d. h. im Abgeordnetenhaus und im Senat, wird nun überlegt, ob man eine mögliche Verfassungsänderung anstreben sollte, die die Inhaftierung nach Verurteilung in zweiter Instanz vorsieht. 

 

Der (international) prominenteste Fall

 

Direkt betroffen von der Entscheidung der Obersten Richter ist wieder das Idol von Millionen Anhängern der linken Arbeiterpartei: Der in zweiter Instanz strafrechtlich verurteilte Lula, der weitere Rechtsmittel einlegen kann, ist als ehemaliger Staatschef zwar der prominenteste Fall, jedoch längst nicht der einzige: Infolge der Grundsatzentscheidung vom 8. November 2019 ist nach Schätzungen des Nationalen Justizrats (Conselho Nacional de Justiça, CNJ) zu erwarten, dass bis zu 5.000 weitere Gefangene wieder auf freien Fuß kommen werden und weitere zur Verfügung stehende Rechtsmittel in höheren Instanzen in Freiheit einlegen können. Neben einer Reihe von kleineren Fischen betrifft die Grundsatzentscheidung auch eine Reihe anderer zweitinstanzlich verurteilter Politiker und Wirtschaftsbosse, die in Folge der Lava-Jato-Ermittlungen strafrechtlich belangt worden sind. Die jetzigen Ereignisse sind deshalb auch als Rückschlag für die Lava-Jato Task Force zu bewerten, weil sich die Verfahren bis zur letzten Instanz in Brasilien über Jahre hinziehen können. In Freiheit sind bereits wieder der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Minas Gerais, Eduardo Azeredo (PSDB), oder auch der ehemalige Stabschef des Präsidentenpalasts, José Dirceu (PT).

 

Lula in Freiheit – Was verändert sich?

 

Die Freilassung Lulas am Nachmittag des 8. Novembers 2019 feierten Millionen Brasilianer, allen voran die Anhänger der PT und der Landlosenbewegung MST (Movimento sem Terra), im ganzen Land frenetisch. Die eingefleischten Anti-PT-ler, die der systemimmanenten Korruption, die in der 13-jährigen Regierungszeit der Arbeiterpartei von 2003 - 2016 ihre Blütezeit erlebte, überdrüssig sind und die ihr Land zum Ende dieser 13-jährigen Regierungszeit in der schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes wiederfanden, sahen keinen Grund zur Freude.

 

Im Wahljahr 2018, aus dem der ultrarechte Bolsonaro als Wahlsieger hervorgegangen ist, weil eben ein Großteil der Brasilianer der Korruption und der Politik der PT überdrüssig geworden war, lenkte Lula da Silva die Geschicke seiner Partei aus dem Gefängnis heraus. Den linken Kandidaten Fernando Haddad (PT) installierte er als seine Marionette, die Lula wöchentlich im Gefängnis in Curitiba besuchte. Für viele ist Lula die PT, er verkörpert sie, er ist die personifizierte PT. Auch im Jahr 2019 führte keine Entscheidung der PT an Lula vorbei. Es ist anzunehmen, dass Lula die Parteigeschäfte auch in Zukunft leiten wird, unabhängig von der offiziellen Position, die er bekleiden wird. Außerhalb des Gefängnisses wird er hierzu jedoch kein Sprachrohr in Form einer Marionette brauchen. Im Gegensatz zu den letzten rund 19 Monaten wird er sehr viel sichtbarer sein. In einem seiner ersten öffentlichen Auftritte, bei dem der seit 2017 verwitwete Lula auch seine 34 Jahre jüngere neue Freundin vorstellte, hat er sich bereits als Führer der Opposition inszeniert. Er hat Reisen durch Brasilien angekündigt und auch ins Ausland.

 

Personenkult und Wahlen 2020 und 2022

 

Die Arbeiterpartei hat in den vergangenen Jahren alles auf eine einzige Karte gesetzt, auf Lula. Die Schuldfrage im Falle des Luxusapartments werden höhere Instanzen neu zu bewerten haben. Der Ausgang ist ungewiss. In sieben weiteren Verfahren ist Lula bereits Angeklagter, gegen den die Behörden ermitteln. Die linke Arbeiterpartei hat es - ebenso wie andere Parteien, zum Beispiel die Mitte-Rechts-Partei der Sozialen Demokratie Brasiliens (PSDB) im Falle ihres ehemaligen Vorsitzenden Aécio Neves - verpasst, sich von Lula da Silva zu distanzieren und einen Erneuerungsprozess anzustoßen. Stattdessen wird am Personenkult festgehalten: das Idol früherer Tage soll die Zukunft der Arbeiterpartei und die Politik eines ganzen Landes gestalten. Anders gesagt: Spätestens die Verurteilung in zweiter Instanz im Januar 2018 hätte genutzt werden müssen, um sich vom Kult um Lula zu lösen, um der systemimmanenten Korruption in Brasilien kritisch entgegenzutreten und um sich mittel- bis langfristig als Partei zu erneuern, anstatt bis heute in der Abhängigkeit einer Person zu verweilen.

 

Lulas Präsenz dürfte die Rhetorik im Wahljahr 2020 verändern, in dem Kommunalpolitiker (Bürgermeister und ihre Stellvertreter sowie Stadträte) in 5.568 Gemeinden gewählt werden. Einer eigenen Kandidatur Lulas in den Jahren 2020 oder 2022 steht jedoch das sogenannte Gesetz Ficha Limpa (Gesetz Nr. 135 – „Weiße Weste“) entgegen, welches 2010 in Kraft trat. Demnach ist ein durch ein Richterkollegium strafrechtlich verurteilter Kandidat für einen Zeitraum von acht Jahren unwählbar, auch wenn der betroffene Kandidat noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft hat. Folglich wäre eine Kandidatur nach dem aktuellen Stand der Dinge erst im Jahr 2026 möglich.

 

Die Polarisierung nimmt weiter zu

 

Bereits jetzt ist die viertgrößte Demokratie der Welt in glühende Anhänger und ebenso überzeugte Gegner Lulas und der Arbeiterpartei tief gespalten. In ersten öffentlichen Auftritten nach seiner Freilassung hat Lula die Stimmung weiter angeheizt, anstatt sich um Versöhnung beider Lager zu bemühen. So beschuldigte er die brasilianischen Institutionen und die Lava Jato-Ermittler, die Linken, die Arbeiterpartei und ihn selbst zu kriminalisieren. Bei dem öffentlichen Auftritt bei der Gewerkschaft der Metallarbeiter ABC am 10. November 2019 in São Paulo erkannte Lula die Wahl Bolsonaros im Jahr 2018 als eine demokratische Wahl an, rief seine Anhänger jedoch dazu auf, „anzugreifen“ (portugiesisch.: „atacar“) anstatt sich zu „verteidigen“. Dabei nannte er ausgerechnet Chile explizit als Beispiel. In dem Land an der Pazifikküste sind infolge gewaltsamer Proteste zwischen Demonstranten und der Staatsgewalt bereits zahlreiche Tote und Verletzte zu beklagen. Lula bedauerte, dass es nach seiner Verhaftung keine Verbesserungen in Brasilien gegeben habe. Mitverantwortlich hierfür macht er in erster Linie den brasilianischen Wirtschaftsminister Paulo Guedes, einen ultraliberalen Chicago-Boy. Zwar stellte das Brasilianische Institut für Geografie und Statistik (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatistica, IBGE) Anfang November 2019 fest, dass derzeit 13,5 Millionen Brasilianer in absoluter Armut leben würden. Dieser Missstand muss zweifelsfrei behoben werden. Positiv festzuhalten ist aber auch, dass Paulo Guedes die Renten- und Sozialversicherungsreform im September und Oktober 2019 erfolgreich durch den Kongress gebracht hat. Von der Reform erwarten sich alle Wirtschaftsexperten erhebliche Einsparungen bei den Staatsausgaben (bis zu 800 Milliarden Reals in den kommenden zehn Jahren; das sind rund 200 Milliarden Euro).

 

Zwei extreme Antagonisten und die Mitte

 

Der amtierende Staatspräsident Jair Bolsonaro, der in den Sozialen Medien aktuelle Entwicklungen in drastischer Form und ad hoc zu kommentieren pflegt, zeigte sich bis jetzt zurückhaltend. Er betonte seine Verantwortung gegenüber den Brasilianern, sah (bisher) von jedweder Kommentierung der Freilassung Lulas ab, unterstrich, dass er sich um die Geschäfte der Exekutive zu kümmern habe. Die Regierung wolle die Freilassung Lulas zum Anlass nehmen, das sogenannte „Pacote Anticrime“ noch entschiedener voran zu treiben. Mit dem 14 Gesetze umfassenden Maßnahmenpaket sollen die Korruption und das organisierte Verbrechen verstärkt bekämpft werden. Das Paket sieht u.a. vor, schwarze Kassen zu kriminalisieren, die sogenannte „Caixa 2“.

 

Vergessen werden darf nicht, dass sich ein Teil von Bolsonaros Wahlerfolg ganz entscheidend auf der Zustimmung eingefleischter Gegner der Arbeiterpartei begründete. Viele, die im Wahljahr 2018 eine erneute Regierungszeit der PT unter allen Umständen verhindern wollten, gaben dem Rechtspopulisten ihre Stimme. Bolsonaro inszenierte sich nicht zuletzt aufgrund des Unvermögens der Zentrumsparteien als einziger sichtbarer Gegenspieler zur Arbeiterpartei. Die neue Präsenz Lulas könnte dazu beitragen, dass diese überzeugten Anti-PT Wähler weiterhin auf Bolsonaro setzen. Auf der anderen Seite der Extreme braucht der linke Lula den ultrarechten Jair Bolsonaro als Projektionsfläche. Umso stärker kann sich Lula als Oppositionsführer inszenieren. Es kann angenommen werden, dass Lula und die Arbeiterpartei die rhetorische Konfrontation suchen werden. Ob die gemäßigten Mitte-Rechts-Parteien zwischen diesen beiden Polen weiter zerrieben werden oder sich als Brücke zwischen beiden Extremen zu positionieren wissen mit einem klaren Fokus auf inhaltlicher Sacharbeit, bleibt genau zu beobachten. Ebenso abzuwarten bleibt, welche Rolle die Legislative, mit ihren Vorsitzenden Rodrigo Maia (DEM) im Abgeordnetenhaus und Davi Alcolumbre (DEM) im Senat, die in den ersten zehn Monaten der Amtszeit Jair Bolsonaros als aktive Politikgestalterin positiv in Erscheinung getreten ist, in dem veränderten politischen Szenario mittel- bis langfristig spielen wird.

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