Country reports
Fast 136 Millionen Brasilianer (2006: 126 Mio.) waren am Sonntag aufgerufen, den oder die Nachfolger/in für den überaus populären Präsidenten Lula zu wählen. Im Rahmen ihrer gesetzlichen Wahlpflicht mussten sie auch ihre 513 Bundesabgeordneten, pro Bundesstaat zwei Senatoren, die Gouverneure der 27 Bundesstaaten und die Mitglieder der Landesparlamente wählen, insgesamt also fünf Stimmen abgeben. Präsident und Gouverneure werden dabei in direkter Wahl gewählt, sofern sie im ersten Wahlgang die Mehrheit der gültigen Stimmen erhalten. Ansonsten fällt die Entscheidung über die Besetzung dieser Ämter für die nächsten vier Jahre in einer Stichwahl am 31. Oktober. Die Abgeordneten werden in einem personalisierten Verhältniswahlrecht ermittelt und ebenfalls für vier Jahre, die Senatoren für 8 Jahre gewählt.
Die wichtigsten Ergebnisse
Präsidentschaft: (nach 97,5 % ausgezählter Stimmen gem. TSE, 22.00 Uhr)
- Dilma Rousseff (Arbeiterpartei, PT): 46,6 % (abgegebene gültige Stimmen)
- José Serra (Sozialdemokratischen Partei, PSDB):32,7 % (abgegebene gültige Stimmen)
- Marina Silva (Grüne Partei, PV): 19,5 % (abgegebene gültige Stimmen)
- Ungültige Stimmen, Enthaltungen, nicht abgegebene Stimmen: 26,2 %
Gouverneure: Zahlreiche Gouverneurswahlen konnten im ersten Wahlgang entschieden werden. Die bisherige Opposition unter der Führung von PSDB und DEM konnte die Regierung folgender Bundesstaaten für sich erobern: São Paulo, Minas Gerais, Paraná, Santa Catarina, Rio Grande do Norte, Tocantins.
Das Regierungslager gewann Rio de Janeiro, Bahia, Espirito Santo, Rio Grande do Sul, Pernambuco, Sergipe, Amazonas. Das Gesamtbild wird sich erst nach den Stichwahlen zeigen.
Nationalkongress: Im Senat wurden 54 von den insgesamt 81 Sitzen neu besetzt. Dabei ist in der Tendenz eine Stärkung der aktuellen Regierungsallianz festzustellen. Von den wichtigsten Parteien gewann PT 12 Senatoren, PMDB 16, andere Parteien der Regierungsallianz 16, auf Seiten der Opposition PSDB 5, DEM 2, PTB 1, PPS 1, PMN 1 (Stand: 22.00 Uhr). Die Auszählung der Stimmen für das Abgeordnetenhaus dauert noch bis in den Montag an.
Wahlkampf bis zum Schluss
Obwohl die Umfragen in den letzten Wochen der Kandidatin Lulas einen klaren Vorsprung von über 20 Prozentpunkten gaben, der zum Sieg im ersten Wahlgang reichen würde, kämpften alle Präsidentschaftskandidaten bis zum Schluss. Noch am Donnerstagabend gab es eine Fernsehdebatte im größten Kanal „TV Globo“. Dabei kam die heftig kritisierte Taktik Serras, Dilma und damit Lulas Politik nicht anzugreifen, noch einmal voll zum Tragen. In diesen Debatten haben die Kandidaten Gelegenheit, einem Mitbewerber direkt Fragen zustellen. Serra mied dabei Dilma ebenso wie umgekehrt, während beide von der Grünen Marina Silva angegangen wurden. So entstand zuletzt der Eindruck, Marina sei die eigentliche Alternative zu Dilma ebenso wie zu Serra.
Die letzte Woche war von der Diskussion um christliche Werte bestimmt: Dilma wurde vorgeworfen, sie sei der „Antichrist“, weil sie für Abtreibung und Homoehe sei, während die Evangelikale Marina Silva in die Ecke fundamentalistischer Gruppen gerückt wurde. So bemühten sich die Kandidaten, noch an ihrem Bild zugunsten eines christlichen Wertefundamentes bei gleichzeitiger Modernität zu feilen. Dilma bekannte am Freitag bei der Taufe ihres Enkels, sie sei Katholikin und stehe zu den Werten der Kirche. Marina Silva erklärte ihre Toleranz gegenüber anderen Lebensformen, nur der bekannt praktizierende Katholik Serra blieb blass in dieser Schlussdebatte.
Noch am Wahltag warben die Kandidaten vor den Wahllokalen trotz Verbotes und versuchten auch anderweitig (z.B. durch Bezahlung) die Wähler zu beeinflussen. Das Oberste Wahlgericht teilte um 19.00 Uhr mit, dass 598 Personen, darunter auch Kandidaten, am Wahltage verhaftet worden sind.
Unsicherheit über den Wert des Wählervotums: „Ficha Limpa“
Eine u.a. von der katholischen Kirche getragene Bürgerinitiative hatte 1,6 Millionen Unterschriften für eine Gesetzesänderung gesammelt, die schließlich am 4. Juni 2010 zu einer Änderung des Wahlrechts führte: Kandidaten ohne saubere Weste („ficha limpa“), also mit einer Verurteilung in den letzten drei Jahren, werden vom Wahlprozess ausgeschlossen. Diese Änderung ist angesichts der bisherigen Verhältnisse nur zu begrüßen und zeigte, dass die Brasilianer immer weniger bereit sind, die Verfehlungen ihrer politischen Klasse zu akzeptieren und die Bürger selbst mehr Verantwortung übernehmen.
Die Frage war nun, ob diese Regelung schon für den aktuellen Wahlprozess angewendet werden kann und soll. Dies wurde vom Obersten Wahlgericht bejaht, obwohl es auch Zweifel daran gab, ob eine Änderung des Wahlverfahrensrechts mitten im Prozess (bis 30. Juni mussten die Kandidaten formell nominiert werden), überhaupt rechtens sein könne. Immerhin hat das geänderte Gesetz eine Debatte über zahlreiche Kandidaturen provoziert und auch zum Rückzug belasteter Personen geführt. Bekanntestes Beispiel war der wegen Bestechung zurückgetretene Ex-Senator und Ex-Gouverneur des Bundesdistrikts Brasília, der sich erneut um das Gouverneursamt in der Hauptstadt bewarb und sogar in den Umfragen führte. Er zog sich im September zurück und schickte seine Ehefrau ins Rennen, verbunden mit dem Versprechen, „jede Minute an ihrer Seite“ zu sein. Sie konnte sich mit über 30 % der Wählerstimmen für die Stichwahl qualifizieren. Dies zeigt, dass Gesetze allein das Problem unlauterer Politiker nicht lösen können. Es handelt sich eben auch um eine politische Kultur, die solche Wahlergebnisse ermöglicht, und die nur durch langfristige politische Bildungsarbeit geändert werden kann.
Da aber die höchstrichterliche Rechtsprechung noch aussteht, ist am Wahltag offen, was mit den 1.248 Kandidaten und vor allem den auf sie entfallenden Wählerstimmen passiert, die trotz unsauberer Weste angetreten sind, weil sie Widerspruch gegen ihren Ausschluss eingelegt hatten. Noch am Freitagabend entschied das Oberste Wahlgericht, die auf diese Kandidaten (Gouverneure, Senatoren und Abgeordnete) entfallenden Stimmen im Internet zu veröffentlich und bis zu einer endgültigen Entscheidung bei der Ermittlung des amtlichen Endergebnisses nicht zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass Millionen von Wählern nicht wissen, was mit ihren Stimmen passieren wird. Die gute Absicht zur Stärkung der demokratischen Kultur führt somit auch zu gegenteiligen Effekten.
Medien als Gegner ?
Präsident Lula, der mehrfach so aktiv in den Wahlkampf zugunsten Dilmas eingriff, dass er zu mehreren Geldstrafen verurteilt wurde, griff zuletzt massiv die Medien an. Sie seien Teil des Wahlkampfes und insbesondere die Zeitungen der großen Mediengruppen (er meinte z.B. Globo, die größte Gruppe in Südamerika) würden gegen Dilma agitieren. Besonders aggressiv wurde er, als ein weiterer Skandal in der Regierung durch die Zeitschrift Veja aufgedeckt wurde, der Klientelismus im Umfeld der Präsidentschaftsministerin Erenice Guerra offenbarte. Sie war lange Jahre die rechte Hand von Dilma Rousseff und wurde im März deren Nachfolgerin in diesem wichtigen Koordinationsministerium. Die Faktenlage über ihre Verstrickungen und Begünstigung zahlreicher naher Verwandter wie Geschwister und Kinder war jedoch so erdrückend, dass sie schließlich am 16. September zurücktrat.
Wenn es auch sicher richtig ist, dass die Sympathien vieler wichtiger Medien nicht bei Lula und Dilma liegen, darf doch Folgendes nicht übersehen werden: Niemand aus der Regierung leugnet noch die Fakten, die zum Rücktritt der Präsidentschaftsministerin geführt haben. Dieselben Medien haben auch den Skandal um das Bestechungssystem im Bundesdistrikt Brasília bekannt gemacht, der schließlich sogar zur Verhaftung des Gouverneurs führte. Dieser gehörte der Partei DEM an, die als wichtigster Bündnispartner von Serras PSDB dadurch nachhaltig geschwächt wurde. Schließlich verfügen Lulas Partner wie Ex-Staatspräsident Sarney ebenfalls über beträchtliche regionale Medienmacht im Norden und Nordosten des Landes, wo die Unterstützung für Lula/Dilma besonders hoch ist.
Die Rolle der Medien in Brasiliens Demokratie ist diskussionswürdig, sie als eine Partei im Kampf um die Macht anzusehen, hieße die Vielfalt der Machtstrukturen des Landes zu ignorieren.
Perspektiven
Die Führung des Landes hängt nun ganz wesentlich von der Wahlentscheidung der heutigen Marina Silva-Wähler ab: Wenn sie in hohem Maße im zweiten Wahlgang für Serra stimmen, ist noch Vieles möglich. Sicher sind viele ihrer Wähler von der ökologischen Politik und den ethischen Standards der Lula-Regierung mit ihren Skandalen enttäuscht und fühlten sich auch nicht von Dilma angezogen. Ob sie deshalb aber einem Kandidaten Serra ihre Stimme geben, scheint sehr ungewiss. Dieser gilt nicht nur als wenig charismatisch, sondern auch eher als Mitte, was viele Linke eher abschrecken dürfte. Am Wahlabend forderte Marina Silva von den beiden Stichwahlkandidaten klare Positionen zugunsten einer ökologischen und nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung ebenso wie einem umfassend verbesserten Bildungssystem.
Es scheint nur klar, dass es spannende vier Wochen bis zur Stichwahl werden, die das Lula-Lager nicht erwartet hatte, nachdem wochenlang die Umfragen einen Sieg für Dilma in der ersten Runde suggerierten. Es wird nun spannend zu sehen sein, ob José Serra seine bisherige Taktik, sich als der bessere Lula-Nachfolger zu präsentieren, beibehalten wird. Dafür wurde er aus dem eigenen Lager heftig kritisiert, das eine klarere Alternative zu Lula/Dilma erwartet.
Insgesamt hat sich gezeigt, dass bei aller möglichen Macht einer möglichen Präsidentin Dilma, Brasilien wohl nicht auf dem Weg in den PT/PMDB-Staat ist, wie mancher brasilianischer Beobachter im Vorfeld vermutete. Wichtige Bundesstaaten mit einem Großteil der Bevölkerung werden von PSDB, DEM und ihren Partnern regiert werden. Für den Senat ist allerdings festzustellen, dass Dilmas Allianz eine eindeutige Mehrheit im Oberhaus des Parlamentes erringen konnte.
Stand: 3. Oktober 2010 Fotos: Alle Peter Fischer-Bollin