Country reports
Im Vergleich zu vielen anderen Ländern hat Brasilien das Jahr 2009 gut überstanden: Die Wirtschaft ist laut IWF-Schätzungen nur um 0,66 Prozent geschrumpft und die Inflation mit 4,5 Prozent für brasilianische Verhältnisse ziemlich gering. Die Zustimmungsraten für Präsident Lula sind außerordentlich hoch und schwanken zwischen 70 und 80 Prozent. Trotzdem hat er der Versuchung widerstanden, eine Verfassungsänderung herbeizuführen, die ihm eine dritte Amtszeit ermöglicht hätte. Das ist ein großer Vorzug im heutigen Südamerika.
Das Kandidatenfeld gewinnt Konturen: Lulas Wunschnachfolgerin
Weil aber natürlich auch Präsident Lula die Regierungsmacht für sich und seine Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) sichern will und soll, hat er seine Nachfolgerin selbst erkoren: Es handelt sich um Dilma Rousseff, die derzeit seine Ministerin mit Zuständigkeit für die Koordination der Regierungsarbeit (Ministra da Casa Civil) ist. Lula hat sie gegen Widerstände in der eigenen Partei und der breiten, rund 11 Parteien umfassenden, Regierungsallianz, durchgesetzt. Als Pluspunkte gelten ihre Regierungserfahrung und das Vertrauen sowie die starke Unterstützung durch Lula. Kritisch ist zu sehen, dass sie noch nie für ein politisches Amt kandidiert hat und es bisher trotz Schönheitsoperation, großer Einweihungsveranstaltungen von Infrastrukturprojekten an der Seite Lulas und anderer Bemühungen nicht geschafft hat, eine eigene Popularität wenigstens im politischen Unterstützerfeld zu gewinnen.
Der Herausforderer
Der bedeutendste Herausforderer ist sicher der Gouverneur des wichtigsten Bundesstaates São Paulo, José Serra, von der oppositionellen, in der Mitte angesiedelten PSDB. Serra verfügt ebenfalls über eine langjährige Regierungserfahrung, die er allerdings überwiegend in Wahlämtern als Oberbürgermeister der Stadt São Paulo und nun als Gouverneur des Bundesstaates gewonnen hat. Er war auch Bundesminister in der Regierung von Fernando Henrique Cardoso (1995-2002, PSDB). Die PSDB hat eine Wahlallianz mit den konservativ-liberalen Democratas (DEM) und der ehemals sozialistischen Partei PPS vorbereitet. Schon relativ schnell war klar, dass der Präsidentschaftskandidat aus der PSDB kommen würde und es bewarb sich offen der populäre Gouverneur des wichtigen Bundesstaates Minas Gerais mit der zweitstärksten Bevölkerung, Aécio Neves. Obwohl Serra es bis heute offiziell ablehnt, seine Kandidatur anzukündigen, weil er Gouverneur sei und sein Amt ausfüllen müsse, kristallisierte sich parteiintern und auch in den Umfrage zu wenig Unterstützung für Neves heraus, als dass dieser seine Forderung nach parteiinternen Vorwahlen hätte durchsetzen können. So verzichtete er kurz vor Weihnachten in einer Pressekonferenz auf seine Kandidatur und kündigte an, sich um einen Sitz im Senat zu bewerben. Obwohl die formellen Nominierungen erst im Juni erfolgen, geht man von der Kandidatur Serras aus, der in diesem Fall bis zum 3. April von seinem Amt als Gouverneur zurücktreten müsste. Die Parteiführung des PSDB, aber ebenfalls der verbündeten DEM, und wohl auch Serra möchten Neves unbedingt als Vizepräsidentschaftskandidat im Tandem mit Serra sehen, um die Unterstützung in São Paulo und Minas Gerais als den beiden bevölkerungsstärksten Bundesstaaten zu sichern. Bisher hat sich Neves strikt dagegen gewandt, ein Umdenken ist jedoch nicht auszuschließen.
Weitere Mitspieler
Als Kandidat angekündigt wurde auch Ciro Gomes von der PSB, die derzeit Teil von Präsident Lulas Regierungsallianz ist. Deshalb ist dort eine weitere Kandidatur, die Dilma Rousseff Stimmen kosten könnte, alles andere als willkommen und Lula arbeitet öffentlich daran, Ciro Gomes von seiner Kandidatur abzubringen und eventuell als gemeinsamen Kandidaten für die sehr wichtige Gouverneurswahl in São Paulo aufzustellen. Dort wird aller Voraussicht nach Geraldo Alckmin als PSDB-Kandidat ins Rennen gehen. Alckmin war als Gouverneur Vorgänger von Serra und verlor 2006 die Präsidentschaftswahlen in der Stichwahl gegen Lula.
Relativ überraschend trat 2009 die frühere Umweltministerin unter Lula, Marina Silva, zuerst aus Lulas PT aus und dann in die Grüne Partei (PV) ein, um als Präsidentschaftskandidatin anzutreten. Sie ist national und international als glaubwürdige Kämpferin für Umwelt- und Klimaschutz anerkannt und ist zunächst keinem der beiden Lager Lula-Dilma-PT oder Serra-PSDB zuzuordnen.
Bestimmende Themen: Die Rolle des Staates bei Wirtschaft und Sozialem
Einige Themen der kommenden Wahlauseinandersetzung zeichnen sich bereits ab: So wird das Regierungsbündnis versuchen, mit seinen sozialpolitischen Programmen zu punkten und bei einem Wahlsieg der Opposition einen Rückfall in den Neoliberalismus mit Streichung der Sozialpolitik anzuprangern. Schon jetzt zeigt sich diese Strategie, die Regierungszeit Lulas mit ihren unbestreitbaren Wachstums- und Entwicklungserfolgen gegen die Regierungszeit seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso (PSDB) zu stellen, die vermeintlich der kalte und unsoziale „Neoliberalismus“ kennzeichne.
Die Arbeiterpartei PT arbeitet bereits an einem Wahlprogramm, dessen erste Fassung jetzt durch die Medien bekannt wurde. Dieses soll in der Partei beraten und schließlich die Basis für die neue Wahlallianz werden. Der PT setzt in diesem Entwurf auf eine stärkere Rolle des Staates nicht zuletzt in der Wirtschaft. Diese soll zu staatlicher Koordination und Leitung, aber nicht zu einer Verstaatlichungspolitik (in Abgrenzung zu Kuba und Venezuela) führen. In dem Entwurf werden Infrastruktur, Energie, Bankwesen oder Kommunikation als „strategische“ Bereiche für die staatliche Steuerung identifiziert.
Die Opposition hat dem bisher noch nicht viel entgegenzusetzen. Es scheint zwar klar zu sein, dass auch in der Sozialpolitik noch viele Verbesserungen möglich und nötig sind, doch überwiegt die Frucht, vom „Großkommunikator“ Lula als unsozial und neoliberal an die Wand gespielt zu werden.
Das staatliche Sozialprogramm „Bolsa Família“ im Vorwahlkampf
Das sehr erfolgreiche Programm verteilt Geldzahlungen an Einkommensschwache, die bestimmte Auflagen im Gesundheitsbereich (Untersuchungen, Vorsorge) und Bildungsbereich (Schulbesuch der Kinder) erfüllen. Es hat mit seinen mittlerweile über 12 Millionen Empfängerfamilien viel Geld und damit Kaufkraft in ärmere Schichten gebracht und auch den Schulbesuch quantitativ deutlich erhöht. Kritik gibt es daran, dass das Bildungs- und Gesundheitssystem nicht verbessert wurden und sich damit die Strukturen für mehr Chancengerechtigkeit für die Bevölkerung nicht verbessert haben. Auch stellt sich die Frage, ob dauerhaft die Ärmeren in Abhängigkeit von staatlichen Zahlungen gehalten werden sollen. Der PT setzt auf weiteren Aufschwung mit neuen Arbeitsplätzen, die dann die Menschen aus den Sozialprogrammen herausführen sollen. Bei der sogenannten „Ausstiegsperspektive“ aus „Bolsa Família“ könnte die Opposition dynamischere Lösungen entwickeln, die die Entwicklungspotenziale und –triebkräfte der Menschen berücksichtigen und ihnen dabei auch mehr Würde lassen.
Eine Instruktion der Regierung an die Gemeinden mit der Aufforderung an die Empfänger der staatlichen Zahlungen, sich erneut in die Register einzuschreiben, sorgte für große Empörung bei der Opposition: Denn dort heißt es auch, dass die Empfänger darauf hingewiesen werden sollen, dass die Zahlungen nach 2011 von den Entscheidungen der Regierung abhingen. Damit werde gezielt Unsicherheit unter Millionen Familien geschürt, obwohl niemand diese Sozialprogramme abschaffen wolle, heißt es aus der Opposition.
Gouverneur Serra profiliert sich derweil damit, in seinem Bundesstaat São Paulo einen höheren Mindestlohn zu haben, als die Regierung Lula ihn landesweit festgesetzt hat. Die Differenzen über die Rolle des Staates sind also nicht unüberbrückbar. Ciro Gomes und Marina Silva sind in diesen Debatten bisher nicht präsent.
Korruption trifft alle
Ursprünglich hatte die Opposition wohl darauf gesetzt, die Regierungsparteien mit der Forderung nach weniger Korruption und mehr Transparenz und Effizienz herauszufordern. Nachdem es in den letzten Jahren zahlreiche Korruptionsskandale in der Regierung gegeben hatte, die von den eher regierungskritischen Medien genüsslich ausgebreitet wurden, traf es aber jetzt die Oppositionsparteien: In der Landesregierung des Bundesdistrikts Brasília (DEM u.a.) wurden mutmaßliche Bestechungszahlungen auf Video aufgenommen und im Abendprogramm des Fernsehens gezeigt. Der Hauptbeschuldigte Gouverneur Arruda räumte keine Verantwortung ein und beharrt bis heute auf seinem Amt. Dem Ausschluss aus seiner Partei DEM kam er im letzten Moment durch Austritt zuvor. Die bekannten Fakten erwecken allerdings den Eindruck, dass er der Pate eines umfassenden Korruptionssystems war, um sich die fehlende Mehrheit im Parlament zu sichern. Dies ist ein bekanntes Muster, weil die Regierenden aufgrund der großen Parteienzersplitterung sehr oft über keine parlamentarischen Mehrheiten verfügen und die Möglichkeiten der Exekutive zum Kauf der Unterstützung nutzen. Dieses Verfahren der regelmäßigen Zahlungen an Abgeordnete wird seit dem großen Skandal auf Bundesebene im Jahr 2005 als „mensalão“ (von: monatliche Zahlung) bezeichnet.
Außenpolitische Differenzen
Deutlich artikuliert werden die Differenzen in der Außenpolitik, die allerdings wohl keinen wahlentscheidenden Einfluss haben werden. Immerhin ist die zunehmende Globalisierung Brasiliens mit seiner wachsenden Mittelschicht Grund für ein erhöhtes Interesse an außenpolitischen Fragen. Hier kritisiert die Opposition die Anlehnung der Regierung Lula an die linkspopulistischen Regierungen Lateinamerikas im Schlepptau des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Konkret war man gegen die Aufnahme Venezuelas unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen in den Mercosur, was Lula aber noch vor dem Jahresende 2009 durch den Senat geboxt hat, immerhin mit Unterstützung der großen brasilianischen Unternehmen mit Wirtschaftsinteressen im Ölland Venezuela, was nicht ganz zum Bild des „linken“ Präsidenten und der „rechten“ Opposition passt. Aber auch Brasiliens Verhalten in der Krise nach der Absetzung des honduranischen Staatspräsidenten Zelaya mit der schließlichen Aufnahme Zelayas in der brasilianischen Botschaft in Tegucigalpa wird von der Oppositon kritisiert. Der PT wirft wiederum Gouverneur Serra vor, mindestens indirekt den „Putsch“ in Honduras unterstützt zu haben. Der enge Kontakt Lulas mit dem Holocaustleugner und Atomförderer Ahmadineschad aus dem Iran ist eine weitere Zielscheibe der Kritik. Ingesamt wirft man Lula eine Parteipolitisierung der Außenpolitik vor. Dieser Eindruck wird durch den Programmentwurf des PT verstärkt, der die Einrichtung eines „Nationalen Rates für Außenpolitik“ vorsieht. Dieser soll als „Konsultationsorgan mit gesellschaftlicher Beteiligung“ die Außenpolitik Brasiliens neben dem traditionsreichen und starken Außenministerium Itamaraty begleiten und beeinflussen.
Schwierige Allianzbildung
Da im brasilianischen Wahlsystem die Wahlallianzen verschiedener Parteien zur Unterstützung eines Kandidaten für das Präsidenten- oder Gouverneursamt schon drei Monate vor der Wahl verbindlich geschlossen werden müssen, bestimmt dieses Thema derzeit die Agenda. Es handelt sich dabei um einen komplexen und teilweise unübersichtlichen Prozess, da es weit über 20 Parteien gibt, die in der Bundes- und Landespolitik vertreten sind, allein 11 gehören der derzeitigen Regierungsallianz von Präsident Lula an. Die Tatsache der Wahl aller Spitzenämter am gleichen Tag erschwert die landesweite Formierung von Allianzen weiter, weil sich auf Bundesebene und in den 27 Bundesstaaten ganz unterschiedliche Bündnisse entwickeln. Insbesondere die größte und stärkste, aber inhaltlich profillose, Partei Brasiliens PMDB ist dabei als Partner auf allen Ebenen von allen Seiten umworben. Ihre nicht erkennbare Programmatik erleichtert einerseits Allianzen auf Bundesebene oder in wichtigen Staaten wie Rio de Janeiro (16 Mio. Einwohner) mit Lulas PT, während andererseits in São Paulo (40 Mio. Einwohner) oder Rio Grande do Sul (11 Mio Einwohner) PMDB wahrscheinlich gemeinsame Kandidaten mit PSDB aufstellen wird.
In Rio sieht es derzeit danach aus, als werde Fernando Gabeira von der Grünen Partei (PV), unterstützt von der Bundesopposition PSDB, DEM und PPS den Amtsinhaber Sérgio Cabral von der PMDB herausfordern. Erst kürzlich konnte Präsident Lula mit einer enormen Kraftanstrengung verhindern, dass seine PT einen eigenen Kandidaten zusätzlich aufstellt.
Diese wenigen Beispiele zeigen die Unübersichtlichkeit der politischen Fronten, die es auch den Wählern erschweren dürfte, sich für einen klaren politischen Kurs auszusprechen.
Der Zeitplan 2010
Die Wahlen des Staatspräsidenten, eines Teils der Senatoren, aller Bundesabgeordneten, aller Gouverneure (Ministerpräsidenten) und aller Landtagsabgeordneten findet am 3. Oktober 2010 statt. Beim Staatspräsidenten und den Gouverneuren ist eine absolute Stimmenmehrheit für den Wahlsieg im 1. Wahlgang erforderlich. Da dies in den meisten Fällen unwahrscheinlich sein dürfte, ist von zahlreichen Stichwahlen am 31. Oktober auszugehen. Sechs Monate vor dem Wahltermin, also am 3. April, müssen alle Inhaber öffentlicher Ämter diese niederlegen, falls sie als Kandidaten bei den Wahlen antreten. Dies gilt für alle derzeitigen potenziellen Präsidentschaftskandidaten. In der Regierung treten in diesen Tagen bereits die ersten Minister aus diesem Grund zurück und es wird mit einem Ausscheiden von rund ¾ der Regierungsmitglieder ausgegangen. Zwischen dem 10. und 30. Juni müssen die Parteitage zur Kandidatennominierung und dem Abschluss von Wahlallianzen stattfinden.
Hugo Chávez und die Perspektiven
Lulas Kandidatin Dilma Rousseff bekam in diesen Tagen auch noch die Unterstützung des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Ob sie mit dessen Empfehlung, sie statt der brasilianischen Rechten, die das Land wieder dem Imperium unterwerfen wolle, zu wählen, richtig glücklich ist, bleibt offen.
Unabhängig davon weisen die aktuellen Meinungsumfragen einen deutlichen Vorsprung von Gouverneur José Serra (PSDB) aus, der gegenüber Dilma Rousseff (PT) zuletzt allerdings etwas geschmolzen ist. Die weiteren möglichen Kandidaten (Marina Silva, Grüne / Ciro Gomes, PSB) liegen weit dahinter. Angesichts der noch nicht einmal erfolgten parteiinternen Nominierungen sind solche Umfragen allerdings mit Vorsicht zu genießen. Außerhalb der großen urbanen Zentren und ihrer Medien ist der Wahlkampf bei der Bevölkerung noch überhaupt kein Thema. Inhaltlich werden sich die Frontlinien sicher auch erst nach der Nominierung der Kandidaten und Formierung der Allianzen herausbilden. Bisher liegt der Fokus der öffentlichen Diskussion auf den Kandidaturen für das Präsidentenamt.