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Superwahljahr 2022: Kandidaten und Wählerabsichten

Stand: November 2022

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Brasilien hat am 30. Oktober eine historische Wahl erlebt, bei der zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein amtierender und ein ehemaliger Präsident gegeneinander antraten. Zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang lag ein erbitterter Wahlkampf, bei dem das Maß an Anschuldigungen, Beleidigungen und Verleumdungen des jeweiligen Gegners auf beiden Seiten in die Höhe getrieben wurde. Aus der Stichwahl ging schließlich Luiz Inácio „Lula“ da Silva (Partido dos Trabalhadores, PT) mit 50,90 % denkbar knapp als Sieger hervor. Sein Gegenkandidat, der amtierende Staatspräsident Jair Messias Bolsonaro (Partido Liberal, PL), erreichte 49,10 %, was einen Unterschied von 2,1 Millionen Stimmen ausmacht. Lula war mit dem Wahlkampfslogan „O Brasil feliz de novo“ (Brasilien wieder glücklich) angetreten, aber ob seine Wahl dem polarisierten Land, das mit einer hohen Staatsverschuldung, Armut sowie Problemen im Gesundheits- und Bildungssektor kämpft, helfen wird, bleibt abzuwarten. Ebenso, ob es zu einer friedlichen Amtsübergabe kommt. Insgesamt ist festzustellen, dass von den 27 Bundesstaaten 14 an das Bolsonaro-Lager gingen und 13 an Lulas. Krawalle blieben am Wahlabend aus, allerdings kam es am Tag nach der Wahl zu Straßenblockaden von Lastwagenfahrern, die Bolsonaro nahestehen.

In den Wahlumfragen von Dezember letzten Jahres bis zum ersten Wahlgang am 2. Oktober hatte sich eine schrittweise Verringerung des Abstands zwischen Lula und Bolsonaro abgezeichnet. Auch wenn Optimisten sogar von einem Sieg Lulas im ersten Wahlgang ausgingen, hat sich tatsächlich die frühere Prognose einer Stichwahl am 30. Oktober in Brasilien bestätigt. Lula verfehlte mit 48,43 % der Stimmen und einem Triumph in 14 der 27 Bundesstaaten knapp die absoulte Mehrheit im ersten Wahlgang. Bolsonaro erhielt 43,20 % und führte in 13 Bundesstaaten. Damit war der Abstand deutlich geringer, als in den letzten Umfragen pronostiziert. Simone Tebet (Movimento Democrátcio Brasileiro - MDB) landete überraschend auf dem dritten Platz (4,16 %), gefolgt von Ciro Gomes der Partido Democrático Trabalhista (PDT) mit 3,04 %. Soraya Thronicke von der União Brasil erreichte mit 0,51 % der Stimmen den vierten Platz, Felipe D'Avila (Novo) den fünften mit 0,47 %. Alle anderen Kandidaten erhielten weniger als 0,1 % der Wählergunst.

In den vergangenen Monaten hat Bolsonaro seine Beliebtheitswerte gesteigert. Die Verbesserung der makroökonomischen Werte, die Senkung der Treibstoffpreise sowie die Erhöhung der Sozialleistungen wirkten sich ebenso auf das Ergebnis aus. Seit August erhielten mehr als zwei Millionen Familien Subventionen in Form des Auxilío Brasil, eine monatliche staatliche Auszahlung an Bedürftige, deren Betrag von R$400 (zirka 80 Euro) auf R$600 (zirka 120 Euro) erhöht wurde. Dies wurde im Rahmen der Verfassungsänderung (PEC) 1/2022 beschlossen (weiterführende Informationen hierzu in unserem Länderbericht).

Top-Kandidaten

Im Folgenden stellen wir die Anwärter für die brasilianische Präsidentschaft und Vizepräsidentschaft kurz vor. Sie wurden zwischen dem 20. Juli und 5. August von ihren Parteien offiziell nominiert und vor dem  15. August beim Obersten Wahlgerichtshof TSE registriert. Am 2. Oktober traten sie zur Wahl an. 

Eine detaillierte Übersicht der Regierungspläne der führenden Kandidaten können Sie hier aufrufen.

Lula da Silva (Partido dos Trabalhadores - PT) und Geraldo Alckmin (Partido Socialista Brasileiro - PSB)

Lula ist ehemaliger Gewerkschaftsführer und Politiker. 2003 bis 2010 bekleidete er das Amt des Präsidenten. 2018 war ihm die Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen untersagt, da er vom damaligen Bundesrichter Sérgio Moro in der Korruptionsaffäre "Lava Jato" wegen Geldwäsche und passiver Korruption zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Die brasilianische Gesetzgebung verbietet die Kandidatur vorbestrafter Anwärter. Da die Verurteilung 2021 aufgehoben wurde, kann Lula dieses Jahr wieder kandidieren. Sein Image und das seiner Partei litten jedoch unter den Korruptionsermittlungen innerhalb der PT und der medialen Aufmerksamkeit in diesem Themenbereich sehr. Darüber hinaus ist auch die Kandidatur des ehemaligen PSDB-Präsidenten Geraldo Alckmin (PSB) für das Amt des Vizepräsidenten aufgrund seiner ideologischen Ausrichtung innerhalb der PT umstritten. Lula und Alckmin waren im Rennen um das Präsidentenamt Rivalen. Zwischen 1998 und 2014 stellten die PT und PSDB traditionelle die Spitzenkandidaten.

Lula wird außerhalb seines Parteiverabands von André Janones (Avante), der daher seine Kandidatur im Rennen um das Präsidentschaftsamt am 4. August aufgab, und Flügeln der Parteien des politischen Zentrums unterstützt.

Jair Bolsonaro und General Walter Braga Netto (Partido Liberal - PL)

Jair Bolsonaro ist der amtierende Präsident Brasiliens. Zuvor war er fast 20 Jahre nationaler Abgeordneter. In den 1970er und 80er Jahren diente er im brasilianischen Heer. 2018 gewann er die Präsidenschaftswahlen als Kandidat der PSL (Partido Social Liberal - Sozial-liberale Partei), wechselte jedoch vergangenes Jahr zur PL. Seine Amtszeit ist insbesondere aufgrund der hinkenden Reformvorhaben, des Pandemiemanagements und seiner menschenfeindlichen und polemischen Äußerungen umstritten. Bolsonaro stellt unter anderem die Sicherheit der elektronsichen Wahlurnen infrage. General Walter Braga Netto, der seit März Mitglied der PL und ehemaliger Verteidigungsminister ist, kandidiert für das Amt des Vizepräsidenten. Der aktuelle Amtsinhaber General Hamilton Mourão stellt sich nicht zur Wiederwahl. Die Zusammensetzung der Kandidatenliste spiegelt den wachsenden Einfluss des Militärs in der Exekutiven in den vergangenen vier Jahren wieder.

Ciro Gomes und Ana Paula Matos (Partido Democrático Trabalhista - PDT)

Ciro Gomes ist ehemaliger Gouverneur des Bundestaates Ceará, ehemaliger Minister für Nationale Integration, Anwalt und Universtitätsdozent. 2018 kandidierte er zum dritten Mal für das Amt des Präsidenten - zuvor hatte er sich 1998 und 2002 auf das Amt bewoerben - und erreichte mit 12,47 Prozent den dritten Platz im ersten Wahlgang. Ciro ist politisch Mitte-links zu verordnen. Seine größte Herausforderung ist es sich von anderen Kandidaten dieses politischen Spektrums abzuheben und Allianzen zu bilden.

Für die Vizepräsidentschaft kandidiert Ana Paula Matos, stellvertretende Bürgermeisterin von Salvador. Als Afrobrasilianerin und Politikerin verkörpert sie den Kampf gegen strukturellen Rassismus und Machismo.

Simone Tebet (Movimento Democrático Brasileiro - MDB) und Mara Gabrilli (Partido da Social Democracia Brasileira - PSDB)

Simone Tebet ist gegenwärtig Senatorin für die MDB. Davor war sie nationale Abgeordnete, Bürgermeisterin von Três Lagoas und Vizegouverneurin von Mato Grosso do Sul. 2021 stach sie durch ihre federführende Rolle in der parlamentarischen Aufklärungsarbeit hinsichtlich des Pandemiemanagements und Machismo im Senat hervor. Sie ist die Kandidatin des so genannten "Dritten Weges" und wird neben der MDB vom Parteienverband PSDB-Cidadania unterstützt. Tebet setzt sich für Gleichstellung, Armutsbekämpfung und Sozialpolitik ein. Für das Amt der Vizepräsidentin kandidiert Mara Gabrilli (PSDB). Sie vertritt seit 2011 den Bundesstaat São Paulo im Senat, war Stadträtin, Sekretärin für Menschen mit Behinderung und eingeschränkter Mobilität in São Paulo und ist seit 2004 Mitglied ihrer Partei. Seit 2018 vertritt Gabrilli Brasilien im Kommittee für die Rechte von Menschen mit Behinderung der Vereinten Nationen. Sie ist seit 1984 infolge eines Autounfalls gelähmt.

Luiz Felipe D’Avila und Tiago Mitraud (Novo)

Luiz Felipe D'Avila gehört derzeit der rechtsliberalen Partei Novo an.  Er ist ein Geschäftsmann aus São Paulo, der aus einer Familie mit einer politischen Tradition stammt. Er gründete das Zentrum für Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung (CLP), eine Organisation, die sich der Weiterbildung von Führungskräften in der Politik und öffentliche Verwaltung widmet. Er koordinierte das Programm des ehemaligen Gouverneurs Geraldo Alckmin im Wahlkampf 2018, damals noch sein Parteifreund (PSDB). Für das Amt des Vizepräsidenten kandidiert der Abgeordnete Tiago Mitraud, Fraktionschef von Novo. D'Avila und Mitraud werben in ihrer Kampagne für eine liberale Wirtschaftspolitik, Verwaltungsreform und den Rückzug des Staates aus der Privatwirtschaft.

José Maria Eymael und João Barbosa Bravo (Democracia Cristã - DC)

Der Gründer und Vorsitzende der Christdemokraten war von 1986 bis 1995 nationaler Abgeordneter für São Paulo und bewarb sich schon fünf Mal auf das Präsidentenamt (1998, 2006, 2010, 2014 und 2018). In seinem Diskurs beruft er sich vor allem auf die Familie, das Schaffen von Arbeitsplätzen und Wohnraum in Brasilien. In seiner Wählerschaft befinden sich vor allem Protestanten. Der Ökonom João Barbosa Bravo kandidiert für das Amt des Vizepräsidenten.

 

Léo Pericles und Samara Martins (Unidade Popular - UP)

Léo Péricles ist der einzige afrobrasilianische Kandidat für das Präsidentschaftsamt. Samara Martins, die für die Vizepräsidentschaft kandidiert, und er sind Mitglieder der sozialistischen Partei Unidade Popular (UP) und setzen sich für die Verstaatlichung des Transport- und Bankensystems ein sowie eine Agrarreform, die den privatwirtschaftlichen Monopolen ein Ende setzen soll.

Pablo Marçal und Fátima Pérola Negra (Republicano da Ordem Social - Pros)

Pablo Marçal ist ein Unternehmer und politischer Outsider, der Jura studiert hat und bisher keine Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung gesammelt hat. Seine Partei Pros unterstütze mehrheitlich die Vorhaben der Regierung von Jair Bolsonaro im Kongress. Fátima Pérola Negra, die Vizepräsidentin werden möchte, ist Polizistin von Beruf.

Kelmon Luís und Luiz Claudio Gamonal (Partido Trabalhista Brasileiro - PTB)

Kelmon Luís, der sich als Pfarrer der römsich-orthodoxen Kirche ausgibt und bereits im Konflikt mit traditionellen Quilombola-Gemeinschaften stand, kandidiert für die Präsidentschaft für die Partei PTB. Mit ihm tritt Pasoter Luiz Claudio Gamonal zur Wahl an. Roberto Jefferson, der eigentliche Spitzenkandidat der Partei, darf eines Beschluss des Obersten Wahlgerichts TSE zufolge nicht mehr kandidieren. Jefferson ist Anwalt und ehemaliger Abgeordneter. 2012 wurde ihm sein Amt wegen Korruption und Geldwäsche entzogen. Vier Jahr später wurde er begnadigt. Seit August 2021 befindet er sich wegen Hetze gegen demokratische Institutionen im Internet in Untersuchungshaft. Obwohl er bis Dezember 2023 keine politschen Ämter ausüben darf, ernannten ihn die PTB zum Kandidaten. Seine Partei vertritt nationalistische und konservative Werte und ist Verfechter eines starken Militärs.

Sofia Manzano und Antonio Alves (Partido Comunista Brasileiro - PCB)

Die Ökonomin Sofia Manzano und der Gewerkschaftler Antonio Alves kandidieren für die kommunitische Partei PCB. Manzano forschte im Bereich soziale Ungleichheit in kapitalistischen Systemen und engagierte sich für sozial benachteiligte Jugendliche und in afrobrasilianischen Bewegungen. Alves war bisher aktiv in diversen Gewerkschaften und Gremien, arbeitete als Sozialarbeiter und Journalist und ist langjähriges Mitglied der PCB.

Soraya Thronicke und Marcos Cintra (União Brasil)

Die Senatorin Soraza Thronicke und der ehemalige Abgeordnete Marcos Cintra kandidieren für die União Brasil. Ursprünglich hatte der Parteichef Luciano Bivar für seine Kandidatur geworben, zog diese aufgrund der geringen Gewinnchancen jedoch wieder zurück. Die União Brasil hat keine klare ideologische Ausrichtung. Sie entstand aus der Fusion der Democratas (DEM) und Partido Social Liberal (PSL). Letztere ermöglichte Bolsonaro 2018 den Einzug in den Präsidentenpalast.

Vera Lúcia und Kunã Yporã (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificado - PSTU)

Die ehemalige Fabrikarbeiterin Vera Lúcia und die Indigene Kunã Yporã kandidieren für die sozialistische Arbeiterpartei PSTU. Dabei handelt es sich um die zweite Kandidatenliste, an deren Spitze zwei Frauen stehen. Lúcia ist Afrobrasilianerin und Sozialwissenschafterin und kandidierte bereits für mehrere politische Ämter (Bürgermeistern, Abgeordnete, Gouverneurin, Präsidentin). Yporã, auch bekannt unter dem Rufnamen Raquel Tremembé, ist Dozentin und Aktivistin.

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