Die Erwartungen an den NATO-Gipfel waren im Vorfeld groß, was auch mit der erstmaligen Teilnahme von US-Präsident Joe Biden zurückzuführen war. Doch ist die NATO mehr als nur politische Einzelfiguren. Eine starke gegenseitige Unterstützung ist von großer Bedeutung. Wie sind die Ergebnisse im Nachgang also zu bewerten und wohin wird die NATO zukünftig steuern? Wenige Tage nach dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedsländer hat Dr. Hardy Ostry, Leiter des Europabüros der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Thomas de Maizière MdB, Bundesverteidigungsminister a.D. und Ko-Vorsitzender der NATO2030 Expertengruppe, und Botschafter Rüdiger König, Ständiger Vertreter Deutschlands bei der NATO, virtuell nach Brüssel eingeladen, um mit ihnen gemeinsam unter der Moderation von Nils Wörmer, Leiter Internationaler Politik und Sicherheit bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin, über den Gipfel und seine Perspektive zu diskutieren.
Die NATO hat einen vielversprechenden Transformationsprozess eingeleitet. Ob vor diesem Hintergrund jedoch von einem Wiedererstarken oder gar einer Wiedergeburt des Bündnisses gesprochen werden, kann bleibt vorerst abzuwarten, schließlich kommt es auf die Umsetzung der gesteckten Ziele an. Auf politischer Seite ist es der selbst ernannte Anspruch des Bündnisses, demokratische Werte zu fördern sowie Mitgliedsstaaten die Möglichkeit zu bieten, multilateral über Verteidigungs- und Sicherheitsfragen zu beratschlagen, zu kooperieren, um Probleme zu lösen, Vertrauen zu schaffen und langfristig Konflikte zu vermeiden. Botschafter König sieht die zentralen Herausforderungen für die Kohäsion der Allianz vor allem dort liegen, dazu im politischen Bereich und in der Wertebindung. Schließlich würden die europäischen, westlichen und demokratischen Werte am stärksten von denjenigen bedroht, die sie nicht teilen. Bündnisse können dabei als Garanten für Frieden dienen, aber nur, wenn diese Bündnisse stark und ihre Werte von den Beteiligten einheitlich geteilt, gestützt und umgesetzt werden. Dabei gehe es nicht um die Identifizierung eines gemeinsamen Feindes. Deshalb sei es auch nicht das Ziel des Bündnisses, China eine Feindesrolle zuzuschreiben, betonte de Maizière. Dieser Eindruck sei im Vorfeld des Gipfels fälschlicherweise von den Medien, aber auch in diversen Berichten zu stark in diese Richtung kommuniziert worden. Vielmehr solle China als Konkurrent und nicht als Feind angesehen sowie der Dialog in Bezug auf Rüstungskontrolle und Handel intensiviert werden, so de Maizière weiter.
Die Gipfelentscheidungen, basierend auf den Kernüberlegungen des NATO2030 Reflexionsprozesses, die politischen Konsultationen weiter auszubauen und zu vertiefen, seien daher von besonderer Bedeutung, so Botschafter König. Ko-Vorsitzender der NATO2030 Expertengruppe de Maizière dämpfte an dieser Stelle die medial vielfach aufgebauschten Erwartungen gemäß der Lesart „NATO is back“. Davon auszugehen sei genauso falsch wie die Bemerkung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der das transatlantischen Bündnis als „hirntod“ bezeichnete, überzubewerten. „Das eine war übertrieben und das andere ist überschätzt. Die Wahrheit liegt so ein bisschen dazwischen“, fasste de Maizière zusammen.
Es gilt nun, ein neues strategisches Konzept innerhalb eines Jahres auszuarbeiten, was laut der Sprecher zwar „sportlich“, dennoch aber machbar sei. Der nächste NATO-Gipfel wird 2022 in Madrid stattfinden. Die Weichen für das neue Konzept, oder eher, wie de Maizière betonte, das „nächste“ Konzept – das strategische Konzept von 2010 solle lediglich weitergeführt und ausgearbeitet werden – sind nun gestellt. Macrons Bemerkung sei eine hilfreiche Provokation auf diesem Weg gewesen, ist sich de Maizière sicher.
Wenngleich die USA mit US-Präsident Joe Biden vermeintlich „zurück“ sind und den transatlantischen Beziehungen mehr Stellenwert einräumen, so warnte de Maizière davor, allzu sehr in Euphorie zu verfallen.. Der neue Präsident mag im Gegensatz zu seinem Vorgänger zwar ein großer Unterstützer sein, dennoch dürfe man dies nicht zu naiv betrachten. Auch für Biden stünden amerikanische Interessen im Vordergrund. Ein hinter verschlossenen Türen stattgefundenes Gespräch zwischen Biden und dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, bewertete der US-Präsident im Anschluss als „gut“. Diese Tatsache lässt einen kleinen Hoffnungsschimmer auf Besserungen der seit Jahren schwierigen, aber für das Bündnis wichtigen Türkei-USA Beziehungen aufflackern.
Was bleibt ist die Hoffnung, dass nationale Alleingänge fortan der Vergangenheit angehören und der Fokus zukünftig vermehrt auf eine starke, resiliente und gemeinsame Zusammenarbeit gerichtet wird. Nur so wird die NATO ihrem Selbstverständnis als Friedensbewahrerin und Verteidigungsgemeinschaft in den nächsten Jahren gerecht werden können, um den Herausforderungen von morgen schon heute zu begegnen.