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Der streitbare Bürger, Katholik und Bildungspolitiker Hans Joachim Meyer zieht Bilanz

Hans Joachim Meyer: In keiner Schublade – Erfahrungen im geteilten und geeinten Deutschland, Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2015, 775 Seiten, 36,00 Euro.

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Hans Joachim Meyer hat seiner Autobiografie den Titel „In keiner Schublade“ gegeben. Hier schreibt ein Laienchrist, der in der Tat in keine der üblichen Schubladen passt, dessen Erfahrungen im geteilten Deutschland zwar Erfahrungen in der damaligen DDR waren, aber Erfahrungen, die mit präzisen Kenntnissen der kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in der damaligen Bundesrepublik Deutschland verknüpft waren. Das war ungewöhnlich, denn die Unterdrückung durch das staatliche Unrechtssystem sorgte in der Regel dafür, dass katholische Laienchristen in der DDR nur sehr begrenzt über Gesellschaft, Kirche und Politik in ganz Deutschland Bescheid wussten.

Die nach der Wiedervereinigung um sich greifende Unterscheidung nach „Wessis“ und „Ossis“ perlte gleichsam an ihm ab. Hans Joachim Meyer lebte und wirkte zwar in der DDR, aber er war vor allem ein überzeugter, bestens informierter und kompetenter Christ. Und er war ein deutscher Bürger, der seine kirchliche, gesellschaftliche und politische Verantwortung sah und diese unter den Bedingungen des Unrechtssystems wahrnahm. Im herrschenden Unterdrückungssystem zeichnete er sich durch eine überragende Souveränität aus. Deshalb spielte er auch eine einzigartige Rolle im Prozess der Wiedervereinigung – als Minister für Bildung und Wissenschaft der letzten DDR-Regierung, als Minister für Wissenschaft und Kunst in Sachsen und als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK).

Präsident des ZdK war er von 1997 bis 2009. Etwa ein Viertel des letzten halben Jahrhunderts hatte also ein Laienchrist, der aus der DDR kam, dieses Amt inne. Die Lektüre der Biografie zeigt, warum dies ein ganz normaler Sachverhalt ist. Meyer hatte sich schon in jungen Jahren kirchlich engagiert: Er arbeitete in der katholischen Studentengemeinde und in der Pfarrgemeinde mit; er war Pfarrgemeinderat, Dekanatsrat, Vorstandsmitglied des Berliner Pastoralrats und gewähltes Mitglied der Dresdner Pastoralsynode (1973 bis 1975) – das war für ihn „eine kostbare und weiterwirkende Lektion in praktizierter Freiheit“ (S. 26). Ferner engagierte er sich im Prozess der „Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ (1988 bis 1989) und leistete einen entscheidenden Beitrag zum Wiedererstehen einer katholischen Laienbewegung im östlichen Teil Deutschlands während der „Zeit des großen Umschwungs in das vereinte Deutschland“ (S. 10). Und nicht zuletzt war er 1990 Vorsitzender des „Gemeinsamen Aktionsausschusses katholischer Christen in der DDR“. Das alles sind Stationen auf einem Weg, den Meyer mit allen seinen Schwierigkeiten und Chancen schildert, „ein Weg aus der ostdeutschen christlichen Diasporasituation in die sich verschärfende christliche Diaspora in der bundesdeutschen Gesellschaft“ (S. 11), ein Weg, der schließlich in das Zentralkomitee der deutschen Katholiken mündet. Die Autobiografie ist eine spannende, umfassend informierende Schilderung dieses christlichen Lebensweges und dabei ein Beitrag zur Kirchengeschichte unseres Landes.

Beeindruckend ist auch sein „politischer Werdegang“: 1952 trat er der CDU der DDR bei, in der Hoffnung, eine Möglichkeit zur verändernden Mitarbeit zu finden. Dann – ab 1955 – studierte er Rechts- und Staatswissenschaft in Potsdam-Babelsberg – in der naiven Annahme, ein praktizierender Katholik könne in der DDR ein solches Studium abschließen. 1958 erfolgte die Exmatrikulation aus politischen Gründen. Meyer wurde zur

„Bewährung in die Produktion“ geschickt. Dort verdiente er als Hilfsarbeiter im Lokomotivbau seinen Lebensunterhalt. Seit 1959 studierte er Anglistik und Geschichte, nunmehr an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dann – 1961 – trat er aus der CDU aus. Im selben Jahr – zwei Wochen vor dem Mauerbau – heiratete er. Verwurzelt in dieser ehelichen Partnerschaft mit seiner Frau Irmgard und der daraus wachsenden Familie, wirkte er in den kommenden Jahren gesellschaftlich und politisch, engagierte sich weiter im kirchlichen Bereich.

Die Lektüre der Biografie vermittelt einen guten Einblick in das Wachsen der politischen Überzeugungen und Orientierungen des Autors. Seine Distanz zur staatlich verordneten Ideologie und sein kirchliches Engagement schufen die Basis für sein Handeln aus politischer Verantwortung, das 1989/90 möglich und erforderlich wurde.

 

Geheime Treffen mit den Bischöfen

1990: Aufruf des „Gemeinsamen Aktionsausschusses katholischer Christen in der DDR“ zur Volkskammerwahl am 18. März. Der Text stammte im Wesentlichen aus der Feder von Meyer und ist auch heute noch lesenswert. Schließlich die „Berliner Erklärung deutscher Katholiken: Für eine gemeinsame Zukunft in Deutschland, in Europa und in der Einen Welt“, die am 23. Mai 1990 vor Beginn des Katholikentages von der Vollversammlung des ZdK und von Mitgliedern des Gemeinsamen Aktionsausschusses katholischer Christen in der DDR sowie Vertretern des Laienapostolats aus den Jurisdiktionsbezirken der Berliner Bischofskonferenz beschlossen wurde. Am 1. März 1990 nahm Meyer mit weiteren Vertretern des Gemeinsamen Aktionsausschusses „zum ersten Mal an der zum letzten Mal stattfindenden sogenannten ‚Dienstbesprechung‘ teil, jenem klandestinen, aber dem MfS natürlich nicht verborgen gebliebenen, regelmäßigen Treffen von Spitzen des ZdK mit Bischöfen aus der DDR in Ost-Berlin“ (S. 60). Diese „Dienstbesprechung“ diente als Ersatz für die aus politischen Gründen jahrzehntelang nicht mehr praktizierte ostdeutsche Mitgliedschaft im ZdK, obwohl sich dieses nach wie vor als gesamtdeutsche Einrichtung verstand. Mit der Gründung freier Initiativen katholischer Laienarbeit und ihrem politischen Wirken waren die „Dienstbesprechungen“ Geschichte.

Bis Meyer formulieren konnte: „Salopp gesagt, war ich nun für eine bessere Bundesrepublik“ (S. 108), ehe die Entscheidung, zur „asymmetrischen Einheit“ getroffen werden konnte (S. 167) und die DDR der Bundesrepublik beitrat, waren einander widerstreitende Überlegungen und schwierige Diskussionen zu bewältigen. „Von Einheitstraum zum Beitritt“, so beschreibt er diese Entwicklung, die er tatkräftig mit beförderte. Er tat dies in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs an der Humboldt-Universität zu Berlin, am zentralen Runden Tisch und als letzter Minister für Bildung und Wissenschaft einer DDR-Regierung unter Lothar de Maizière. Als Ergebnis sieht er: „Das Gemeinsame wächst doch. Es gab keinen Weg, der Asymmetrie des Einigungsprozesses zu entkommen“ (S. 209).

Das Wirken von Meyer als Minister für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen füllt die Hälfte der umfangreichen Biografie und lässt sich auf knappem Raum kaum hinreichend würdigen. Eine befriedigende Würdigung setzt auch eine größere Nähe zu Sachsen voraus. Hinzu kommt, dass Meyers zwölf Jahre in Sachsen wegen ihrer Erfolge und Misserfolge Jahre ausgesprochenen Streits waren, im Kabinett und in der Fraktion, auf dem Feld der Hochschulpolitik, der Bildungspolitik und der Kulturpolitik. Aber: „Politik ist Konflikt. Wer konfliktscheu ist, sollte nicht in die Politik gehen“ (S. 548), schreibt der Minister. So sind auch seine Berichte – überwiegend Schilderungen politischen Handelns in Konflikten und Auseinandersetzungen – so spannend zu lesen, dass man unwillkürlich den Wunsch verspürt, alle Beteiligten zu Streitgesprächen einzuladen, damit die erzählte Geschichte noch lebendiger wird. Trotzdem wird deutlich, welche politischen Leistungen in diesen Jahren in Sachsen erbracht wurden.

 

„Sich wechselseitig wertschätzende Igel“

Kurt Biedenkopf hat Hans Joachim Meyer nach Sachsen geholt, nachdem jener selbst frühzeitig in Sachsen politisch Fuß gefasst hatte und sich anschickte, sein politisches Wirken in der alten Bundesrepublik durch das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten zu krönen – ein Wirken, das durch überzeugende Leistungen und personell widrige Umstände gekennzeichnet war. „Für Sachsen war Biedenkopf jedenfalls ein Glücksfall. Wie denn auch Sachsen für Biedenkopf ein Glücksfall war“, schreibt Meyer (S. 215). Er würdigt ausdrücklich die geschichtliche Leistung Kurt Biedenkopfs und stellt fest: „Ich bin davon überzeugt, dass diese Zeit in der Geschichte mit dem Namen Kurt Biedenkopf verbunden bleibt“ (S. 617). Allerdings legt er auch Wert auf die Feststellung, dass „unsere Beziehung nie den Punkt verlässlicher Vertraulichkeit erreichte, sondern eher dem Verhältnis sich wechselseitig wertschätzender Igel glich“ (S. 560).

Entscheidender Widerpart wurde der Finanzminister, der „Münsteraner Stadtkämmerer Prof. Georg Milbradt“, den Biedenkopf ebenfalls nach Sachsen geholt hatte. „Für die kommenden fünfzehn Jahre sollte er, zunächst neben Biedenkopf und dann nach ihm, die bestimmende Figur für Sachsen werden, jedenfalls, was die finanziellen Rahmenbedingungen der Politik betrifft, aber nach seinem Willen auch für deren Inhalt. Damit wurde er ganz zwangsläufig zu meinem eigentlichen Gegenspieler …“ (S. 227). Bei allen selbstverständlichen Auseinandersetzungen mit anderen Kollegen im Kabinett und bei allen „Igeleien“ mit dem Ministerpräsidenten spielte sich der politische Streit hauptsächlich zwischen Meyer und Milbradt ab. Trotzdem findet Meyer würdigende Worte über die unverkennbaren Leistungen Milbradts. Beim Ausscheiden aus dem Ministeramt meinte Ministerpräsident Georg Milbradt, Meyer „sei der härteste Partner gewesen, mit dem er es in seinem politischen Leben zu tun gehabt hätte“. Für Meyer war das, wie er schreibt, „mehr als ein Orden“ (S. 609).

Meyer schließt seine Autobiografie von beinahe 800 Seiten mit einem „Ausklang in Moll“. Er fragt: „Was für ein Deutschland, was für ein Europa wird das sein, in dem in absehbarer Zukunft unsere Enkel ihren Weg gehen werden?“ Mit seiner „Geschichte in der Geschichte“ hat er unseren Enkeln, die nach den Grundlagen und Quellen ihrer Verantwortung für Kirche, Gesellschaft und Staat suchen, ein in vielfältiger Hinsicht erhellendes Studienobjekt an die Hand gegeben. Je mehr junge Menschen in diesem Buch lesen, desto mehr schwindet die Sorge vor einer Zukunftsaussicht in Moll.

 

Friedrich Kronenberg, geboren 1933 in Gelsenkirchen, von 1966 bis 1999 Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und von 1983 bis 1990 Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag.

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