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Die Medien müssen mehr Wertschätzung für ihre Nutzer zeigen

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Darf ein Journalist beschreiben, was er gar nicht gesehen hat? Zum Beispiel Seehofers Eisenbahn im bayerischen Hobbykeller? Das war der Medienaufreger 2011 bei der siebten Verleihung des Egon-Erwin-Kisch-Preises an den Spiegel-Reporter René Pfister. Pfister war nicht in Seehofers Keller herabgestiegen, sondern hatte sich die Anlage detailgenau von Seehofer und seinen Spielkameraden beschreiben lassen; aber das reichte der Jury, um ihm den Preis wieder abzuerkennen. So streng waren damals die Sitten.

Das Pfister-Beispiel belegt, dass der Journalismus durchaus sensibel, im beschriebenen Fall sogar übersensibel ist, wenn es um seine Glaubwürdigkeit geht. Doch wer würde heute noch einen Gedanken an diese Episode verschwenden, wenn die Medien nicht mit voller Wucht vom Vorwurf der „Lügenpresse“ getroffen würden. Da hilft es nicht, dass Seehofers Eisenbahn neulich im Fernsehen war und der Weichensteller danebenstand. Mehr Authentizität geht nun wirklich nicht. Den aktuellen Kritikern geht es um mehr als um solche Details. Sie werfen den Medien grundsätzlich eine Verfälschung der Wirklichkeit vor. Sie halten Journalisten für professionelle Desinformanten im Auftrag politischer Mächte, sie glauben, in den Redaktionen herrsche das Gesetz einer Political Correctness, die den Bürgern medial eingeimpft werden soll.

 

Die Mär vom kurzen Draht des Kanzleramtes

Ausgangspunkt der aktuellen Debatte war die von der Bundesregierung befürwortete, von den Medien wohlwollend, zum Teil mit Hilfskampagnen begleitete Einwanderung von Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten. Kritische Kommentare, erste Berichte über die entstehenden Probleme folgten, aber sie wurden im Zuge der hochemotionalen Willkommensstimmung vom Publikum nicht hinreichend wahrgenommen. So verbreitete sich bei medienskeptischen Betrachtern die Mär, das Kanzleramt habe auf kurzem Draht den positiven Tenor der Berichterstattung bestimmt. Als Verstärker der Verschwörungstheorien wirkten die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht. Zum Jahreswechsel herrschte in den Redaktionen Feiertagsstimmung, die Polizei war überfordert, und – nach klassischen journalistischen Arbeitsregeln unverzeihlich – hatten weder der WDR, vor dessen Portal sich die Übergriffe ereigneten, noch die drei Lokalzeitungen Beobachter auf Domplatz und Rheinbrücke entsandt, wo sich traditionell die nächtliche Neujahrsbegeisterung besonders heftig entlud. Vor allem wegen der von Medien und Polizei gepflegten Zurückhaltung bei der Herkunftsbezeichnung der Verdächtigen brach sich Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung Bahn. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer schrieb: „Die Menschen kritisieren, dass es teilweise eine veröffentlichte Meinung gibt, die nicht die Realität widerspiegelt, weil man meint, man muss hier eine falsch verstandene Vorsicht an den Tag legen.“

Der Verdacht, dass die Medien nicht die ganze ihnen bekannte Wahrheit sagen, ist kein Phänomen, das nur Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker umtreibt. Jeder Journalist wird auch im privaten Umfeld mit Fragen konfrontiert: „Dürfen Sie denn wirklich schreiben, was Sie wollen?“,

„Wer gibt denn die Richtung vor?“. So fragen selbst Zeitgenossen, von denen man meint, sie seien mit den Usancen der Pressefreiheit vertraut. Selbst ein Verweis auf die Meinungskakophonie der täglich im Deutschlandfunk verbreiteten Presseschauen, die alle nur denkbaren Gegensätzlichkeiten ausbreiten, kann die Skeptiker nicht überzeugen. Dieses Grundmisstrauen ist nicht neu und wird von vielen geteilt. Günter Grass: Die Zeitungen seien „im Lügengarn versponnen“. Jürgen Habermas: Die Presse habe sich der „postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit verschrieben“. Und der Blogger und FAZ-Medienspezialist Stefan Niggemeier: „Im Zweifel hat der Komiker, Satiriker und Berufs-in-die-Irre-Führer Jan Böhmermann bei mir mehr Glaubwürdigkeit als die komplette Medienmeute.“ Wobei zu vermuten ist, dass nicht nur, aber besonders die prominenten Kritiker diese Keule schwingen, weil die Medien sich weigern, deren persönliche, als reine Wahrheit betrachtete Sicht der Dinge eins zu eins übernehmen.

 

Déformation professionelle

Wenn vierzig Prozent der Deutschen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Medien äußern, lässt sich das nicht allein mit dem Hinweis auf die generell zunehmende Skepsis gegenüber den Eliten von Staat, Parteien und Wirtschaft erklären. Jede dieser Gruppen bietet besondere Ursachen für das speziell ihr entgegengebrachte Misstrauen. Die auf die Medien bezogene Analyse verweist auf die déformation professionelle, die den Nutzer in einer passiven Rolle sieht, als Empfänger ohne Stimme. Der Alltag der Leser und dessen Probleme lagen lange Zeit jenseits der etablierten journalistischen Relevanzkriterien. Als relevant galten Themen der Politik.

Zudem gab es historische Epochen, in denen die Medien Instrumente der Parteipolitik waren. Die Presse der Kaiserzeit und der Weimarer Republik war weitgehend Parteipresse, in der Nazizeit und in der DDR war sie Presse einer Partei. Auch nach der Gründung der Bundesrepublik lieferten sich konservative und linksorientierte Zeitungen noch heftige Fehden. Nach dem Ende der parteipolitischen Orientierung der Medien in den 1960er-Jahren betrachteten viele Journalisten die großen gesellschaftlichen Debatten als neue Domäne ihres Berufs. Das hob zugleich die eigene Bedeutung, vernachlässigte aber nach wie vor die Alltagsprobleme der Bürger. Journalisten entschieden in einem paternalistischen Gestus, was bedeutend genug für eine öffentliche Erörterung war und was nicht. Soziale Konfliktherde wie Kriminalität oder die Benennung von Personengruppen, von denen Gefahren ausgingen, wurden in der Berichterstattung gern ausgeklammert. Soziale Außenseiter galten als besonders schutzbedürftig. Wer diesen Konsens brach, wurde der Skandalmache oder der Fremdenfeindlichkeit bezichtigt.

Ein Umdenken tut not. Mediale Qualität darf sich nicht allein an den Kriterien Glaubwürdigkeit und Verständlichkeit messen. Mediale Qualität muss als Korrektiv den Erfahrungshorizont der Empfänger für die tägliche Arbeit nutzen. Dabei bietet die Digitalisierung Möglichkeiten zur Einbindung des Publikums, die in der analogen Zeit weder vorstellbar noch realisierbar waren. Aus klassischen Zeitungen, wo der Leserbrief die einzige Möglichkeit der Kontaktaufnahme war, werden zunehmend Informations- und Meinungsplattformen, in denen Journalisten verlässliche Informationen, Meinungs-, Erklär- und Reportage-Beiträge liefern, auf denen sie aber auch systematisch die Anregungen der Nutzer einbeziehen und Debatten mit ihnen führen.

 

Glaubwürdigkeitsanker in der Informationsflut

Dabei bewahren die Journalisten ihre klassischen Rolle als Gatekeeper, die das zur Veröffentlichung Bestimmte – gedruckt wie online – auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen, Sachlichkeit in den Diskussionsforen garantieren und so Glaubwürdigkeit ihrer Marken-Plattformen sicherstellen. Die Digitalisierung ermöglicht es, Information aus dem direkten Umfeld des Lesers und aus dem globalen Spielfeld schneller und umfassender auf seine individuellen Interessen zuzuschneiden. Datenjournalismus erleichtert die Sichtung und Auswertung von Informationsmengen, für deren Beschaffung und Analyse im analogen Zeitalter Dutzende Mannjahre nötig gewesen wären. All das stärkt das Alleinstellungsmerkmal der Medien als Glaubwürdigkeitsanker in einer grenzenlosen Informationsflut.

Verstärkt wird dieser Trend durch den Zusammenschluss von Regionalzeitungen zu größeren Clustern mit Zentralredaktionen (Funke Mediengruppe, Redaktionsnetzwerk Deutschland). Diese Kooperation bietet den Vorort-Redaktionen Zugriff auf kompetentes Fachpersonal, das die Einzelredaktionen aus ökonomischen Gründen nicht mehr vorhalten können. Umfangreiche investigative Recherchen sind jenseits der Großverlage ohnehin nur noch in größeren Einheiten möglich, die zum Teil über die einzelnen Branchen hinausreichen, wie der erfolgreiche Rechercheverbund, den die Süddeutsche Zeitung mit NDR und WDR eingegangen ist. Wenn Verlage klagen, dass die Süddeutsche Zeitung sich mit dieser Kooperation einen Vorteil gegenüber ihren Mitbewerbern verschafft habe, bleibt nur die Frage, welche kreativen Modelle, auch branchenübergreifend, in den eigenen Häusern erwogen und erprobt worden sind.

 

Community Building

Im digitalen Zeitalter lösen sich die Gattungsgrenzen auf. Die Zeitung sendet im Internet Videos. Radio- und Fernsehunternehmen verbreiten ihre Informationen online als Text. Der Nutzer erwartet, dass er auf der von ihm präferierten Marke in allen Formaten bedient wird. Er will selbst entscheiden, ob er zum Text noch ein Video, zum Video einen weiterführenden Artikel konsumieren, ob er Inhalte kommentieren und mit den Autoren in Kontakt treten will. Der mündige Nutzer verlangt praktische Wertschätzung durch die Redaktion. Wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu Fachkonferenzen, Regionalzeitungen zu Leserforen einladen und das Handelsblatt seine Klientel gemeinsam mit Redaktionsexperten fremde Märkte erkunden lässt und Gespräche mit Unternehmern und Managern anbietet, sind das Wege zu einem Community Building, wie sie heute viele Markenprodukte betreiben.

Wertschätzung des Lesers, Sorgfalt in der Recherche, Unvoreingenommenheit in der Information, Verzicht auf Bevormundung, Partnerschaft statt Paternalismus: Nur mit dieser Haltung können die Medien ihre Position als vierte Gewalt und verlässlicher Informant bewahren. Die digitale Technik schafft dafür die wichtige Voraussetzung.

 

Ernst Elitz, geboren 1941 in Berlin, von 1994 bis 2009 Gründungsintendant des Deutschlandradios, seit November 2006 Direktor an der Berlin-Media-Professional-School an der Freien Universität Berlin.


Weiterführende Literatur

Lange, Nico: Lange: Strategien gegen Populismus, Analysen & Argumente, Nr. 199 / Februar 2016, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin / Berlin, www.kas.de/wf/de/33.44144/.

Grabow, Karsten: Was tun gegen Rechtspopulisten? Europäische Erfahrungen, Analysen & Argumente, Nr. 203 / April 2016, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin / Berlin, www.kas.de/wf/de/33.44752/.

Höhne, Benjamin: DIE LINKE. Entwicklungsperspektiven zwischen Extremismus, Populismus und Regierungspragmatismus, Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin / Berlin 2016, www.kas.de/wf/de/33.45878/.

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